Sehr geehrte Damen und Herren,
ich freue mich sehr, Sie alle hier zu dieser Tagung in Berlin begrüßen zu dürfen. In dem sehr umfangreichen Programm der nächsten zweieinhalb Tagen werden verschiedene Aspekte des Antisemitismus beleuchtet und insbesondere antiisraelische Obsessionen im Fokus stehen.
Wir sprechen heute, ein halbes Jahr nach den schrecklichen Terrorangriffen der Hamas auf Israel, in einer völlig anderen Situation darüber, als vor dem 7. Oktober 2023. Mit ihrer eindeutigen, in den Worten Dan Diners „genozidalen Botschaft“ waren die Hamas-Angriffe ein brutales Alarmsignal, das uns seitdem alle – teilweise sehr persönlich – beschäftigt und das auch die politische Bildung vor große Herausforderungen stellt.
Wenn wir in diesen Tagen über israelbezogenen Antisemitismus sprechen, kommen wir nicht drumherum, über die dramatische Lage vor Ort zu sprechen. In den Debatten über die Ereignisse erleben wir in Deutschland zuweilen eine Vehemenz und Unversöhnlichkeit, die den Austausch von Argumenten, das Zuhören derjenigen, die eine andere Meinung vertreten oder unterschiedlich von den Ereignissen betroffen sind, verunmöglicht wird und der Dialog oftmals keine Chance hat.
Als Bundeszentrale für politische Bildung nehmen wir den wachsenden Antisemitismus bereits seit Jahren mit Sorge wahr und sehen uns in unserem Bildungsauftrag bestärkt. Gleichzeitig stellen wir fest, dass in der Präventionsarbeit zu Antisemitismus der Schwerpunkt lange Zeit auf die historische Auseinandersetzung mit dem NS-Regime und dessen terroristischen Antisemitismus gelegt wurde. Dies ist auch weiterhin zwingend notwendig – aber nicht hinreichend. Es ersetzt die spezifische Auseinandersetzung mit den aktuell dominanten Spielarten des Antisemitismus, darunter dem israelbezogenen Antisemitismus, nicht. Denn antisemitische Verhaltensweisen und Meinungen haben seit 1945 wesentliche Änderungen in Ausdruck und Funktion durchlaufen und treten meist chiffriert auf. Darüber hinaus müssen wir in einer veränderten politischen Weltlage und in neuen gesellschaftlichen Verhältnissen agieren. Während historisch-politische Bildungsangebote zu Antisemitismus insbesondere im 20. Jahrhundert und die Aufklärung über die Shoah weiterhin zentral bleiben, müssen wir uns parallel verstärkt den Erscheinungsformen von Antisemitismus in der heutigen Welt stellen.
Um mit israelbezogenem Antisemitismus sensibel und informiert umzugehen, braucht es ein Grundverständnis des Nahostkonflikts sowie des Zionismus. Wir müssen im Jahr 2024 feststellen, dass dieses Grundlagenwissen in Deutschland oftmals fehlt. Nicht selten kommen in diesen Tagen Lehrerinnen und Lehrer verzweifelt auf uns zu, die das Thema mit ihren Schüler/-innen behandeln möchten und schlicht überfordert sind.
In unserer vielfältigen deutschen Gesellschaft haben sie mit Kindern und Jugendlichen aus den unterschiedlichsten Lebenswelten zu tun, die mit eigenen Perspektiven und oftmals Nicht-, Halb- oder auch Falschwissen auf das Thema Nahostkonflikt und Antisemitismus blicken. Hier ist es Auftrag der politischen Bildung, Beratung und Bildungsmaterialien anzubieten sowie Gesprächsräume zu öffnen.
Auch den jüngsten Vorschlag des Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung Felix Klein, einen Aktionstag an Schulen durchzuführen, begrüßen wir als bpb. Gleichzeitig sind wir überzeugt, dass es sinnvoll ist, antisemitismussensible Bildung in die pädagogische Ausbildung zu integrieren, um diesen klaffenden Wissenslücken langfristig zu begegnen und Orientierungshilfen für diese Zielgruppe zu bieten.
