Über 20 Prozent der Vollzeitbeschäftigten arbeiten in Deutschland zu Niedriglöhnen. Im EU-weiten Vergleich liegt Deutschland unter den sechs Ländern mit den höchsten Anteilen. In Ostdeutschland ist ein ungleich größerer Teil der Erwerbstätigen im Niedriglohnsektor beschäftigt.
Die durch die Transformation bedingten Strukturbrüche der Wirtschaft haben den ostdeutschen Arbeitsmarkt auch auf dem Lohnsektor das erste Jahrzehnt der Wiedervereinigung hindurch maßgeblich geprägt. Diese Verwerfungen sind inzwischen historisch. Gegen Ende der 1990er Jahre beginnen sich die Problemlagen zu ändern. Gab es bis dahin z.B. einen Überschuss an qualifizierten Arbeitskräften, ist inzwischen der Fachkräftemangel ein den ostdeutschen Arbeitsmarkt beherrschendes Thema (vgl. auch Item 35, Mangel an Fachkräften). Der grundlegende Wandel der ökonomischen Problemlagen ist an geänderten Erfassungskriterien der Amtlichen Statistiken ablesbar. Die nachstehenden Abbildungen zeichnen deshalb den zeitlichen Verlauf seit dem Ende der 1990er Jahre nach.
Über 20 Prozent der Vollzeitbeschäftigten arbeiten in Deutschland im unteren Einkommenssektor (Erhebungsjahr 2017). Damit liegt Deutschland im EU-weiten Vergleich unter den sechs Ländern mit den höchsten Anteilen. Das Entlohnungsniveau ist in Deutschland geografisch ungleich verteilt. Im Osten des Landes arbeiteten 2017 34 Prozent der Beschäftigten im Niedriglohnbereich; im Westen waren es mit 17 Prozent halb so viele. Dies ist insofern bedeutsam, als dieser Sektor häufig den Grundstein für spätere Alters- sowie aktuelle Erwerbsarmut legt. Nachfolgend wird auf die Entwicklung der letzten 20 Jahre eingegangen. Neben unterschiedlichen strukturellen Bedingungen in Ost und West werden auch geschlechts-, alters-, bundesland- und branchen-spezifische Unterschiede und Bedingungsfaktoren niedriger Entlohnung betrachtet.
Niedriglohn und Medianeinkommen
Die Niedriglohnschwelle und der Anteil der Beschäftigten, die einen unterhalb des Schwellenwertes liegenden Lohn beziehen, werden als statistische Kennziffern für die Einkommensverteilung in einem Land herangezogen. Bei der Definition der Niedriglohnschwelle folgt Deutschland der OECD-Konvention. Niedriglohn ist demnach ein Bruttolohn, der unterhalb von zwei Dritteln des mittleren Bruttolohns liegt. Es handelt sich also um einen relativen Wert, welcher sich an den Einkommensverhältnissen der jeweils betrachteten Gruppen der Erwerbsbevölkerung ausrichtet. Dementsprechend fallen die Schwellenwerte und deren Entwicklung in beiden Teilen des Landes unterschiedlich aus (Abb. 6). Ansatz der Darstellung ist hier der mittlere Bruttolohn (Medianeinkommen), der nicht mit dem Durchschnittslohn zu verwechseln ist (Abb. 1)..
Medianeinkommen – Regionale und individuelle Faktoren
Das mittlere Einkommen hat sich in Deutschland in den letzten 18 Jahren von 2.326 € auf 3.209 € um fast 40 Prozent erhöht. Im Westen des Landes fiel der Zuwachs mit 36 Prozent (auf 3.339 €) etwas weniger stark aus als im Osten, wo der Zuwachs gut 43 Prozent (auf 2.600 €) betrug. Dennoch besteht zwischen beiden Landesteilen recht beständig eine Differenz fort, die seit der höchsten Ausprägung von 785 € in den Jahren 2010, 2011 und 2013 bis heute kontinuierlich leicht auf ca. 740 € abgenommen hat (Abb. 1). Kluge und Weber (2016) gehen davon aus, dass, gemessen an der aktuellen Annäherungsgeschwindigkeit, die Lohnungleichheit (Lohnabstand) zwischen Ost und West erst im Jahr 2070 auf weniger als 10 Prozent sinken wird.
