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Der Zug nach Westen – Jahrzehntelange Abwanderung, die allmählich nachlässt

Bernd Martens

/ 6 Minuten zu lesen

Abwanderungsregion DDR: Leerstehende Geschäfte und erkennbarer Verfall der Dörfer in der Mark Brandenburg. (© dpa)

Der Osten Deutschlands: traditionell eine Abwanderungsregion

Wanderung zwischen dem früheren Bundesgebiet und der DDR bzw. den neuen Ländern (Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Ein durchgängiges Merkmal der DDR war die hohe Abwanderungsbereitschaft ihrer Bürgerinnen und Bürger. Die Wende von 1989/90 und die anschließende Wiedervereinigung haben den Westwärts-Trend der Ostdeutschen nur zeitweise stoppen können. Ostdeutschland ist weiterhin durch sinkende Bevölkerungszahlen gekennzeichnet, auch wenn die Abwanderung langsam verebbt ist. Vor allem der massive Abbau von Arbeitsplätzen und die prekäre Situation auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt gaben im Einigungsprozess den Anstoß zum Ortswechsel von Ost nach West. Betrachtet man den gesamten Zeitraum von 1949 bis heute, lassen sich drei Abwanderungswellen unterscheiden: einmal von 1949 bis 1961; sodann von 1989 bis 1994 und schließlich ab dem Jahr 2000. Es wird spekuliert, ob sich bei der Abwanderung nach 30 Jahren Einigungsprozess eine Trendumkehr zeige, doch unabhängig davon, wird der demografisch bedingte Problemdruck in den ostdeutschen Bundesländern nicht kleiner werden.

Die DDR als Auswanderungsland, Wanderungsgewinne für Westdeutschland

Die DDR stellt einen Sonderfall unter den Industriegesellschaften dar, weil sie durchgehend eine negative Bevölkerungsentwicklung aufwies. Zwischen 1948 und 1989 sank die Einwohnerzahl von 19,1 Mio. auf 16,4 Mio. Dieser Rückgang ist zum großen Teil auf Abwanderung zurückzuführen, nur teilweise auch auf einen Geburtenrückgang Anfang der 1970er Jahre. Die DDR war also zeitlebens ein "Auswanderungsland" (Geißler 2014, S. 30).

Nach der Staatsgründung 1949 verließen in den 1950er Jahren jedes Jahr mehrere hunderttausend Menschen die DDR in Richtung Bundesrepublik. Zwar gab es auch Mobilität in entgegengesetzter Richtung, aber nur in beschränktem Maße. Ein Höhepunkt der ersten Abwanderungswelle wurde 1953, im Jahr des Volksaufstands vom 17. Juni, mit 331.000 Flüchtlingen erreicht. Gründe für die Abwanderung können in Unzufriedenheit mit der politischen Situation, in besseren beruflichen Möglichkeiten im Westen und in Zwangsmaßnahmen wie der Kollektivierung der Landwirtschaft gesehen werden.

Für Staat und Gesellschaft der DDR war die soziale Zusammensetzung der DDR-Flüchtlinge ungünstig: Bevorzugt jüngere, gut ausgebildete Menschen, darunter viele Spezialisten (Ärzte, Ingenieure usw.), kehrten dem Land den Rücken. Diese soziale Ausdünnung durch Migration führte langfristig zu einer Überalterung der DDR-Bevölkerung (Rytlewski/Opp de Hipt 1987, S. 20). Ungefähr die Hälfte der Auswanderer – laut offizieller Sprachregelung des Regimes handelte es sich überwiegend um "Republikflüchtlinge" – war jünger als 25 Jahre. Es wird geschätzt, dass die DDR in den 1950er Jahren etwa ein Drittel ihrer Akademiker verlor (Geißler 2014, S. 54).

