I. Der ungeteilte Himmel
"Es war für uns immer schmerzlich zu sehen, wie die Mauer unser Vaterland teilte", meinte der Redakteur einer großen Tageszeitung des Springer-Verlages. Tatsächlich hatte man von der Kantine im obersten Stockwerk des Verlagshauses einen weiten Blick über das Terrain der ehemaligen Sperranlagen. Als der Kollege zu ausschweifenden topographischen Erklärungen auszuholen drohte, unterbrach ich ihn: "Ich kenne die Gegend einigermaßen. Ich bin hier zur Schule gegangen." Ich zeigte ihm durch die Scheibe der hoch gelegenen Kaffeestube den unauffälligen Schulbau aus der wilhelminischen Zeit. Das fremdvertraute Gebäude schien von hier aus zum Greifen nah und gleichzeitig unendlich weit fort. An Wintertagen konnte man von dort in der ersten Unterrichtsstunde die Meldungen auf dem Nachrichtenbalken lesen, der damals auf dem Springerhochhaus montiert war. Gelegentlich schimpfte der Staatsbürgerkundelehrer auf den "Lügenbalken", und die Schüler grinsten sich eins. Allerdings schien diese Form der Nachrichtenübermittlung schon damals irgendwie unzeitgemäß. Als ob es im Osten keine Radioapparate und Fernseher gegeben hätte.
Als Ostern 1968 die Krawalle rund um das Springerhaus tobten, konnte man die Polizeisirenen und Sprechchöre hören. Viele von uns platzten damals vor Neid, nicht dabei sein zu können. Einen Steinwurf weit tobte die Revolte, doch dazwischen lag die Mauer und niemand durfte es dort wagen, auf wen auch immer mit Steinen zu schmeißen. Doch in den Kaffeehäusern und Buchhandlungen im Stadtzentrum von Ost-Berlin traf man gleichaltrige junge Leute aus dem Westen, die mit leuchtenden Augen von ihrem Aufbegehren gegen das Establishment erzählten. Sie waren wie kleine Kinder, die aufgeregt von ihren Spielen im Buddelkasten berichteten. Wenn sie von "Bullenschweinen", gar von der "repressiven Toleranz des scheißliberalen Systems" oder vom "Konsumterror" sprachen, wirkte das damals schon wunderlich naiv. Von dem System in der DDR hielten sie genau wie wir nicht sonderlich viel. Doch erklärten sie uns: "Historisch gesehen seid ihr schon einen Schritt weiter. Ihr müsst nur die Demokratie einführen. Dann haben die Rechten auch bei uns verspielt." Ich weiß noch, dass ich es damals versprochen habe. Im Stillen dachte ich: "Eines Tages werden wir euch die Show stehlen. Die eigentliche Schlacht wird im Osten geschlagen werden - in Prag, Budapest, Warschau und eben bei uns." Das schien bis in die Morgenstunden des 21. August 1968 auch noch möglich.
Beim Blick vom Springerhochhaus auf das alte Schulgebäude erinnerte ich mich daran, dass auch damals in ganz ähnlicher Weise der Westen zum Greifen nah und gleichzeitig unendlich weit fort war. Die Mauer war nicht allein ein monströses Bauwerk. Sie war die eiserne Klammer, die das SED-System zusammenhielt, eine gigantische Projektionsfolie der beiderseitigen legitimationsstiftenden Bedrohungsängste. Nur eines war die Mauer nicht: eine wirkungsvolle Sperre, die den freien Flug der Gedanken behinderte. Niemals gelang es den Machthabern der DDR, eine geistige Quarantäne über ihr Land zu verhängen. Entgegen anderslautenden Meinungen war der Himmel über Berlin niemals geteilt.
II. Reform und Stagnation
Die Jahre zwischen dem Mauerbau und dem Ende des Prager Frühlings waren in der DDR von einer seltsamen Ambivalenz. Am Anfang stand die wirtschaftliche, politische und moralische Katastrophe. Mit dem Mauerbau vom 13. August 1961 und den ersten Todesopfern an dieser Grenze erreichte das Ansehen des SED-Regimes in Deutschland und der Welt einen neuen Tiefpunkt. Dennoch resultierte gerade aus der offenbaren Brutalität der Mauer bei westlichen Politikern die Erkenntnis, dass die Spaltung Deutschlands nicht durch eine Politik der Konfrontation zu beseitigen, sondern nur durch allmähliche Veränderungen in ihren Folgen zu mildern sei. So wurden die Todesschüsse an der Mauer zum Ausgangspunkt einer Politik der Wandlungen, an deren Ende der Untergang des SED-Systems stehen sollte.
