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50 Jahre Deutschlandfunk, 5 Fragen an das Radio im digitalen Zeitalter | Presse | bpb.de

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50 Jahre Deutschlandfunk, 5 Fragen an das Radio im digitalen Zeitalter Eröffnungsrede von Thomas Krüger zum 50. Jahrestag des Deutschlandfunk-Sendestarts am 6. Januar 2012 in Köln

/ 5 Minuten zu lesen

Am 1. Januar 1962 um Punkt 16 Uhr nahm der Deutschlandfunk seinen Sendebetrieb in Köln auf, um – so wörtlich – "die entpolemisierte und entgiftete Wahrheit über Deutschland in den Osten" zu transportieren. Nun wird diese Instanz der deutschen Mediengeschichte 50 Jahre alt.

Sehr geehrter Herr Dr. Steul, meine sehr verehrten Damen und Herren,

das Radio, so wird gern von der Marktforschung behauptet, habe sich in Deutschland längst zum "Nebenbei-Medium" entwickelt, also zu einem Medium, das mal eben nebenbei konsumiert wird – zum Beispiel im Büro oder bei der Hausarbeit. Das trifft vor allem auf das so genannte Formatradio zu: Hier ist das gesprochene Wort eher sparsame Beigabe, die massentauglichen "Top-Hits der 80er und 90er Jahre" dominieren als eher lästiges Hintergrundgeräusch – einen journalistischen Anspruch sucht der Zuhörer dort meist vergeblich.

Der Deutschlandfunk ist und war für mich als Kind der DDR, das die ersten 30 Jahre seines Lebens die "staatsmonopolistische Ideologie" dieses Systems ertragen musste, schon seiner Entstehungsgeschichte wegen immer das genaue Gegenteil: Kein Nebenbei-Medium, sondern ein Dabei-Medium. Und ein Leitmedium, das nur wenige Monate nach dem Baubeginn der Berliner Mauer eine Funk-Brücke über Betonplatten und Stacheldraht hinweg in die DDR bildete und diese bis zum Ende 1989 hielt. Die Stimmen der Altvorderen Karl Wilhelm Fricke und Harald Kleinschmidt klingen mir noch heute vertraut in den Ohren.

Am 1. Januar 1962 um Punkt 16 Uhr nahm der Deutschlandfunk seinen Sendebetrieb in Köln auf, um – so wörtlich – "die entpolemisierte und entgiftete Wahrheit über Deutschland in den Osten" zu transportieren, wie es Hermann Franz Gerhard Starke, Gründungsintendant des Deutschlandfunks und späterer Chefredakteur der Zeitung "Die Welt", den Zuhörern erklärte. Starke war es auch, der im Anschluss an diese historische Nachrichtensendung folgende Worte sprach, die vermutlich nicht nur mir im Gedächtnis haften geblieben sind:

"Die dem Deutschlandfunk gestellte Aufgabe ist nicht in erster Linie die der Unterhaltung und Zerstreuung – obwohl wir uns redlich bemühen werden, auch Ihnen die Entspannung zu geben, die Sie in Anbetracht der Schwere und Härte Ihres Daseinskampfes dringend brauchen. Der Deutschlandfunk ist aber auch kein Kampfsender in dem Sinne, dass Polemik oder gar Agitation wie bei den Sendern des Ostens sein Wesenselement bilden."

Nun wird dieser Radio-Klassiker, diese Instanz der deutschen Mediengeschichte 50 Jahre alt – und ist damit zehn Jahre jünger als die Bundeszentrale für politische Bildung, die in diesem Jahr ihren 60. Geburtstag feiert. Nach wie vor ist das jüngere Geburtstagskind, der Deutschlandfunk, ein ebenso wegweisendes wie verbindendes Vorbild.

Was beim Deutschlandfunk verbindet, sind in der Tat weder "Unterhaltung und Zerstreuung" noch "Agitation und Polemik". Es sind bis heute die schnörkellosen Informationen, welche den publizistischen Wert und die journalistische Güte des Programms ausmachen.

Das aus meiner Sicht tragende Verbindungselement des Hörfunks ist der Wortanteil des Programms: Der Deutschlandfunk ist das, was Jugendliche heutzutage wohl respektvoll ein "voll krass fettes Checker-Medium" nennen würden – also, frei übersetzt, eine angesehene Einrichtung, die den Hörern einen echten Wissensvorsprung ermöglicht.

Doch dürfen die Senderverantwortlichen und redaktionellen Macherinnen und Macher der Wortprogramme nicht übersehen, dass das Internet dabei ist, dem Hörfunk als Institution der gesellschaftlichen Wissensvermittlung und der politischen Willensbildung den Rang abzulaufen. Er ist daher mit einem akuten Problem konfrontiert, nämlich dem, den Bedürfnissen und Interessen vor allem junger Menschen im digitalen Zeitalter gerecht zu werden. In der Mediennutzung hat der Hörfunk bei jüngeren Zielgruppen erhebliche Einbußen hinnehmen müssen.