Diese große Abwanderung von Akademikerinnen, Akademikern und Fachkräften hatte durchaus positive Wirkungen in Westdeutschland: Mit dem beginnenden "Wirtschaftswunder" herrschte ein hoher Bedarf zumal an qualifizierten Arbeitskräften, und auch auf speziellen Arbeitsmärkten gab es keine Probleme mit der beruflichen Integration von DDR-Flüchtlingen. Diese demografischen Prozesse wirkten sich für die DDR negativ aus, für die Bundesrepublik waren sie ein Gewinn. Zum Beispiel stieg in der DDR die durchschnittliche Patientenzahl pro Arzt bis 1961 auf 1.400 an, und das trotz schrumpfender Bevölkerung. In der Bundesrepublik lag sie hingegen im selben Zeitraum bei 800 und sank dann weiter auf 600 (Wehler 2008, S. 45). Der Historiker Hans-Ulrich Wehler schätzt, dass in der Bundesrepublik durch die Zuwanderung von bereits schulisch und beruflich qualifizierten DDR-Bürgern Ausgaben für Bildung und Ausbildung in Höhe von 30 Mrd. DM eingespart worden sind (2008, S. 45).

Während der ersten Abwanderungswelle 1949-61 verließen etwa 2,7 Mio. Menschen die DDR. Diese massenhafte "Abstimmung mit den Füßen" wurde schließlich zum existenziellen Problem für die DDR, das ab August 1961 von der Staatsführung durch die strikte Abriegelung der Grenzen "gelöst" wurde. Danach gingen die Zahlen von DDR-Flüchtlingen drastisch zurück. Trotzdem haben aber im Zeitraum 1962-88 noch einmal 625.000 Personen die DDR verlassen. Die meisten dieser Migranten taten dies legal im Rahmen von bewilligten Ausreiseanträgen.

Das Ende der DDR wurde von der zweiten Abwanderungswelle begleitet. Durch die Entwicklungen in angrenzenden sozialistischen Ländern setzte 1988/89 eine Massenflucht ein, die sich zunächst einen Weg über Ferienreisen in das befreundete Ausland (Ungarn, CSSR, Polen) suchte und bis Ende 1989 gegen 880.000 Menschen umfasste. Wehler (2008, S. 45) kommt zu dem Fazit: "Vom Gründungsjahr 1949 bis zur Auflösung der DDR […] sind nicht weniger als 4,6 Mio. Menschen unter z.T. äußerst riskanten Umständen nach Westen geflüchtet." Dies entspricht ungefähr einem Viertel der DDR-Bevölkerung im Jahre 1950.

Die zweite und dritte Abwanderungswelle: Ostdeutschland verliert insbesondere gebildete junge Frauen

Mit der deutschen Einheit waren die Wanderungsbewegungen nicht mehr behördlich beschränkt. Sie wurden zur "normalen" Mobilität zwischen neuen und alten Bundesländern. In dieser gewandelten Situation setzte sich die zweite Welle der Abwanderung aus dem Osten fort. In den folgenden vier Jahren verließen fast 1,4 Mio. Bürgerinnen und Bürger ihre ostdeutschen Herkunftsländer. Gleichzeitig zogen jetzt aber auch vermehrt Westdeutsche in Richtung Osten. Doch die gesamten Austauschsalden für Ostdeutschland blieben immer negativ. Bis Mitte der 1990er Jahre schwächte sich die Abwanderung von Ostdeutschen wieder ab. In einigen Altersgruppen kam es in dieser Zeitspanne sogar zu Wanderungsgewinnen. So wurden Mobilitätsüberschüsse in Ostdeutschland zeitweise für jüngere Menschen in der Altersgruppe 25-30 Jahre verbucht (Friedrich/Schultz 2005, S. 204).