Ordnet man die Bundesländer auf einer Skala vom höchsten zum niedrigsten mittleren Einkommen an, zeigt sich die Spaltung Deutschlands im Lohnsektor nach fast 30 Jahren deutscher Einheit noch deutlicher. So liegt zwischen dem Bundesland mit dem höchsten (Hamburg = 3.619 €) und demjenigen mit dem niedrigsten Einkommensmedian (Mecklenburg-Vorpommern = 2.459 €) 2017 eine Differenz von deutlich über 1.000 € (minus 1.228€). Zudem werden die Top-3-Plätze auf dieser Skala von westdeutschen Ländern und die 3 letzten Plätze von ostdeutschen Ländern eingenommen. Bei einer noch kleinteiligeren Messung z.B. nach Landkreisen (hier nicht dargestellt) würde sich der Ost-West-Kontrast weiter verschärfen.
Frauen verdienen im Schnitt nach wie vor deutlich weniger als ihre männlichen Kollegen. So nimmt die Differenz beim Einkommensmedian zwischen Männern und Frauen seit dem Höchstwert von 637 € im Jahr 2008 zwar kontinuierlich ab, liegt jedoch 2017 immer noch bei 452 € (Abb. 2). Für einen Vergleich von Niedriglohnempfänger*innen zwischen Ost- und Westdeutschland ist das insofern von Bedeutung, als die Erwerbstätigenquote von Frauen im Osten nach wie vor mit ca. 61 Prozent gut 5 Prozentpunkte über dem Niveau im Westen liegt.
Innerhalb der Altersgruppen im typischen Erwerbsalter hat das Gefälle in den letzten 20 Jahren nicht ab-, sondern eher zugenommen. So liegt die Differenz zwischen der "jüngsten" und der "ältesten" Gruppe 2017 bei gut 1150 Euro (Abb. 3), 1999 hatte diese noch 900 Euro betragen. Über 50-Jährige Männer, die so genannten "Best Ager", stellen somit die einkommensstärkste Gruppe dar. Im Gegensatz dazu verfügen vor allem junge Frauen dauerhaft über ein wesentlich niedrigeres mittleres Einkommen (Abb. 3 und Abb. 4).
Zwischen den verschiedenen Berufszweigen in Deutschland existieren deutliche Einkommensunterschiede. So sind die mittleren Einkommen besonders hoch bei IT-Berufen und naturwissenschaftlichen, unternehmensbezogenen und fertigungstechnischen Berufen, während sie im Land-, Forst- und Gartenbau, im Gastgewerbe und besonders im Reinigungsbereich geringer ausfallen. Auch diese Berufsgruppen sind in Ost und West nicht gleich verteilt.
Niedriglohn – Regionale und individuelle Faktoren
Die an das Medianeinkommen gekoppelte Niedriglohnschwelle (Abb. 4) ist in den letzten Jahrzehnten (hier betrachtet seit 1999) gemäß Definition, wie auch das Durchschnittseinkommen und der Einkommensmedian (Abb. 1), kontinuierlich angestiegen. 2017 lag die Schwelle in Deutschland bei einem Wert von etwa 2.140 € und damit fast 600 € höher als noch 18 Jahre zuvor. Im Osten des Landes liegt die Schwelle deutlich darunter (1.733 €), in Westdeutschland mit 2.226 € etwas höher. Die Differenz zwischen Ost und West nimmt zwar seit 2013 von Jahr zu Jahr leicht ab, hat aber deutlich Bestand (Abb. 4). Grundlage für die Berechnung der Anteile von Erwerbspersonen im Niedriglohnsektor in unterschiedlichen Regionen ist der deutschlandweite Wert.
Vergleicht man die Anteile von Personen, welche im unteren Entgeltbereich beschäftigt sind, treten 30 Jahre nach dem Systemumbruch beträchtliche Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland hervor. Erhalten im Osten des Landes 2017 fast 34 Prozent der Beschäftigten einen so genannten Niedriglohn, sind es in Westdeutschland mit fast 17 Prozent gerade einmal halb so viele (Abb. 5). Bis 2009 haben sich hierbei beide Landesteile stetig auseinander entwickelt; erst seit 2010 lässt sich ein gewisser Trend der Annäherung ablesen. Das liegt vor allen daran, dass sich die Gruppe der Niedriglohnempfänger gerade in Ostdeutschland wesentlich, von gut 40 Prozent (2009) um sieben Prozentpunkte auf etwa ein Drittel (2017), verringert hat. Im gleichen Zeitraum sank der Anteil im Westen nur um einen Prozentpunkt, von etwa 18 auf 17 Prozent (ebd.).
