Einleitung
Am 24. August 1961, elf Tage nach der Abriegelung der Sektorengrenzen mit Stacheldraht und kurz nach der Errichtung der ersten Teilstücke der Berliner Mauer aus Hohlblocksteinen, peitschen im Grenzbereich nahe der Charité und unweit des Reichstagsgebäudes Schüsse auf. Transportpolizisten haben von einer S-Bahn-Brücke aus einen jungen Mann entdeckt, der durch den Humboldthafen nach West-Berlin flüchten will. Er hat das westliche Ufer fast erreicht, als ein Grenzposten eine Salve aus seiner Maschinenpistole auf den wehr- und schutzlosen Schwimmer abfeuert. Von einer Kugel in den Hinterkopf getroffen, versinkt er im Kanal. Am frühen Abend wird er tot aus dem Wasser gezogen. Günter Litfin ist der erste Flüchtling, der an der Mauer erschossen wird. Er ist 24 Jahre alt.
Fast 28 Jahre danach, in den späten Abendstunden des 5. Februar 1989, nähern sich zwei junge Männer den Sperranlagen am Britzer Zweigkanal, der an der Sektorengrenze zwischen Treptow und Neukölln liegt. In der Annahme, der Schießbefehl an der Grenze sei ausgesetzt und hoher Staatsbesuch in Ost-Berlin eine günstige Voraussetzung für eine erfolgreiche Flucht, versuchen die beiden, die Sperranlagen zu überwinden. Den letzten Grenzzaun vor Augen, werden sie von Wachposten entdeckt und aus zwei Richtungen unter Beschuss genommen. Auch ein letzter Versuch, den Zaun zu überklettern, scheitert. Die jungen Männer müssen aufgeben. Mit dem Rücken zum Grenzzaun stehend, wird der 21-jährige Chris Gueffroy aus 40 Metern Entfernung gezielt mit Einzelfeuer beschossen. Ein Schuss trifft ihn direkt ins Herz. Er stirbt innerhalb weniger Minuten.
Litfin und Gueffroy sind der erste und der letzte Flüchtling, die durch Schüsse von Grenzposten an der Mauer getötet wurden.
Schießbefehl
Der Schießbefehl auf Flüchtlinge war neben schwer überwindbaren Sperranlagen und einer dichten Staffelung von Grenzposten der dritte und entscheidende Eckpfeiler des DDR-Grenzregimes. Von Beginn an hegte die SED-Führung keinen Zweifel daran, dass nur durch die Androhung des Todes - und in letzter Konsequenz die Tötung - eine ausreichend abschreckende Wirkung zu erzielen war, um die massenhafte Flucht der Bevölkerung dauerhaft zu unterbinden und so den Fortbestand des Regimes zu sichern.
Bereits am 22. August 1961 beauftragte das SED-Politbüro den ZK-Sekretär für Propaganda, Albert Norden, bei der Nationalen Volksarmee (NVA) und der Volkspolizei (VP) zu veranlassen, dass von Gruppen, Zügen und Kompanien schriftliche Erklärungen darüber abgegeben würden, "dass jeder, der die Gesetze unserer DDR verletzt - auch wenn erforderlich - durch Anwendung der Waffe zur Ordnung gerufen wird".
"Grenzverletzer sind festzunehmen oder zu vernichten": Mit diesem mündlichen Befehl wurden die Grenzsoldaten bis in die 1980er Jahre täglich in den Todesstreifen geschickt. Überall an der Grenze, so Honecker 1974 - inzwischen SED-Generalsekretär und Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates der DDR -, müsse "ein einwandfreies Schussfeld gewährleistet werden"; nach wie vor "muss bei Grenzdurchbruchsversuchen von der Schusswaffe rücksichtslos Gebrauch gemacht werden, und es sind die Genossen, die die Schusswaffe erfolgreich angewandt haben, zu belobigen". An diesen Bestimmungen, fügte er noch hinzu, werde sich "weder heute noch in Zukunft etwas ändern".
"Bearbeitung von Leichenvorgängen"
In vielen Fällen wurden an der Mauer Menschen erschossen, die ihren Fluchtversuch erkennbar aufgegeben hatten und verzweifelt einen Weg zurück aus dem Grenzgebiet suchten. Und nicht wenige wurden getötet, die gar nicht fliehen wollten. Es ist kein einziger Fall bekannt, in dem die politische und militärische Führung der DDR ihre Befehle und Vorschriften bzw. später das Grenzgesetz so ernst genommen hätte, dass Ermittlungen gegen Todesschützen eingeleitet worden wären, um die Rechtmäßigkeit des Schusswaffeneinsatzes zu prüfen. Im Gegenteil: Die Grenzsoldaten wurden für Tötungen in aller Regel ausgezeichnet und belohnt: mit der "Medaille für vorbildlichen Grenzdienst", mit Geld- und Sachgeschenken und mit Beförderungen.