Ab Ende der 1990er Jahre setzte aber eine dritte Wanderungswelle ein. Vermehrt zogen junge Menschen mit höheren Bildungsabschlüssen fort, darunter insbesondere Frauen. 18-30-Jährige stellten in den ersten zwei Jahrzehnten des Einigungsprozesses 40 Prozent aller Abwanderer gen Westen und 55 Prozent aller seit 1989 abgewanderter Personen waren weiblich (vgl. Kröhnert 2009, S. 91). Die Gründe für dieses Ost-West-Mobilitätsgefälle sind in den Arbeitsmarktproblemen sowie den schlechten Berufs- und Verdienstmöglichkeiten in Ostdeutschland in der Zeit zu sehen. In der Folge bildete sich in verschiedenen ostdeutschen Regionen ein Frauendefizit bei jungen Erwachsenen heraus, das "so großflächig in der Europäischen Union sonst nicht vorkommt" (vgl. Kröhnert 2009, S. 92). Diese Situation wird langfristig – ebenso wie nach der ersten Abwanderungswelle in der DDR – eine weitere Überalterung der ostdeutschen Bevölkerung verstärken (Luy 2009, S. 61).

Im Jahre 2019 erstellte die Wochenzeitschrift Die Zeit sehr anschauliche und informative interaktive Grafiken, welche die innerdeutschen Abwanderungsbewegungen für die drei Jahrzehnte des deutschen Einigungsprozsses wiedergeben. [Die Millionen, die gingen, Externer Link: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2019-05/ost-west-wanderung-abwanderung-ostdeutschland-umzug (letzter Zugriff 30.3.20)].

Ab ungefähr 2008 war der Höhepunkt der Abwanderungswelle überschritten. Es gibt Beobachter der Entwicklung, die für 2017 eine "Trendumkehr" diagnostizieren (Zeit 2019). In dem Gutachten des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH 2019, S. 13ff.) zur Situation "drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall" wird ebenfalls davon ausgegangen, dass es inzwischen zu einem Stillstand bei der "Nettowanderung" gekommen sei, doch für die ostdeutsche Wirtschaft zeichnen sich neue Probleme ab: Eine Überalterung der Gesellschaft (mit großen regionalen Unterschieden), ein Fachkräftemangel und ein mangelnder Zuzug vor allem hochqualifizierter EU-Zuwanderer, die lieber in den Westen oder nach Berlin zögen.

Durch Wanderungsverluste haben die ostdeutschen Bundesländer im deutschen Einigungsprozess rund 1,7 Mio. Bürger verloren (die Zahl ergibt als Summe der Wanderungssalden 1989-2017). Andere Schätzungen liegen bei 1,3 Mio. oder 1,9 Mio. (Zeit 2019, Garton Ash 2019).

Aus sozialwissenschaftlicher Sicht kann die Ost-West-Wanderung als "Indikator für den Stand der deutschen Vereinigung" angesehen werden (Schubarth/Speck 2009, S. 256). Wenn die Arbeitsmarktunterschiede als "Motor" der Wanderungsprozesse in Rechnung gestellt werden, lautet das Fazit in den Worten des Wirtschaftshistorikers Jörg Roesler (2005): "Bis 1961 funktionierte der gesamtdeutsche Arbeitsmarkt noch, seit 1990 funktioniert er wieder – beide Male zuungunsten des Ostens."

Bevölkerungsveränderungsrate: rate der natürlichen Bevölkerungsveränderung plus der Rate des Wanderungssaldos (Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Abwanderung im europäischen Kontext

Abwanderung ist offensichtlich ein Merkmal mancher Transformationsländer. Der Wirtschaftshistoriker Philipp Ther (2014, S. 246ff.) hat darauf hingewiesen, dass einige ehemaligen Regionen, die zum sozialistischen Staatensystem gehörten, in den letzten Jahrzehnten sehr große Bevölkerungsverluste aufweisen. Rumänien hat demzufolge im Zeitraum 1990-2014 4,2 von ursprünglich 23,3 Mio. Menschen verloren. Lettland "büßte zwischen 2009 und 2011 […] neun Prozent der Bevölkerung ein", was jedoch in der Berichterstattung, in der die wirtschaftliche "Erfolgsgeschichte" dieses Landes oftmals dargestellt werde, keine Rolle spiele. Der Historiker und Autor Timothy Garton Ash (2019) schreibt, dass für Litauen die Größe des Bevölkerungsrückgangs seit dem gesellschaftlichen Umbruch bei 27 Prozent und für Bulgarien bei 21 Prozent liege. Für diese Regionen bestehe nicht das "spekulative" Problem der Einwanderung, sondern das reale der Auswanderung.