Ein ähnlicher Vorgang vollzog sich im Inneren der DDR. Nur mit Gewalt war es möglich gewesen, die Menschen am Weglaufen aus dem "Arbeiter-und-Bauern-Staat" zu hindern. Die DDR wurde durch den Mauerbau zu jener "geschlossenen Gesellschaft", die sie bis 1989 geblieben ist.
Nach einer Phase verschärfter Repression begann das SED-Regime, seinen Untertanen Angebote zu machen. Im November 1961 erreichte die zweite Welle der Entstalinisierung auch die DDR. In Moskau regierte Nikita Sergejewitsch Chruschtschow. Die Schritte auf dem Weg in den Kommunismus hatte der XXII. Parteitag der KPdSU im Oktober 1961 genau festgelegt. Innerhalb von 20 Jahren wollte man den Kommunismus errichten. "Der Traum, '100 Jahre zu leben, ohne zu altern', wird Wirklichkeit", erfuhr der erstaunte Leser auch auf der Titelseite des Zentralorgans der SED
In der DDR, Ungarn und der Tschechoslowakei gaben die Parteizentralen nun grünes Licht für Studiengruppen von Wirtschaftsfachleuten, die Pläne für umfassende Wirtschaftsreformen auszuarbeiten begannen. Die Betriebe sollten mehr Selbstständigkeit und Eigenverantwortung bei der Planung erhalten, die Preise flexibler und realistischer werden, neueste Technik sollte schnell in die Produktion überführt werden. NÖSPEL hieß das Zauberwort. Dahinter verbarg sich das "Neue ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft", welches der VI. Parteitag der SED verabschiedete. Am konsequentesten ging in der CSSR eine Arbeitsgruppe ans Reformwerk. Anfangs hatte diese Gruppe gute Kontakte zu den führenden Wirtschaftsleuten in der DDR. Doch als aus der Wirtschaftsreform eine Reform der Machtstrukturen zu werden drohte, trat der konservative Flügel der Parteiführung auf die Bremse.
Durch das 11. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965 wurde die Beat-Musik verboten, Künstler und Schriftsteller an den Pranger gestellt, Filme und Theaterstücke verboten. Dabei ging es in weit größerem Maße, als die Öffentlichkeit damals ahnte, um die Wirtschaftsreformen, die nun nur verlangsamt weitergeführt werden konnten. Dennoch setzte sich die allgemeine Reformhektik fort, die viel durcheinander wirbelte: Eine Hochschulreform und eine Akademiereform rollte über die Institutionen hinweg.
III. Der Jugend gehört die Zukunft
Immerhin waren Kritik und neue Ideen gefragt. Das System brauchte die Mitarbeit oder wenigstens die Loyalität eines größeren Teils der Bevölkerung, und es bot Karrierechancen, Sinnerfüllung, materielle Vorzüge und soziale Sicherheit. 1963 erließ die Partei ein "Jugendkommuniqué", ein Jahre später folgte ein "Jugendgesetz", das den politischen Anspruch in Paragraphen fassen sollte
Die SED-Führung wollte sich nicht allein auf die agitatorische Wirkung solcher Proklamationen verlassen. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) erließ 1966 eine umfangreiche Dienstanweisung "Zur politisch-operativen Bekämpfung der politisch-ideologischen Diversion und Untergrundtätigkeit unter jugendlichen Personenkreisen in der DDR"
Ein besonders trübes Bild zeichnete der Stasi-Bericht von der Berliner Humboldt-Universität: "Unter den Studenten der Humboldt-Universität hat sich das Wirken Havemanns und die ungenügende Einflussnahme der Parteiorganisation gegen seine schädlichen Theorien teilweise nachteilig auf die Bewusstseinsbildung ausgewirkt. . . . Es ist aber bekannt, dass viele Studenten mit ihrer wahren Meinung zurückhalten. Während sie in den Seminaren eine richtige Position beziehen, vertreten sie in den Gesprächen untereinander eine andere, vielfach entgegengesetzte Meinung."
