Nachholende Modernisierung im Westen: Der Wandel der Geschlechterrolle und des Familienbildes
Sabine Böttcher
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Wie haben sich die Geschlechterrollen von Männern und Frauen seit der Wiedervereinigung verändert? Welche Ursachen liegen diesen Veränderungen zugrunde? Und welche Auswirkungen haben sie auf das gesellschaftliche Miteinander im Familien- und Berufsleben?
Geschlechterrollen umfassen die allgemeinen, gesellschaftlich akzeptierten Erwartungshaltungen an das Verhalten von Männern und Frauen in bestimmten Lebenssituationen wie Familie und Beruf, im sozialen Miteinander und im politischen Handeln. Die Rollenbilder finden ihren Ausdruck in der alltäglichen Praxis in Familie, Beruf und Gesellschaft. Zwischen der erwarteten Ausfüllung einer Geschlechterrolle, auch Geschlechterrollenorientierung genannt, und der gelebten Geschlechterrolle zeigen sich häufig Diskrepanzen, die sowohl in gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als auch in persönlichen Wert- und Normvorstellungen einer jeden Person begründet sein können.
Geschlechterrollen geben damit den Rahmen vor, in dem sich Menschen unterschiedlichen Geschlechts bewegen können, ohne an gesellschaftliche Akzeptanzgrenzen zu stoßen oder mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten. Geschlechterrollen unterliegen dem (gesellschaftlichen) Wandel von Einstellungen, Werten und Normen. Dieser Wandel wird getragen durch neues Wissen, durch den Einblick in andere Lebenszusammenhänge (z.B. Frauenerwerbstätigkeit in der DDR und alten BRD) oder veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen (z.B. Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf).
Im Verständnis von Geschlechterrollen wird vor allem zwischen einer traditionellen und einer egalitären Richtung unterschieden. Traditionell ist ein Geschlechterrollenverständnis dann, wenn der Frau die familiären Innenaktivitäten, d.h. die Belange der Kinder und des Haushaltes zugeordnet werden, dem Mann hingegen die Außenaktivitäten und hier in erster Linie die finanzielle Versorgung der Familie. Die Frau ist im traditionellen Geschlechterrollenverständnis vom Mann ökonomisch abhängig. So sie erwerbstätig ist, wird die Erwartung negativer Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinder verbunden. Bei einem egalitären Geschlechterrollenverständnis spielt das Geschlecht für die Zuordnung zu Aufgabenbereichen eine untergeordnete Rolle. Vielmehr werden diese weitestgehend gleichberechtigt zwischen Männern und Frauen aufgeteilt bzw. gemeinsam erledigt. Eine klare, geschlechterspezifische Zuordnung von Aufgaben findet sich hier nicht. Beide Geschlechter sind ökonomisch weitestgehend unabhängig voneinander. Ebenso wird bei einem egalitären Geschlechterrollenverständnis davon ausgegangen, dass sich aus der Erwerbstätigkeit der Frau keine Nachteile für das Aufwachsen und Gedeihen der Kinder ergeben. Das egalitäre Geschlechterrollenverständnis beinhaltet ein emanzipiertes Bild von der Rolle der Frau.
Zwischen Ost- und Westdeutschland gab es zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung deutliche Unterschiede im Geschlechterrollenverständnis. Während in Westdeutschland die traditionellen Geschlechterrollen stark verankert waren, herrschte in Ostdeutschland ein egalitäres Rollenverständnis vor. Spätestens seit der Wiedervereinigung werden ein verstärktes Ablösen von traditionellen Geschlechterrollen und ein zunehmend egalitäres Geschlechterrollenbild auch in Westdeutschland sichtbar (siehe Tabelle 1).