Lassen wir diese Meinung einfach so stehen. Im europäischen Kontext relativiert sich der ostdeutsche Bevölkerungsverlust von etwa 10 Prozent seit 1989, ohne vergangene oder künftige Probleme negieren zu wollen.

Quellen / Literatur

Friedrich, K./ Schultz, A., Mit einem Bein noch im Osten? Abwanderung aus Ostdeutschland in sozialgeographischer Perspektive, in: Dienel, C. (Hrsg.), Abwanderung, Geburtenrückgang und regionale Entwicklung. Ursachen und Folgen des Bevölkerungsrückgangs in Ostdeutschland, Wiesbaden 2005, S. 203-216.

Garton Ash, T., Time for a New Liberation?, Externer Link: https://www.nybooks.com/articles/2019/10/24/time-for-new-liberation/ (letzter Zugriff 20.10.19).

Geißler, R., Die Sozialstruktur Deutschlands. Zur gesellschaftlichen Entwicklung mit einer Bilanz der Vereinigung, Wiesbaden 7. Aufl. 2014.

IWH, Vereintes Land – drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall, Halle 2019.

Kröhnert, S., Analysen zur geschlechtsspezifisch geprägten Abwanderung Jugendlicher, in: Schubarth, W./ Speck, K. (Hrsg.), Regionale Abwanderung Jugendlicher, Weinheim 2009, S. 91-110.

Luy, M., Empirische Bestandsaufnahme der Bevölkerungsentwicklung in Ost- und Westdeutschland, in: Schubarth, W./ Speck, K. (Hrsg.), Regionale Abwanderung Jugendlicher, Weinheim 2009, S. 43-67.

Rytlewski, R./Opp de Hipt, M., Die Deutsche Demokratische Republik in Zahlen 1945/49-1980, München 1987.

Roesler, J., Rezension zu: Mai, Ralf: Abwanderung aus Ostdeutschland. Strukturen und Milieus der Altersselektivität und ihre regionalpolitische Bedeutung. Frankfurt am Main 2004, in: H-Soz-u-Kult, 04.02.2005, <Externer Link: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-1-094>.

Schubarth, W./Speck, K., Abwanderung Jugendlicher und demografischer Wandel – was tun?, in: Schubarth, W./ Speck, K. (Hrsg.), Regionale Abwanderung Jugendlicher, Weinheim 2009, S. 253-258.

Ther, P., Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent: Eine Geschichte des neoliberalen Europa. Berlin 2014.

Wehler, H.-U., Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Fünfter Band. Bundesrepublik und DDR 1949-1990, München 2008.

Fussnoten

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Dr. habil. Bernd Martens, studierte Soziologie, Informatik, Sozialgeschichte und Volkswirtschaftslehre in Hamburg. Von 2001-12 war er am Sonderforschungsbereich 580 "Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch" an der Universität Jena in einem Forschungsprojekt über wirtschaftliche Eliten im erweiterten Europa und als wissenschaftlicher Geschäftsführer tätig. Von 2013 bis 2017 arbeitete er am Zentrum für Sozialforschung an der Universität Halle in verschiedenen Forschungs- und Evaluationsprojekten. Von 2018 bis 2019 war er am DZHW (Deutsches Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung) Berlin im Nacaps-Projekt tätig. Seit 2020 arbeitet er in der Außenstelle Leipzig des DZHW. (Nacaps steht für National Academics Panel Study und ist eine Längsschnittstudie des DZHW über Promovierende und Promovierte in Deutschland. In regelmäßigen Abständen befragt Nacaps bundesweit Promovierende und Promovierte zu ihren Promotionsbedingungen, Karriereabsichten und Karriereverläufen sowie zu ihren allgemeinen Lebensbedingungen.)