Der Bazillus der Aufsässigkeit machte sich unter den DDR-Studenten breit. Die habituellen Gesten und Symbole des Protestes kamen tatsächlich aus dem Westen. Anette Simon meint in ihrem Versuch, das Generationsgefühl in Ost und West zu vergleichen: "Die Achtundsechziger der DDR sind genau wie ihre Schwestern und Brüder im Westen geprägt von der Musik dieser Zeit und dem Lebensgefühl, das sie transportierte. Auch die antiautoritären Gedanken und Haltungen schwappten in jeder Weise über die Grenze."
IV. Der Westen
Die Welt der kommunistischen Propaganda war in der ersten Hälfte der sechziger Jahre noch säuberlich in Gut und Böse geteilt. In der Sprache der Agitation ausgedrückt, gab es zwischen der faschistischen Diktatur und der scheindemokratischen Spielart des staatsmonopolistischen Imperialismus nur einen taktischen Unterschied. Die politische Macht lag in den Händen des gleichen Monopolkapitals, das Hitler in den Sattel gehoben hatte. Immerhin wurde eingeräumt, dass die westdeutsche Arbeiterklasse teilweise der Sozialdemagogie erlegen sei und die Befreiung des Proletariats auf sich warten ließe. Eine theoretische Reflexion über den Wandel der westlichen Gesellschaft fand jedoch nicht statt. So geriet die SED-Propaganda seit Mitte der sechziger Jahre in eine tief greifende Erklärungsnot angesichts der aufbrechenden bundesdeutschen Gesellschaft: Es war nicht die Arbeiterklasse, und schon gar nicht die in der Illegalität kämpfende KPD, die an der Spitze der Bewegung stand, sondern Künstler, Intellektuelle und Studenten. Natürlich beherrschte die SED seit Jahr und Tag die dialektische Kunst der Doppelstrategie. Wenn die Ostermarschierer gegen Wiederbewaffnung und Atomtod durch Westdeutschland zogen, konnten sie der Schützenhilfe der Ostpropaganda gewiss sein, obwohl Pazifismus in der DDR als Staatsverbrechen verfolgt wurde. Wenn es gegen die Notstandgesetze ging, konnte sich die SED-Propaganda trefflich über die "Aushöhlung demokratischer Rechte" erregen, obwohl doch jeder wusste, dass solche Rechte in der DDR niemals existiert hatten. Auch der Antiamerikanismus der Vietnamkriegsgegner, die Kampagnen gegen den Springer-Konzern und die Enthüllungen über die Nazivergangenheit führender westdeutscher Politiker passten gut ins Propagandakonzept der SED. Sie unterstützten die Friedens- und Anti-Springer-Komitees durch finanzielle Mittel, gaben ihnen propagandistische Schützenhilfe und versuchten sie durch linientreue Funktionäre und Stasi-Agenten an die Leine kommunistischer Parteidisziplin zu legen
Der Tod von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 war für die DDR ein Beweis für den potenziell faschistischen Charakter des westdeutschen Staates. In der Presse konnte man plötzlich viel über den Kampf der fortschrittlichen Westberliner Arbeiter und Studenten gegen die Notstandsdiktatur lesen. Die politischen Kontakte zwischen dem SDS und der FDJ wurden nun intensiviert. Im Auftrag des Bundesvorstandes des SDS reiste Wolfgang Lefèvre gemeinsam mit anderen Funktionären des Verbandes im Jahre 1967 mehrmals nach Ost-Berlin, um dort mit Vertretern des Zentralrates der FDJ zu verhandeln. Sie erhielten dort "Dokumente über die faschistische Vergangenheit von Westberliner Polizeiangehörigen und Fotos über die Vorgänge am 2.6.1967. Diese Unterstützung wurde von den Studentenvertretern als außerordentlich wertvoll eingeschätzt, da vorgesehen ist, mit diesen Dokumenten den Nachweis zu führen, dass das Vorgehen der Westberliner Polizei gegen die Studentendemonstrationen eine organisierte Notstandsübung war."