Tabelle 1: Zuordnung von Aussagen zur Rolle der Frau zu einem traditionellen oder egalitären Rollenbild
Aussagen zur Rolle der Frau
Zuordnung der Antworten zu einem traditionellen oder egalitären Rollenbild
Zustimmung
Ablehnung
Es ist für alle Beteiligten viel besser, wenn der Mann voll im Berufsleben steht und die Frau zu Hause bleibt und sich um den Haushalt und die Kinder kümmert.
traditionell
egalitär
Für eine Frau ist es wichtiger, ihrem Mann bei seiner Karriere zu helfen, als selbst Karriere zu machen.
traditionell
egalitär
Eine verheiratete Frau sollte auf eine Berufstätigkeit verzichten, wenn es nur eine begrenzte Anzahl von Arbeitsplätzen gibt und wenn ihr Mann in der Lage ist, für den Unterhalt der Familie zu sorgen.
traditionell
egalitär
Tabellenbeschreibung
Für den Datenreport 2018, einem Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland, wurde die Ausprägung des traditionellen bzw. egalitären Rollenbildes bezüglich der Rolle der Frau mit der Zustimmung oder Ablehnung der dargestellten Aussagen gemessen.
Quelle: Michael Blohm, Jessica Walter (2018), Darstellung angepasst
In Abbildung 1 wird die Entwicklung des Anteils egalitärer Vorstellungen zur Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen in Ost- und Westdeutschland ausgewiesen. Gut zu erkennen sind die stärkere Ausprägung egalitärer Rollenbilder in Ostdeutschland, und hier insbesondere bei ostdeutschen Frauen, ferner der einheitliche "Startpunkt" der westdeutschen Männer und Frauen im Jahr 1991 und der Abstand zwischen ost- und westdeutschen Männern und Frauen. Bis zum Jahr 2016 zeigt sich sowohl eine gesamtdeutsche Zunahme egalitärer Rollenbilder als auch eine Annäherung zwischen Ost- und Westdeutschland insofern, als die Zunahme egalitärer Rollenbilder bei westdeutschen Frauen (33 %) und Männern (28 %) stärker ausfällt als bei ostdeutschen Frauen (25 %) und Männern (23 %). Während bis 2008 eine fast parallele Entwicklung der Einstellungen ost- und westdeutscher Männer und Frauen geschieht, zeigt sich seitdem eine zunehmende Angleichung vor allem zwischen ost- und westdeutschen Männern. Bei Frauen ist eine solche Angleichung von 2008 bis 2012 festzustellen. Seit 2012 verläuft die emanzipatorische Entwicklung der Frauen wieder weitestgehend parallel. Gabriel u.a. (2015) sprechen in diesem Zusammenhang von einer "nachholenden Modernisierung der Westdeutschen" und verweisen dabei insbesondere auf die Veränderungen in der emanzipatorischen Einstellung westdeutscher Männer.
Wippermann (2015) verweist darauf, dass der Weg zum und die Ausgestaltung des gleichgestellten Rollenbildes vielfältige Facetten und zum Teil deutliche Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland aufweist. So dominiert 2014 in Westdeutschland mit 35,5 Prozent das teiltraditionelle Rollenbild, in dem der Mann als Hauptverdiener die Familie ernährt, während die Frau sich um Haushalt und Kinder kümmert und gleichzeitig durch ihre Erwerbstätigkeit etwas dazuverdient. Die Ostdeutschen dagegen favorisieren mit 38,7 Prozent das konsequent gleichgestellte Rollenbild, in dem Mann und Frau zu gleichen Teilen durch Erwerbstätigkeit das Familieneinkommen sichern und sich um Haushalt und Kinder kümmern (Tabelle 2).
Tabelle 2: Rollenbilder und ihre Ausgestaltung in Ost- und Westdeutschland 2014
Konsequent gleichgestellte Partnerschaft: Familieneinkommen durch Erwerbstätigkeit + Haushalt + Kinder von Mann und Frau zu gleichen Teilen
38,7
30,0
Gleichgestellte Partnerschaft: beide erwerbstätig, Haushalt + Kinder zu gleichen Teilen, auch wenn ein Partner ein deutlich höheres Einkommen hat
16,6
13,0
Quelle: Wippermann (2015)
Die Ausprägung des Geschlechterrollenverständnisses hat großen Einfluss auf die Geschlechtergerechtigkeit und die Chancengleichheit aller Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht in einer Gesellschaft, auf die individuelle Gestaltung und Gestaltbarkeit von Familien- und Arbeitsleben sowie auf die gesellschaftliche Akzeptanz unterschiedlicher Lebensformen. Die Sicht auf die Geschlechterrolle – sowohl in ihrer Orientierung als auch in ihrer gelebten Praxis – und die Familienbilder einer Gesellschaft stehen in Wechselwirkung zueinander. Mit einer zunehmenden Pluralisierung von Geschlechterrollen ist auch eine wachsende Vielfalt an Familienbildern und -konstellationen verbunden.