Anstelle der Todesschützen gerieten die Getöteten und ihre Angehörigen ins Visier und die Fänge der DDR-Untersuchungsorgane. Denn so sehr die SED-Führung das Töten billigend in Kauf nahm, war ihr doch stets auch bewusst, dass Gewalttaten an der Grenze im Westen polizeilich registriert und von der Staatsanwaltschaft bearbeitet wurden und dass die Zentrale Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen in Salzgitter alle bekannt werdenden Fälle in strafrechtlicher Hinsicht untersuchte und dokumentierte. Schüsse an der Mauer erhöhten zudem den Misskredit des SED-Regimes in beiden Teilen Deutschlands und waren der internationalen Reputation der DDR und ihrer sowjetischen Vormacht abträglich. Oberstes Ziel war es deshalb, Todesfälle an der Grenze wann immer möglich zu verheimlichen und zu verschleiern. Politische Schadensvermeidung war gemeint, wenn es im Zusammenhang mit der Tötung des Flüchtlings Michael Bittner an der Mauer im November 1986 in einem Bericht des Ministerium für Staatssicherheit (MfS) heißt: "Die politische Sensibilität der Staatsgrenze zu Berlin (West) machte die Verschleierung des Vorkommnisses notwendig. Es musste verhindert werden, dass Gerüchte über das Vorkommnis in Umlauf geraten bzw. dass Informationen dazu nach Westberlin oder [in die] BRD abfließen."
Um eine weitgehende Geheimhaltung bei Schüssen und erst recht von Erschießungen zu gewährleisten, war die "Bearbeitung von Leichenvorgängen, soweit es sich um Vorkommnisse an der Staatsgrenze zu Westberlin handelt",
Nach der Ankunft im Krankenhaus oder bei der Gerichtsmedizin übernahm die Staatssicherheit die Regie - zuständig waren die Untersuchungsabteilungen ("Linie IX") der beiden Bezirksverwaltungen in Berlin und Potsdam und in besonders wichtigen Fällen die Hauptabteilung (HA) IX der MfS-Zentrale. Verletzte Flüchtlinge wurden im VP-Krankenhaus in Isolierzimmern abgeschirmt, bewacht und sobald als möglich ins MfS-Haftkrankenhaus oder in die Stasi-Untersuchungsgefängnisse in Berlin oder Potsdam überführt. Über die Toten hatte das MfS die alleinige Verfügungsgewalt: Sie übernahm deren Hab und Gut, Effekten und Asservate; im Fall von Christian Buttkus nahm sie selbst die bei der Obduktion entfernte tödliche Kugel an sich und archivierte sie. Die Stasi allein bestimmte den Umgang mit der Leiche: angefangen von der Obduktion über die Ausstellung des Totenscheins, die Beantragung der Anlegung eines "Leichenvorganges" bei der Abteilung I A (politische Straftaten) des Generalstaatsanwaltes, die Führung der Staatsanwaltschaftsakte, die Entgegennahme des Obduktionsergebnisses, die Ausstellung der Sterbeurkunde im Standesamt Berlin-Mitte, die Entgegennahme des Bestattungsscheines, bis hin zur Überführung und Verbrennung der Leiche, die in der Regel im Krematorium Baumschulenweg stattfand. Gegenüber all diesen Einrichtungen - und auch gegenüber den Angehörigen - hatte sich der verantwortliche MfS-Mitarbeiter mit falscher Identität "als im Auftrage der Generalstaatsanwaltschaft von Groß-Berlin handelnder VP-Angehöriger" auszugeben.
Die Grenztruppen schrieben über jeden Fluchtvorgang Meldungen und Berichte. Bei Todesfällen landeten diese gewöhnlich auch auf dem Schreibtisch von Honecker. Ihre weiteren Untersuchungen konzentrierten sich auf die Beseitigung von Schwachstellen im Grenzsicherungssystem, die den Fluchtversuch begünstigt haben konnten. Die eigentliche Tatortuntersuchung, die Sicherung von Spuren und Beweismitteln sowie die Befragung und Vernehmung von Zeugen einschließlich der beteiligten Grenzsoldaten, oblag federführend den MfS-Abteilungen IX in Berlin und Potsdam, insbesondere deren "Spezialkommissionen", die dabei eng mit einer weiteren Stasi-Linie, der HA I, kooperierten.
Es sei "nicht ratsam, sofort mit der Tür ins Haus zu fallen", heißt es in der "Ordnung für die Bearbeitung von Leichenvorgängen" des MfS. Bei der noch unwissenden Witwe, dem Vater oder der Mutter zunächst mit einem allgemeinen Gespräch zu beginnen, "könne noch manchen wertvollen Hinweis zum Grenzverletzer ergeben".