Allerdings wurde auch an der DDR und der Sowjetunion Kritik geübt. Man hätte sich von den sozialistischen Staaten mehr Unterstützung im Kampf gegen Israel gewünscht. In diesem Zusammenhang wird die Haltung Chinas begrüßt, das "zum richtigen Zeitpunkt eine Wasserstoffbombe zündete"
Vom 25. bis 28. Juli 1967 fand ein vom Zentralrat der FDJ organisiertes gemeinsames Seminar von Funktionären des SDS und der FDJ statt, das sowohl Gemeinsamkeiten wie auch unüberbrückbare Gegensätze deutlich machte
So willkommen der Kampf gegen die US-amerikanische Aggression in Vietnam, die Notstandsgesetzgebung in der BRD und die "Kettung Westberlins an Westdeutschland" war, so sehr waren die Formen des Protestes wie deren theoretische Begründung der SED ein Dorn im Auge. In ihrem terminologischen Raster konnte die APO nicht anders als linksradikal eingestuft werden. Linksradikalismus aber war laut Lenin die "Kinderkrankheit des Kommunismus", mithin ideologische Abweichung, Häresie, Gedankenverbrechen. "Ein objektives Kriterium für die Beurteilung einer ideologischen Richtung und ihrer theoretischen Stärke stellt ihre philosophische Grundlage dar", schrieb 1974 der DDR-Historiker Siegfried Prokop in der ersten und einzigen Darstellung der BRD-Studentenbewegung, die in der DDR erschienen ist. "Im Unterschied zum Marxismus-Leninismus besitzt der kleinbürgerliche Revolutionarismus keine einheitliche philosophische Grundlage. So unterschiedlich die einzelnen Richtungen auch sind, beruhen sie doch ,alle auf einem eklektischen Sammelsurium entgegengesetzter ideologischer Leitsätze' . . . Der kleinbürgerliche Revolutionarismus ist also pseudorevolutionär. Er gehört nicht zur Theorie der Arbeiterklasse, sondern steht ihr feindlich gegenüber."
Im eigenen Machtbereich fuhr die SED das gesamte Instrumentarium der Repression gegen solche Tendenzen auf. Mit Sicherheit überschätzte die SED-Führung die Resonanz linksradikaler Ideen im eigenen Machtbereich. Nichts fürchtete sie mehr als das Wirken geheimer Konventikel, zentralistisch geführter Verschwörergruppen und avantgardistischer Berufsrevolutionäre.
In der Tat versuchte die kommunistische Führung Chinas damals, durch Ideologieexport in aller Welt Einfluss zu gewinnen. Die deutschsprachigen Sendungen der "Stimme der Weltrevolution" aus Tirana waren im Kurzwellenbereich in Mitteleuropa gut zu empfangen. Die SED-Führung nahm solche Einflussversuche ernst. Entsprechend nervös reagierte die Staatssicherheit auf unkontrollierte Aktivitäten der chinesischen Botschaft in der DDR. Das MfS registrierte, dass DDR-Bürger dort "chinesische Druckerzeugnisse und Mao-Abzeichen" abholten
V. Die SED und der Bazillus der Revolte
Geradezu hysterisch reagierte die DDR-Obrigkeit auf unkontrollierte Begegnungen junger Leute, speziell von Studenten aus Ost und West. So berichtet das MfS im April 1966, wie sich aus einer Zufallsbekanntschaft ein regelmäßiger Diskussionszirkel von Assistenten der Freien Universität und der Humboldt-Universität entwickelte
Eine ungewöhnlich detaillierte Analyse der Bezirksverwaltung des MfS beschäftigte sich im Januar 1967 mit der "politisch-ideologischen Zersetzung und der ungenügenden gesellschaftspolitischen Erziehung an der Humboldt-Universität"
VI. Utopie und Macht
Die kommunistische Herrschaft wurde seit 1917 vom mahnenden Schatten der eigenen Utopie begleitet. In der DDR wurde sie vor allem durch zwei Personen präsentiert, die trotz des Altersunterschieds oft als Dioskuren gesehen wurden: Professor Robert Havemann und Wolf Biermann. Einzelne Zeilen aus Biermanns Liedern und Gedichten wurden geradezu sprichwörtlich. Das Lied "Du, lass Dich nicht verhärten/In dieser harten Zeit" wurde so etwas wie die heimliche Nationalhymne der "anderen DDR"
"Die Achtundsechziger im Osten nahmen genauso wie im Westen den Vietnamkrieg und die Grausamkeiten der Welt wahr, interessierten sich aber politisch natürlicherweise am meisten für das eigene Gesellschaftssystem . . . Es ging nicht um die Wiedererschaffung kapitalistischer Verhältnisse - schon wegen der fundamentalen Kritik der gleichaltrigen Westlinken an diesen Verhältnissen nicht. Wir bewunderten diese Linken mit naiver Gläubigkeit, unsere Solidarität gehörte ihnen."