Als Indikatoren für die Veränderung der Geschlechterrollen und damit auch für die Familienbilder werden nachfolgend der Familienstand zum Zeitpunkt der Geburt eines Kindes, die Frauenerwerbstätigkeit und die Einschätzung der Folgen dieser auf die Entwicklung der Kinder herangezogen.
Wandel und zunehmende Vielfalt der Familienbilder
Die Familienbilder, denen spezifische Geschlechterrollenorientierungen zugrunde liegen, unterschieden sich in Ost- und Westdeutschland zur Wiedervereinigung deutlich. So dominierte in Westdeutschland auf der Grundlage der traditionellen Geschlechterrollenorientierung das Familienbild eines verheirateten Paares mit Kind(ern), in dem die Frau nicht oder nur geringfügig und der Mann voll erwerbstätig ist. In Ostdeutschland war hingegen die egalitäre Geschlechterrollenorientierung verbreiteter. Das hier vorherrschende Familienbild zeigte ein nicht zwangsläufig miteinander verheiratetes Paar mit Kind(ern), wobei beide Eltern erwerbstätig sind.
Ein guter Indikator für die Unterschiedlichkeit der Familienbilder und ihre zunehmende Vielfalt ist die Familienkonstellation zum Zeitpunkt der Geburt eines Kindes, wie sie die nachfolgenden Abbildungen 2 und 3 für die Zeit nach der Wiedervereinigung verdeutlichen. Abbildung 2 zeigt die Entwicklung des Anteils neugeborener Kinder von nicht verheirateten Eltern in Ost- und Westdeutschland von 1990 bis 2018. 1990 hatten gut zehn Prozent aller Neugeborenen in den alten Bundesländern unverheiratete Eltern, in Ostdeutschland waren es 35 Prozent. Bis 2018 hat sich dieser Anteil in Westdeutschland auf 29 Prozent fast verdreifacht und ist in Ostdeutschland auf 57 Prozent gestiegen. Eine Ost-West-Angleichung wird damit nicht sichtbar, wohl aber ein deutliches Zeichen für einen deutschlandweiten Wandel der Familienbilder und insbesondere in Westdeutschland.
Abbildung 3 ermöglicht einen Blick auf die Entwicklung des Familienstandes der Eltern bei Kindern unter 18 Jahren, gemessen am Anteil aller Kinder, von 1997 bis 2017 in Ost- und Westdeutschland. In beiden Teilen Deutschlands nimmt der Anteil an Kindern zu, die bei Alleinerziehenden und bei Eltern in Lebensgemeinschaften aufwachsen, bei einem gleichzeitig sinkenden Anteil an Kindern, deren Eltern miteinander verheiratet sind. So ging der Anteil der Kinder mit verheirateten Eltern in Westdeutschland von 86 Prozent (1997) auf 77 Prozent (2017) und in Ostdeutschland von 74 Prozent auf 56 Prozent zurück. Der Anteil der Kinder in Lebensgemeinschaften ist kontinuierlich gestiegen und hat sich in Westdeutschland von drei auf fast acht Prozent und in Ostdeutschland von zehn auf 21 Prozent mehr als verdoppelt. Bei Kindern von Alleinerziehenden zeigt sich keine so eindeutige Entwicklungslinie: Ihr Anteil stieg von 1997 bis 2013 und sinkt seitdem in beiden Teilen Deutschlands, wobei der Anteil der Alleinerziehenden an allen Eltern in Ostdeutschland 2017 mit 21 Prozent deutlich höher liegt als in Westdeutschland mit knapp acht Prozent.
Frauenerwerbstätigkeit
Sichtbar wird die eingetretene Veränderung der Geschlechterrollen und der Familienbilder anhand der Entwicklung der Frauenerwerbstätigkeit und des geschlechtsbezogenen Abstands der Erwerbstätigenquoten. Dabei ist zu bedenken, dass die Erwerbstätigkeit von Frauen nicht allein auf Gleichstellungsinteressen oder der Durchsetzung von Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern gründet, sondern auch ökonomischen und familiären Zwängen unterliegt.