Mir brennen daher fünf Fragen unter den Nägeln, die auch für die Zukunft des Deutschlandfunks entscheidend sein könnten und die ich Ihnen gerne als Impuls für die anschließenden Diskussionen dieser Veranstaltung mit auf den Weg geben möchte:

  1. Wie kann das Radio den Erwartungen und Wünschen junger Mediennutzer entgegenkommen, ohne sich von seiner Kernbestimmung – dem sinnlich-reflektierten Hörerlebnis – zu entfremden?

  2. Wie kann der Hörfunk in Zeiten der Allgegenwart von (Mobil-)Bildschirmen seine Rolle als seriöses Dabei-Medium behaupten, ohne zum kommoden unterhaltenden Nebenbei-Medium zu verkommen?

  3. In welcher Weise kann das Radio angesichts der rasanten technischen Entwicklung seine Multimedia-Präsenz ausbauen und zugleich seine Identität als journalistisches Medium bewahren?

  4. Wie kann sich der Hörfunk als authentisches Live-Medium bei Bundestagsdebatten, Sport-Events, Staatsakten, Krisen oder Katastrophen trotz der Einsparung von Reportern weltweit behaupten?

  5. Wie kann das Radio unter aktiver Beteiligung seiner Hörer und Nutzer zum sozial-kulturellen Mitmach-Medium sowie zum Ort mit politisch-öffentlicher Qualität in der digitalen Medienwelt gedeihen?

Dies sind nur einige wichtige Fragen, die mir derzeit zur Bedeutung des Hörfunks in der Internet-Ära einfallen. Es geht mir übrigens nicht darum, die Vor- und Nachteile einzelner Medien gegeneinander auszuspielen – ich glaube vielmehr, dass alle Kanäle – ob Zeitung, Fernsehen, Internet oder Radio – weiterhin ihre Existenzberechtigung haben werden.

Vor allem das Internet ist aber ein zentraler Kommunikations- und Ausspielkanal – das haben zuletzt vor allem die Mobilisierung der Proteste der Occupy-Bewegung über Facebook, aber auch die Twitter-Meldungen von den bürgerlichen Revolutionen in Nordafrika Anfang 2011 eindrücklich bewiesen. Als sich die Postings und Tweets der sozialen Medien überschlugen, hatte das Radio als Nachrichtenmedium – im wahrsten Sinne – das Nachsehen. Auch beim Atomunfall im japanischen Fukushima entzogen die Bilder der Katastrophe im Fernsehen und im Internet dem gesprochenen Wort die Aussagekraft. Letztlich lösten die Neuigkeiten vom Tod des Terroristenführers Osama bin Laden oder des Diktators Muammar al-Gaddafi bei vielen Menschen den Reflex aus, nach näheren Informationen und Bildmaterial im Netz zu fahnden.

Dennoch empfinde ich diese Beispiele nicht als Bedrohung für den Radiojournalismus, denn ich glaube, dass die kolportierte Sensation oder der vermeintliche Skandal die einordnende Analyse regelmäßig überstrahlt. Es kommt dabei immer wieder vor, dass die Abhängigkeit von Bildern bei manchen hochgekochten Ereignissen in den Medien derart groß ist, dass die Macht der Ikonografie das eigentliche Geschehen überformt.

Das Radio hat gerade in solchen Situationen den entscheidenden Vorteil, sich gerade nicht auf die Überspanntheit und Nervosität anderer Medien einlassen zu müssen. Zumal in Krisenzeiten bewahren Radiomacher in der Regel einen kühlen Kopf – das Hörmedium erweist sich dabei oft als angenehm unaufgeregt. Das Radio erscheint mir daher vor allen bei Skandal- und Krisenthemen ein verlässlicher Anker für ausgewogenen, tiefgründigen und ausgeruhten Journalismus zu sein.

Hinzu kommt aber auch, dass der Hörfunk im Netz ja inzwischen ebenso vielfältig wie breit vertreten ist – mit Programmvorschauen, Live-Streams, Podcasts zum Nachhören, Audio-Slideshows und Social Media Applikationen, zumindest bei den öffentlich-rechtlichen Stationen. Natürlich ist das Radio auf dem Computerbildschirm nicht mehr so, wie wir es seit Jahrzehnten kannten – sondern ein Medium, das sich mit den digitalen Kanälen weiterentwickelt hat.

Zum Schluss daher noch ein Appell: Der Hörfunk hat für mein Dafürhalten das unübersehbare Potenzial, Medium des Volkes zu sein – die Stimme der Bürger, der Wähler, der Verbraucher, der Studenten, der Gewerkschafter und Rentner. Dies gelingt allerdings nur, wenn sich das Radio auf seine Authentizität der Anfangszeit besinnt, gerade auch bei kurzlebigen Nachrichtenereignissen seriös zu informieren und verlässlich einzuordnen. Das Radio bleibt, wenn es diesen Test besteht, auch in Zukunft ein unverzichtbares Informationsmedium, das sich trotz verschärfter Medienkonkurrenz behauptet.

In diesem Sinne wünsche ich uns allen eine lebhafte Diskussion über den "Ort des Politischen in der digitalen Medienwelt" und die Rolle des Radios darin.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit!

- Es gilt das gesprochen Wort -

Fussnoten