Die Kirchengeschichte bietet das gegebene Reservoir für die Geschichte des kommunistischen Ketzertums. Am deutlichsten war dies während des Prager Frühlings im Jahre 1968. Der Prediger Jan Hus wurde regelrecht zur Leitfigur der Reformer in ihrem Kampf gegen die kommunistische Orthodoxie. In dem böhmischen Kirchenreformer und dessen Flammentod sah die tschechoslowakische Freiheitsbewegung eine symbolische Identifikationsfigur.
Die SED-Propaganda versetzte insbesondere Herbert Marcuse, den geistigen Vater der antiautoritären Revolte, in den Rang eines Oberketzers. 1969 erschien im Ost-Berliner Akademie-Verlag ein ungewöhnlich ausführliches Buch über den Philosophen
Die Schriften von Marcuse und anderen Theoretikern des linken Antiautoritarismus waren in der DDR Giftschrankliteratur höchsten toxischen Grades. In Bibliotheken war die Lektüre nur aufgrund eines Zertifikats in speziellen Lesesälen möglich. Bereits das Bemühen um eine solche Sondergenehmigung war für die SED-Obrigkeit ein Verdachtsmoment. In einem Stasi-Bericht über einen Studenten der Humboldt-Universität wird u. a. ausgeführt, er wäre bemüht, "Schriften von Marcuse und Fischer" zu erhalten. Aufgrund dieser und anderer Denunziationen wurde er im Herbst 1968 von der Universität relegiert.
Die Utopie einer klassenlosen und herrschaftsfreien Gesellschaft war für die autoritäre Zwangsanstalt DDR ein gefährlicher Sprengsatz. Die SED-Führung reagierte mit Verboten, Restriktionen und Disziplinierungen. Das Schlagwort vom "Dritten Weg" wurde in der DDR zum Totschlagargument gegen jede Form der Kritik. Wer einen dritten Weg zwischen real existierendem Sozialismus und Kapitalismus gehen wollte, nutzte "objektiv der Konterrevolution". Wer einen Wandel durch Übernahme einzelner Elemente des freien Marktes forderte, redete der imperialistischen Konvergenztheorie das Wort, wer für eine Anpassung der Ideologie an die Realitäten plädierte, machte sich des Revisionismus schuldig.
VII. Sozialismus mit menschlichem Antlitz
Der Gedanke eines "Dritten Weges" wurde Anfang 1968 in der Tschechoslowakei von der abstrakten Idee zum realen politischen Experiment. Am 5. Januar 1968 wählte das Zentralkomitee der KPC Alexander Dubcek zum neuen Parteichef. Leonid Breschnjew hatte bereits im Vorfeld für den Personalwechsel grünes Licht gegeben, und auch protokollarisch wurden innerhalb des Warschauer Paktes zunächst die üblichen Formen gewahrt. Doch was in der CSSR als Reform von oben begann, stieß bald schon auf eine ungeahnte Resonanz in der Bevölkerung. Endlich wurde im Lande frei gesprochen: über den Mangel an Freiheit und Demokratie, den Terror der Stalinzeit, die Bevormundung durch die Sowjetunion, die Wirtschaftsmisere im Lande, die Unfähigkeit der kommunistischen Funktionäre, die Spannungen zwischen Tschechen und Slowaken.