Ostdeutsche Frauen waren zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung deutlich häufiger berufstätig als westdeutsche. In der alten Bundesrepublik führte die Geburt eines Kindes häufiger dazu, dass vordem erwerbstätige Frauen ihren Beruf vollständig zugunsten der Familie aufgaben bzw. für viele Jahre unterbrachen. In Ostdeutschland war dies eher unüblich. Viele Mütter kehrten nach dem Babyjahr, welches 1970 eingeführt wurde, wieder an ihren Arbeitsplatz zurück. Dies begründete sich vor allem aus einer höheren subjektiven Wichtigkeit der Arbeit, die durch die hohe öffentliche Anerkennung der Frau in der DDR gefördert wurde. Studien verweisen schon 1991, zwei Jahre nach der Wiedervereinigung, darauf, dass die Wichtigkeit der (Erwerbs-)Arbeit für ostdeutsche Frauen unter 50 Jahren gestiegen ist und die Erfahrung von eigener Arbeitslosigkeit die Bedeutung der Erwerbstätigkeit zusätzlich verstärkt und nicht verringert hat (Horst und Schupp 1991). Gleichzeitig zeigte sich 1991 auch schon eine verstärkte Erwerbsbeteiligung westdeutscher Frauen, die sich aus einer zunehmenden Wertschätzung eigener Erwerbstätigkeit speiste.
Die Erwerbstätigenquote gibt als Maß der Beteiligung am Erwerbsleben an, wie hoch der prozentuale Anteil der Erwerbstätigen an der Gesamtbevölkerung ist. Die Erwerbstätigenquote ostdeutscher Frauen lag 1991 bei 67 Prozent. Sie fiel 1993 aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit auf ihren Tiefststand von 55 Prozent und steigt nach einer relativen Stagnation seit 2007 wieder an. 2017 liegt sie bei 73 Prozent und erreicht damit ihren Wert von 1980 . In Westdeutschland hat sich die Frauenerwerbstätigenquote von 55 Prozent im Jahr 1991 auf 71 Prozent im Jahr 2017 erhöht. Abbildung 4 veranschaulicht gut die Angleichung der Erwerbstätigenquoten mit seit 2007 wieder leicht höheren Werten in Ostdeutschland.
Ein Anzeiger für den Grad der gleichberechtigten Teilhabe von Frauen und Männern am Erwerbsleben ist der geschlechterbezogene Abstand der Erwerbstätigenquoten. Je höher dieser Abstand ausfällt, desto geringer ist die Erwerbstätigenquote der Frauen im Vergleich zu den Männern.
Wie Abbildung 5 veranschaulicht, betrug 1991 der Abstand der Erwerbstätigenquoten zwischen Männern und Frauen in Westdeutschland 24 Prozent und lag damit doppelt so hoch wie der ostdeutsche Vergleichswert mit zwölf Prozent. Von 1991 bis 2017 hat sich dieser Abstand sowohl in West- als auch in Ostdeutschland verringert. Da die Differenz in Westdeutschland aufgrund der zunehmenden Erwerbstätigkeit von Frauen stärker abnahm als in Ostdeutschland, haben sich die Abstände der geschlechterbezogenen Erwerbstätigenquote bis 2017 auf vier Prozentpunkte weitgehend angeglichen. In Ostdeutschland nähern sich die Erwerbstätigenquote der Frauen und damit auch ihr geschlechtsspezifischer Abstand aktuell wieder den Jahren der späten DDR (1980 bis 1989) an. Die hohe Quote der Erwerbstätigkeit der Frauen in der DDR wurde u.a. ermöglicht durch flächendeckende Ganztagskinderbetreuungsangebote ab der Geburt bis zum Ende der 4. Klasse; die so geschaffenen Betreuungsstrukturen blieben nach der Wiedervereinigung weitestgehend erhalten. In Westdeutschland ist die Angleichung des geschlechtsbezogenen Abstandes der Erwerbstätigenquoten auch mit dem Wandel vom traditionellen zum egalitären Familienbild verbunden, der dort u.a. durch den zunehmenden Ausbau der öffentlichen Kinderbetreuungsangebote getragen wird.