Die folgenden Abbildungen verdeutlichen, in welchen sozialen Gruppen und Regionen Niedriglohnempfänger überproportional vertreten sind. Es zeigt sich, dass fast ein Drittel aller erwerbstätigen Frauen im Niedriglohnbereich tätig ist. Bei Männern sind es 16 Prozent (Abb. 6).
Etwas anders verläuft die Entwicklung bei den Altersgruppen. Zwei von fünf (41,1 %) der unter 25-Jährigen arbeitet für einen Lohn im unteren Einkommensbereich. Bei den über 50-Jährigen sind es fast 25 Prozentpunkte weniger. Dieser Unterschied hat sich in den letzten 20 Jahren kaum verändert (Abb. 7). Zu berücksichtigen ist, dass Berufserfahrung indirekt auch den Lohn mitbestimmt. Auffallend ist zudem, dass die Gruppe der unter 25-Jährigen, also der Berufseinsteiger, mit gut 40 Prozent deutlich über dem landesweiten Durchschnitt von etwa 20 Prozent liegt (2017, Abb. 7).
Das Land mit dem geringsten Anteil an Niedriglöhnern ist Baden-Württemberg, dort liegt der Anteil bei 14 Prozent. Hingegen liegt Mecklenburg-Vorpommern mit 40 Prozent deutschlandweit an der Spitze. Die fünf Bundesländer mit den höchsten Anteilen liegen allesamt im Osten Deutschlands.
Was sind die Gründe für die nachhaltige Ost-West-Differenz im Niedriglohnsektor? – Erklärende Faktoren
Dass 30 Jahre nach der Wiedervereinigung in Ostdeutschland ein ungleich größerer Teil der Erwerbstätigen im Niedriglohnsektor beschäftigt ist, hat vor allem strukturelle Hintergründe, welche sich politisch nur schwer auflösen bzw. umkehren lassen. Dazu gehört die bisher nur selten zustande gekommene Ansiedlung von großen Unternehmen in strukturschwachen Regionen, welche nicht nur für die Wirtschaftsleistung und das Qualifikationsniveau der Beschäftigten am Standort positive Effekte hat, sondern indirekt auch die gewerkschaftliche Organisationskraft und die Tarifbindung langfristig verbessern helfen kann. Große Unternehmen können das Einkommensniveau einer ganzen Region bestimmen. Nicht zufällig gehören beispielsweise Ingolstadt (Audi), Wolfsburg (VW) und Erlangen (Siemens) zu den einkommensstärksten Kreisen in Deutschland. Der Osten Deutschlands hingegen ist geprägt von kleineren und mittleren Unternehmen, welche im Schnitt deutliche geringere Gehälter zahlen sowie häufig ohne gewerkschaftliche Vertretung sind, keinen Betriebsrat haben und nicht einem Tarifvertrag unterliegen.
Mitverantwortlich für das West-Ost-Lohngefälle war laut Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) unter anderem auch "die Mäßigung bei der Angleichung der Tariflöhne nach dem Scheitern der raschen Angleichungsstrategie, vor allem aber das Unterlaufen der Tarifbindung durch die Unternehmen". Laut DGB ist die Einkommenslücke zwischen Ost und West dort fast geschlossen, wo die Beschäftigten über Tarifvertrag angestellt sind. 2018 arbeitete fast die Hälfte (49 %) der Beschäftigten im Westen im Geltungsbereich der Tarifbindung im Rahmen eines Branchentarifvertrages, im Osten sind dies nur etwas mehr als ein Drittel (35 %). Allerdings sinkt dieser Wert seit 2000 in beiden Landesteilen deutlich, besonders bei Branchentarifverträgen.
Auch die Schließung des – seit 2002 nahezu konstanten – Gender Pay Gap kann zu einer nachhaltigen Verringerung der Entgeltunterschiede zwischen den Landesteilen beitragen. Die Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015 hatte eher geringen Einfluss auf die Entwicklung der Anteile im Niedriglohnsektor insgesamt, bewirkte aber immerhin, die Lohnungleichheit in diesem unteren Bereich der Lohnverteilung zu verringern.
Dipl.-Soz. Tobias Jaeck ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Sozialforschung Halle e.V. (ZSH) an der Universität Halle-Wittenberg. Er ist als Diplomsoziologe wissenschaftlich in Projektarbeit am ZSH tätig. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Stadtsoziologie, Segregation und Gentrification, Quartier- und Nachbarschaftsforschung, Stadtentwicklung, Transformationsforschung, Demografischer Wandel, Demokratieforschung, politische Einstellungen, Partizipation und Bürgerschaftliches Engagement.
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