Spätestens im März schrillten in Ost-Berlin alle Alarmglocken. In einer internen Information an die Leiter der Abteilungen im ZK der SED vom 12. März 1968 hieß es: "Man muss offen sagen, dass der imperialistische Gegner seine Anstrengungen verstärkt, um über alle möglichen Kanäle und Verbindungen Einfluss auf die Aktivierung der antisozialistischen, bürgerlichen Kräfte in der CSSR zu nehmen und selbst zu organisieren. Wie weit die geistige Übereinstimmung zwischen den Losungen dieser kleinbürgerlichen, antisozialistischen Kräfte innerhalb der CSSR mit der Ideologie des Imperialismus geht, zeigt insbesondere die von Schriftstellern und Künstlern vertretene Losung, die CSSR in eine 'offene Gesellschaft' zu verwandeln."
Im März 1968 kam es auch zum ersten öffentlichen Angriff der SED gegen die tschechoslowakische Bruderpartei. Während einer Konferenz zum Thema "Die philosophische Lehre von Karl Marx und ihre aktuelle Bedeutung" griff Kurt Hager den Reformkommunisten Josef Smrkovský
VIII. Der Prager Frühling und die DDR
Das Modell eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz hatte streng genommen mit den an China oder Kuba orientierten Vorstellungen der radikalen Westlinken wenig zu tun. In der Tat knüpften die ideologischen Vorstellungen der Reformkommunisten eher an traditionelle sozialdemokratische Denkmuster an. In diesem einen Punkt traf die Hetze der SED wohl den Kern der Sache.
In den Augen vieler DDR-Bürger waren dies aber nur ideologische Haarspaltereien. Im Frühling 1968 trafen in der DDR zwei Strömungen des Zeitgeistes aufeinander, die aus unterschiedlichen Richtungen kamen und die historisch in unterschiedliche Richtungen wiesen, dennoch aber eine kaum zu trennende Einheit bildeten. Viele Menschen wünschten sich mehr Freizügigkeit und Wohlstand. Ihre Sympathien mit dem neuen Mann in Prag waren nicht das Ergebnis ideologiekritischer Debatten, sondern resultierten aus einer neugewonnenen Hoffnung auf positive Veränderung. Natürlich gab es in der DDR junge Leute, die nächtelang über Marx und Marcuse stritten. Doch für die meisten Ostdeutschen ging es zunächst um ein wenig mehr Luft zum Atmen, ein bisschen mehr Farbe im realsozialistischen Alltag. Dies schien das sozialistische Bruderland nun wenigstens ansatzweise zu bieten. Obwohl Reisen in die CSSR immer noch aufwendige Formalitäten erforderten und nur wenige tschechische Kronen umgetauscht werden konnten, wurde Prag in jenem Sommer zum Mekka der DDR-Bevölkerung.
Jeder holte sich im Nachbarland, was er gerne mochte. Dort konnte man die begehrten Schallplatten mit Beat-Musik und Jazz kaufen. In den Kinos liefen in Originalfassung die neuesten Filme aus den USA. An den Kiosken gab es westliche Zeitungen und Zeitschriften. In Prag und anderswo konnte man ohne amtliche Formalitäten ein Zimmer mieten oder in einem Studentenheim unterkommen, was in der DDR undenkbar gewesen wäre. Man konnte auf der Straße sitzen, ohne von erziehungswütigen Volkspolizisten behelligt zu werden. Die Theater, Konzerte und Kunstausstellungen in der tschechoslowakischen Hauptstadt waren legendär. Die DDR-Behörden erreichten mit ihren finanziellen Restriktionen genau das Gegenteil der erstrebten Wirkung. Da sich die Reisenden kein Hotel leisten konnten, waren sie auf die Kontakte zu Gastgebern angewiesen - kamen daher viel enger mit der Lebenswirklichkeit des Gastlandes in Berührung als normale Touristen. Von den politischen Bedrohungen war in jenem Sommer nicht viel zu spüren. Die tschechoslowakischen Freunde lachten, wenn sie gefragt wurden, wo sich die Konterrevolution versteckt hielte. Kaum jemand glaubte, dass sich das Rad der Geschichte noch einmal zurückdrehen ließe.