Die gelebte Geschlechterrolle unterliegt verschiedenen Veränderungen und Einflussgrößen im Verlauf des Lebens von Männern und Frauen. Einen besonders starken Einfluss übt die Geburt des ersten Kindes aus. Diese durchbricht häufig den Prozess der Angleichung der Geschlechterrollen und führt – in Westdeutschland stärker als in Ostdeutschland – wieder zurück in eine traditionellere Rollenteilung zwischen Männern und Frauen.
Sichtbar wird dies durch den Vergleich der ost- und westdeutschen Erwerbstätigenquoten von Müttern und Vätern 2017 (Abbildungen 6 und 7). Dieser Vergleich unterstreicht einerseits die stärkere Verankerung des egalitären Familienbildes in Ostdeutschland und des traditionellen in Westdeutschland. Andererseits werden Anzeichen für eine Retraditionalisierung der Rollenbilder dahingehend offenbar, dass die vor der Geburt des Kindes praktizierte egalitäre Rollenteilung von den Eltern nicht in die Zeit danach "mitgenommen" wird, sondern sie zur traditionellen Rollenteilung zurückkehren.
Dieser Effekt wirkt in Westdeutschland stärker. So sind in Ostdeutschland vergleichsweise mehr Mütter und weniger Väter erwerbstätig. Je jünger das jüngste Kind ist, desto größer ist diese Differenz zwischen Ost und West. Westdeutsche Männer und Frauen kehren mit der Mutter- und Vaterrolle stärker in die traditionelle Rollenteilung zurück als ostdeutsche Väter und Mütter. Mit zunehmendem Alter des jüngsten Kindes nähert sich sowohl bei Müttern als auch bei Vätern die Erwerbstätigenquote zwischen Ost- und Westdeutschland wieder an.
Folgen der Frauenerwerbstätigkeit
Im Verständnis klassischer bzw. traditioneller Geschlechterrollen wird die Erwerbstätigkeit von Müttern mit nachteiligen Auswirkungen für das Aufwachsen und Gedeihen der Kinder sowie mit einem schlechteren Verhältnis der Mütter zu ihren Kindern verbunden. Im egalitären Geschlechterrollenverständnis gibt es diese Erwartungshaltungen nicht. Gemessen werden die gegenteiligen Einstellungen im gesamtdeutschen Datenreport 2018 mit der Zustimmung bzw. Ablehnung der in Tabelle 3 aufgelisteten Aussagen.
Tabelle 3: Zuordnung von Aussagen zu den Folgen der Erwerbstätigkeit von Müttern zu einem traditionellen oder egalitären Rollenbild
Aussagen zu den Folgen der Erwerbstätigkeit von Müttern
Zuordnung der Antworten zu einem traditionellen oder egalitären Rollenbild
Zustimmung
Ablehnung
Ein Kleinkind wird sicherlich darunter leiden, wenn seine Mutter berufstätig ist.
traditionell
egalitär
Eine berufstätige Mutter kann ein genauso herzliches und vertrauensvolles Verhältnis zu ihren Kindern finden wie eine Mutter, die nicht berufstätig ist.
egalitär
traditionell
Es ist für ein Kind sogar gut, wenn seine Mutter berufstätig ist und sich nicht nur auf den Haushalt konzentriert.
egalitär
traditionell
Quelle: Michael Blohm, Jessica Walter (2018), Darstellung angepasst
Abbildung 8 stellt den Anteil egalitärer Ansichten ost- und westdeutscher Frauen und Männer zu den Folgen der Erwerbstätigkeit von Müttern für ihre Kinder bzw. für ihr Verhältnis zu ihren Kindern dar. Klar zu erkennen sind die deutlichen Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen und die enorme Zunahme egalitärer Einstellungen bei westdeutschen Männern ab 2004.