Durch ihre Teilnahme an fast allen Beisetzungen nahmen MfS-Mitarbeiter selbst dem Abschied von den Toten noch die Privatheit; sie überwachten die Predigten und beschatteten die Trauernden. Im Gespräch mit den Angehörigen sei zu erreichen, "dass über das Vorkommnis nichts an die Öffentlichkeit dringt, wobei geeignete Momente aus den Ermittlungsergebnissen zur Erreichung dieses Zieles geschickt ausgenutzt werden (moralisch verkommene Personen, kriminell Angefallene u.ä.)". Was genau den Angehörigen über die Ursachen des Todes mitgeteilt werde, sei vom Ergebnis der Ermittlungen abhängig - vor allem davon, was bereits über "westliche Organe und Propaganda, Verletzte und Festgenommene, andere DDR-Bürger" über das "Vorkommnis" an die Öffentlichkeit gedrungen sei.
Viele Todesfälle wurden der Öffentlichkeit und den Angehörigen aus den verschiedensten Gründen bekannt. In mehr als 30 Fällen wurden Familienangehörige jedoch - zumeist ohne Angabe der genauen Umstände - zwar über den Tod informiert, aber zum Schweigen oder zum Lügen gegenüber Dritten verpflichtet oder aber schlicht über die Todesursachen belogen:
Die Mütter von Hans Räwel und Walter Hayn wurden informiert, ihre Söhne seien ertrunken. In Wirklichkeit waren beide bei Fluchtversuchen erschossen worden: Räwel am 1. Januar 1963, Hayn am 27. Februar 1964. Weil dessen Angehörige der ihnen mitgeteilten Version keinen Glauben schenken wollten, wurde ihnen angedroht, "dass sie sich strafbar machten, wenn sie über diese Angelegenheit Gerüchte in Umlauf" setzten.
Die Eltern von Joachim Mehr, der bei einem Fluchtversuch am 3. Dezember 1964 erschossen wurde, wurden darauf verpflichtet, den Tod ihres Sohnes nach außen als "Verkehrsunfall" auszugeben - ebenso die Witwe von Klaus Garten, die Angehörigen des Ehepaares Weckeiser, von Klaus-Jürgen Kluge, von Christian Peter Friese und vielen anderen bis hin zur Ehefrau und den Eltern von Lutz Schmidt.
In einigen Fällen wurden falsche Todesumstände konstruiert und Beweismittel wie Leichenfundberichte, Totenscheine und Sterbeurkunden gefälscht:
Der 10-jährige Jörg Hartmann und der 13-jährige Lothar Schleusener wurden bei einem gemeinsamen Fluchtversuch am 14. März 1966 in Treptow erschossen. Der Großmutter von Jörg wurde erzählt, ihr Enkel sei ertrunken und mit Schiffsschraubenverletzungen in Köpenick geborgen worden. Der Mutter von Lothar wurde weisgemacht, ihr Sohn sei in Espenhain bei Leipzig durch einen Stromschlag verunglückt. Eine gefälschte Sterbeurkunde des Standesamtes Leipzig sollte dies beglaubigen.
Getarnt als Kriminalpolizisten unterrichteten MfS-Mitarbeiter die Familienangehörigen darüber, dass Johannes Sprenger am 20. Mai 1974 stranguliert in einem Waldstück nahe des Klinikums Buch aufgefunden worden sei: ein "einwandfreier Selbstmord", wie sie sagten. Tatsächlich war Sprenger zehn Tage zuvor an der Sektorengrenze zwischen Treptow und Neukölln erschossen worden.
Herbert Halli, so wurde dessen Angehörigen mitgeteilt, sei stark alkoholisiert in eine Baugrube nahe der tschechoslowakischen Botschaft gestürzt und dort am 4. April 1975 ohne Ausweis tot aufgefunden worden. Die durchgeführten Untersuchungen hätten ergeben, dass er ohne Fremdeinwirkung ums Leben gekommen sei. Tatsächlich war er am Tag zuvor bei einem Fluchtversuch in der Nähe der Wilhelmstraße in Berlin-Mitte erschossen worden.
In mindestens elf Fällen wurde der Tod selbst auf Nachfrage nicht bestätigt und die Namen von Todesopfern - obwohl der Stasi bekannt - geheim gehalten.
Aufhebung des Schießbefehls, der nie existierte
Die Wahrheit über die Todesumstände ihrer Angehörigen erfuhren viele Familien oft erst in den 1990er Jahren nach der Öffnung der DDR-Archive und im Zuge der strafrechtlichen Aufarbeitung der Gewalttaten an der Grenze. In den Strafverfahren wegen der Todesschüsse gegen Flüchtlinge bestritten die Mitglieder der ehemaligen politischen und militärischen Führung der DDR vehement, dass es jemals einen Schießbefehl gegeben habe. Formaljuristisch betrachtet musste ihnen Recht gegeben werden, denn die Gesetze, Dienstvorschriften und Befehle zum Schusswaffengebrauch begründeten lediglich, so auch die Strafgerichte, einen "Erlaubnistatbestand", nicht jedoch die Verpflichtung zum Todesschuss.