Wenn der Zug diesseits der Grenze in Bad Schandau oder Zinnwald hielt, wussten die Leute, dass sie wieder zu Hause waren. Voller bösartiger Gehässigkeit filzten die DDR-Zöllner die Heimkehrer aus der CSSR. Sie beschlagnahmten Schallplatten, deutschsprachige Druckschriften und Bilder jeglicher Art. Das betraf nicht nur westliche Publikationen und antiquarische Bücher, sondern insbesondere die deutschsprachigen Informationen der Nachrichtenagentur CTK und die "Prager Volkszeitung". Auch die Sicherheitsorgane registrierten die "verstärkte Einfuhr" von tschechoslowakischen, österreichischen und westdeutschen Zeitungen und Zeitschriften
Ein Jugendlicher meinte angesichts der Beschlagnahmung seiner Zeitschriften: "Was kann man in der DDR überhaupt für Zeitungen lesen. Bei Euch ist wohl nur das 'Neue Deutschland' erwünscht. Das 'ND' nehmen wir zum Arschabwischen." Der Bürger wurde laut MfS-Bericht der Polizei übergeben
Von nun an wurden wöchentlich solche Berichte verfertigt, die eine steigende Zahl von derartigen Vorkommnissen registrierten. Die SED-Führung versuchte, die Reisen ins Nachbarland wenigstens zu reduzieren. "Ich habe mich über die Lage in der Touristik mit der Tschechoslowakei informiert", schrieb Albert Norden an Walter Ulbricht. "Tatsächlich sieht es so aus, dass im Monat Juni von uns 244.000 Touristen in die CSSR fuhren und 214.000 von der CSSR in die DDR kamen. In der ersten Juli-Hälfte sind von uns 154.000 Bürger in die CSSR gefahren und von dort 90.000 zu uns gekommen. Es stellte sich heraus, dass von unseren Touristenagenturen eine sehr breite Werbung gemacht wurde, weil man mittels der Touristik in die CSSR einen Teil unserer Verschuldung gegenüber Prag abbaut. Natürlich können diese Gesichtspunkte angesichts der jetzigen politischen Situation nicht mehr gelten, und ich habe Anweisung gegeben, dass die Werbung für Touristen nach der Tschechoslowakei und von dort per sofort eingestellt wird."
Auch das Tschechoslowakische Kulturzentrum am Bahnhof Friedrichstraße war den ideologischen Tugendwächtern der SED ein Dorn im Auge. Dies hatte eine längere Vorgeschichte. Die Filmabende, Kunstausstellungen und Schriftstellerlesungen missfielen den Kulturbehörden der DDR bereits seit einigen Jahren, zumal dort auch DDR-Künstler wie Wolf Biermann aufgetreten waren. Im Frühjahr 1968 aber wurde das CSSR-Kulturzentrum zu einem der offenen Fenster in der geschlossenen Gesellschaft der DDR, durch die wenigstens ein leiser Luftzug wehte.
Auch lag dort seit dem 8. Mai 1968 zum Ärger der DDR-Obrigkeit die "Prager Volkszeitung" mit dem neuen Aktionsprogramm der KPC aus und konnte von den Besuchern mitgenommen werden
Der Einfluss der antiautoritären Revolte auf die DDR war eher kulturell als direkt ideologisch oder gar politisch im engeren Sinne. Zeugnisse eines direkten Nachahmungseffektes sind in den Akten eher selten. Dennoch ist deutlich, dass manche DDR-Studenten, von der westlichen Protestkultur beeindruckt, ähnliche Aktionen auch bei sich zu Hause beginnen wollten. In einem Informationsbericht des MfS vom Mai 1968 wird von einer "so genannten Demokratisierungswelle" unter den Jura-Studenten der Humboldt-Universität gesprochen
Anlass zur Klage gab es im Studentenalltag genug. Ein Student vertrat laut Stasi-Bericht die Meinung, "er würde sofort gegen das schlechte Mensa-Essen demonstrieren"
In den Stasi-Zentralen erinnerte man sich zu diesem Zeitpunkt gewiss daran, dass die Protestbewegung der Prager Studenten im Oktober 1967 mit einer Kerzendemonstration gegen die Stromausfälle in einem Studentenwohnheim begonnen hatte.