Im ersten Jahr nach der deutschen Einigung (1991) vertraten 74 Prozent der Ostdeutschen, aber nur 43 Prozent der Westdeutschen die Ansicht, dass die Erwerbstätigkeit von Müttern nicht mit negativen Folgen für ihre Kinder verbunden sei. Von 1991 bis 2016 verringert sich der Abstand zwischen Männern in Ost- und Westdeutschland von 33 auf drei Prozent. Erkennbar wird damit eine deutlich stärkere Angleichung als zwischen dost- und westdeutschen Frauen, wo sich der Abstand von 28 auf sieben Prozent reduziert. 2016 vertreten 88 Prozent der westdeutschen Frauen und Männer sowie 91 Prozent der ostdeutschen Männer und 95 Prozent der ostdeutschen Frauen egalitäre Ansichten zur Erwerbstätigkeit von Müttern.
2014 empfinden 69 Prozent der westdeutschen Mütter, dass sie sich rechtfertigen müssen, weil sie trotz kleinem Kind einer Vollzeitbeschäftigung nachgehen. Demgegenüber sagen 65 Prozent ostdeutscher Mütter, dass sie einen solchen Rechtfertigungsdruck nicht kennen.
Gelebte Geschlechterrollen: Hausarbeit, Kinderbetreuung und Pflege
Unbezahlte Arbeit in der Familie und hier insbesondere im Haushalt, bei Kinderbetreuung und Pflege, wird in Deutschland – offenbar unabhängig vom Geschlechterrollenverständnis – hauptsächlich von Frauen übernommen, und dies sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland. So tragen Frauen den Hauptanteil der Arbeit im Haushalt, sind stärker in die (Enkel-) Kinderbetreuung eingebunden und stellen auch den größten Anteil der pflegenden Angehörigen. In Ostdeutschland findet sich zwar in der Hausarbeit eine größere Aufgabenteilung zwischen den Geschlechtern, aber auch hier sind Frauen stärker eingebunden als Männer.
Die Einführung des Elterngeldes hat zu einer weiteren Egalisierung der Rollenbilder von Männern und Frauen geführt. Es ist selbstverständlicher geworden, dass Mütter kleiner Kinder mehr als nur geringfügig erwerbstätig sind und Väter sich umgekehrt stärker in der Kinderbetreuung engagieren, in Teilzeit arbeiten oder die Elternzeit nehmen.
Ausblick
Nach wie vor unklar ist, in welche Richtung sich das Geschlechterrollenverständnis nach seiner Ablösung vom traditionellen Modell entwickelt: hin zu einem tatsächlich gleichberechtigten Aufteilen der anstehenden Aufgaben zwischen den Geschlechtern mit einer gewissen, von der jeweiligen Lebenssituation abhängigen Anpassungsdynamik? Oder geht es in Richtung einer neuen, jedoch wiederum geschlechtsspezifischen Aufteilung?
Aktuell zeigt sich, dass stark verändernde Lebensereignisse wie z.B. die Geburt vor allem des ersten Kindes zu einer "Retraditionalisierung" führen, die sich zwar auf der Verhaltensebene zeigt, indem die Mutter nach der Geburt des Kindes zu Hause bleibt, jedoch nicht eine Einstellungsveränderung im Geschlechterrollenverständnis bewirkt. Gleichzeitig konstatieren die Autoren der Studie "25 Jahre Deutsche Einheit" eine hohe Gleichstellungsdynamik in Westdeutschland und sehen Anzeichen für eine Teil-Retraditionalisierung ostdeutscher Frauen. Die hat mit nachteiligen Erfahrungen auf dem gesamtdeutschen Arbeitsmarkt in der Zeit seit der Wiedervereinigung zu tun und gleichzeitig mit forcierten Rollendurchsetzungsansprüchen ostdeutscher Männer.
Erwerbstätigkeit gewinnt zunehmend an Bedeutung und dies nicht nur mit dem Ziel der ökonomischen Absicherung. Die Gestaltung des eigenen Lebens ist gegenwärtig für die Mehrzahl der Frauen in Ost- wie Westdeutschland untrennbar mit einer eigenen Erwerbstätigkeit verbunden, die neben der finanziellen Unabhängigkeit vielfältige Aspekte der Selbstverwirklichung und des Lebenssinns umfasst.
ist Mitarbeiterin am Zentrum für Sozialforschung Halle e.V. (ZSH). Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören lokale Governance, Bürgerarbeit (Evaluation des 1. Flächenversuches in Bad Schmiedeberg) und Vereinbarkeit von Beruf und Familie, insbesondere Beruf und Pflege
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