Doch politische Strafgesetze, die Fluchtversuche unter bestimmten Bedingungen als Verbrechen definierten, eine Ideologie, welche die jungen Soldaten zum bedingungslosen Hass auf den Feind erzog, sowie Belobigungen und Prämien für Todesschützen rückten die "Erlaubnis" nahe an die Pflicht. Passte es dagegen der SED-Führung politisch nicht ins Konzept, dass an der Grenze geschossen wurde - etwa im Umfeld von Staatsbesuchen -, wurde der Schießbefehl für eine kurze Periode außer Kraft gesetzt, so beim Besuch von Bundeskanzler Helmut Schmidt in der DDR im Dezember 1981.
Vor 1990 schreckten Mitglieder der SED-Führung, waren sie ganz unter sich, nicht davor zurück, den Schießbefehl beim Namen zu nennen. "Der Schießbefehl wird natürlich nicht aufgehoben", tönte etwa Stasi-Minister Erich Mielke im engsten Kreis bei der Vorbereitung von Sicherheitsmaßnahmen für die Weltjugendfestspiele 1973 in Ost-Berlin. Und Honecker gab dem Ständigen Vertreter der Bundesrepublik in Ost-Berlin, Hans Otto Bräutigam, am 19. Dezember 1988 bei dessen Verabschiedung mit auf den Weg, Verteidigungsminister Heinz Keßler habe kürzlich erklärt, "dass es keinen Schießbefehl (mehr) gebe. (...) Wenn jetzt noch Schüsse fallen, dann seien es Warnschüsse."
Es waren jedoch keine Warn-, sondern Todesschüsse, die Chris Gueffroy sieben Wochen später, am 5. Februar 1989, ins Herz trafen. Dem Proteststurm, der danach losbrach, war die SED-Führung politisch nicht mehr gewachsen. Unter massivem Druck der Sowjetunion hatte die DDR Mitte Januar 1989 das Wiener KSZE-Abkommen unterzeichnet. Darin ging sie die Verpflichtung ein, das Recht eines jeden auf Ausreise aus jedem Land, darunter seinem eigenen, und auf Rückkehr in sein Land uneingeschränkt zu achten. Die Sowjetunion ging auf Distanz zum Schießbefehl ihres Verbündeten; die westlichen Staaten hatten ein Instrument, um die DDR auf die Anklagebank zu setzen, und die DDR-Führung fürchtete, ihre Kreditwürdigkeit gegenüber dem Westen zu verlieren.
In dieser Situation hob Honecker klammheimlich den Schießbefehl, der angeblich nie existiert hatte, auf. "Lieber einen Menschen abhauen lassen, als in der jetzigen politischen Situation die Schusswaffe anzuwenden", ließ der Generalsekretär seinen verblüfften Militärs verbindlich ausrichten.
Mielke machte aus seiner menschenverachtenden Haltung auch Wochen später auf einer Dienstkonferenz keinen Hehl: "Ich will euch überhaupt mal etwas sagen, Genossen", vertraute er seinen leitenden Mitarbeitern Ende April 1989 an, "wenn man schon schießt, dann muss man das so machen, dass nicht der Betreffende noch wegkommt, sondern dann muss er eben dableiben bei uns. (...) Was ist denn das: Siebzig Schuss loszuballern und der rennt nach drüben und die machen eine Riesenkampagne?" Nur widerwillig beugte sich der Stasi-Chef der neuen, für ihn schlimmen Zeit: "Wo noch etwas mehr revolutionäre Zeiten waren, da war es nicht so schlimm. Aber jetzt, nachdem alles so neue Zeiten sind, muss man den neuen Zeiten Rechnung tragen."
An die Gestaltung eines politischen Systems, das die Mauer überflüssig gemacht hätte, war kein Gedanke verschwendet worden. Pläne der Grenztruppen von 1988/1989 für den "weiteren pionier- und signaltechnischen Ausbau der Staatsgrenze der DDR zur BRD und zu Berlin (West) in den Jahren 1991 bis 1995/2000" stellten dementsprechend nicht darauf ab, die Grenzsicherung zu lockern, sondern lediglich "die Ansatzpunkte zur Hetze gegen die DDR für den Gegner" durch den Einsatz moderner elektronischer Technik zu verringern.
aus: Aus Politik und Zeitgeschichte, 31-34/2011, 50 Jahre Mauerbau