Differenziertere Gedanken machten sich Mitglieder der Evangelischen Studentengemeinde in Berlin, wo in Diskussionsveranstaltungen auch Gastredner aus der Tschechoslowakei auftraten
Auch Steigerwald sieht in seinem Buch über Marcuse den Zusammenhang zwischen der westlichen Studentenrebellion und dem Prager Frühling: "Die Auseinandersetzungen mit der Rechtsabweichung im internationalen Kommunismus, die vor allem durch die Ereignisse in der CSSR vorangetrieben werden muss, wird auch zum verstärkten Kampf gegen antisowjetische Auffassungen in linksliberalen und linksbürgerlichen Kreisen führen müssen, die auf der Grundlage abstrakter Freiheitslosungen reaktiviert werden. Es ist mit Sicherheit anzunehmen, dass die Ansichten eines linksbürgerlichen 'dritten' Weges zwischen Bourgeoisie und Proletariat stärkere Belebung erfahren."
IX. Die Ideale starben langsam
Als in den frühen Morgenstunden des 21. August 1968 die Nachrichtensprecher des DDR-Rundfunks die verlogene Erklärung der Warschauer-Pakt-Staaten über den Einmarsch ihrer Truppen in die CSSR verlasen, empfanden das viele Menschen als einen fürchterlichen Schlag. Die moralische Empörung war ungeheuer groß. Es gab zahlreiche Proteste, individuelle Verweigerungen und hilflose Gesten des Widerstandes
Die Erinnerungen an den Prager Frühling waren in den folgenden 21 Jahren streng tabuisiert. Die wenigen in der DDR erhältlichen Darstellungen der Geschichte der Tschechoslowakei handelten das Jahr 1968 mit einigen hölzernen Floskeln ab. Mit den Möglichkeiten der Information über die internationale Studentenrevolte sah es nicht viel besser aus. Immerhin öffneten einige Romane und Filme winzige Fensterchen und wurden entsprechend intensiv wahrgenommen. Über den Pariser Mai konnte man in dem 1972 in der DDR veröffentlichten Roman "Hinter Glas" von Robert Merle einiges nachlesen. Über die Revolte der Studenten von Berkeley handelte der Film "Blutige Erdbeeren", der auch in der DDR Mitte der siebziger Jahre zum Kultfilm wurde. Die Musik und die Bilder hatten eine suggestive Anziehungskraft. Es ist bis heute erstaunlich, dass es die Kulturbehörden wagten, dem Kinopublikum der DDR solche Kost zu verabreichen. Als es am 7. Oktober 1977 zu den Krawallen auf dem Alexanderplatz kam, setzten sich die Jugendlichen aufs Straßenpflaster, hoben die gespreizten Finger zum Siegeszeichen und sangen "Give peace a chance!"
Die sozialistischen Ideale starben sehr langsam. Die Westachtundsechziger träumten von der Revolution und haben eine gesellschaftliche Reform bewirkt. Die Ostachtundsechziger dagegen wollten den Sozialismus reformieren und haben damit später eine Revolution ausgelöst, die bei aller Gewaltlosigkeit in ihren Folgen an Radikalität der Konsquenzen kaum zu überbieten ist. Wenn die Rebellen der APO heute in hohen Staatsämtern sitzen, zeigt dies vor allem die Lebenskraft einer Gesellschaft, die sich im Widerspruch erneuert.
Im Osten dagegen wurde jeder schöpferische Impuls erstickt. Ein wirklicher Generationswechsel fand nicht statt. Die einen verkamen auf dem langen Marsch durch die Institutionen und änderten nichts als sich selbst. Sie wurden zu Greisen, ehe sie ihre Kindheit beendet hatten. Die anderen verkrochen sich in den windstillen Ecken, die es in der DDR durchaus gab, und versäumten es dabei, erwachsen zu werden. Man hat den demokratischen Aufbruch des Herbstes 1989 die Revolution der Vierzigjährigen genannt. Viele hatten sich den rebellischen Geist der sechziger Jahre bewahrt, jene Mischung aus Aufsässigkeit und Weltverbesserung. Doch als die Massen endlich auf die Straße gingen, wollten sie von den sozialistischen Idealen nichts mehr hören. Die Idee einer herrschaftsfreien und klassenlosen Gesellschaft zerfiel. Die versäumte Revolte von 1968 ließ sich nicht nachholen. Quelle: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 22-23/2001)