Antisemitismus kommt in unterschiedlichen Facetten vor und passt sich stets an neue Realitäten an. Bildungsarbeit gegen Antisemitismus sollte hinter diesen Befund nicht zurückfallen. Es wäre daher nicht ausreichend, die Arbeit gegen Antisemitismus nur in „klassischen“ pädagogischen Räumen und hauptsächlich in Schulen zu leisten. Vielmehr ist es notwendig, weitere Zielgruppen für die antisemitismuskritische Bildungsarbeit zu erreichen sowie Jugendlichen und Erwachsenen in ihren realen analogen und digitalen Lebenswelten zu begegnen: beispielsweise in der Arbeitswelt, im Stadtteil, in der Freizeit und immer mehr auch im Internet. Digitale Technik, Algorithmen und Soziale Medien durchdringen schon lange alle Lebensbereiche, und auch „Künstliche Intelligenzen“ verbreiten sich schnell. Wie meist in der Geschichte werden diese technischen Entwicklungen nicht nur von Hoffnungen, sondern zugleich von großen Befürchtungen begleitet. Was heißt es in mit Antisemitismus und auch Rassismus leider tief imprägnierten Gesellschaften, wenn „die Maschine“ von „uns“ lernt und andersherum? Nicht zuletzt für eine handlungsorientierte politische Bildung ist dies herausfordernd. Antisemitische und rassistische Diskurse, Praktiken und Politiken lassen sich kaum adressieren, ohne dabei auch ein Verständnis für Verbreitungswege „im Netz“ und Funktionsweisen der Algorithmen von Instagram, TikTok und Co. zu haben. Denn in sozialen Netzwerken kursieren antisemitische Inhalte nicht nur massiv, sie werden durch die plattformeigenen Dynamiken sogar noch befeuert (– darüber wird Dr. Deborah Schnabel von der Anne Frank Bildungsstätte morgen in einer Arbeitsgruppe sprechen). Wer hier etwas entgegensetzen oder kritisch begleiten möchte, muss zunächst wissen, was passiert, welche Akteur/-innen aktiv sind, muss herausfinden, wie erfolgreiche Gegenstrategien entworfen werden (können) – und wie man es schafft, dabei nicht von der Wirklichkeit überholt zu werden. Herausforderungen und Gelingensbedingungen politischer Bildung gegen Antisemitismus und Rassismus auch im digitalen Zeitalter sind zentral. Denn in diesem Feld werden nicht allein Fähigkeiten, Wissen und Werte vermittelt, sondern zugleich auch Grundlagen unseres zukünftigen Zusammenlebens ausgehandelt.
Es bedarf eigenständiger Reflexionen und Methoden, um die tiefergehenden und spezifischen Motivationen hinter Ressentiments gegenüber dem Staat Israel, bis hin zur Infragestellung des Existenzrechts, ob bewusst oder unbewusst, effektiv zu adressieren. Die unter anderem von Meron Mendel beklagte Empathielosigkeit der deutschen Gesellschaft gegenüber Israel könnte ihren Grund darin haben, dass latent judenfeindliche Ressentiments auf das – selbstverständlich, wie bei jedem Staat, kritisch zu diskutierende – Handeln des Staates Israel übertragen werden.
Als Institution der politischen Bildung sehen wir – seit dem 7. Oktober umso deutlicher – die unterschiedlichen Schwerpunkte von historisch-politischen und antisemitismuskritischen Bildungsansätzen. Angesichts der aktuellen Ereignisse in Israel sowie der enorm erhitzten und aggressiv geführten Debatten über diese müssen wir uns einmal mehr fragen, ob wir für israelbezogenen Antisemitismus verstärkt spezifische Bildungsangebote in den Blick nehmen sollten.
Mit diesen Fragen (mehr noch als Lösungen) möchte ich diese Tagung eröffnen und freue mich sehr auf Ihre Ansichten und Ihr Fachwissen dazu sowie auf die gemeinsame, erkenntnisreiche Diskussion.
Und mit diesen Worten gebe ich das Wort an Doron Kiesel.
Vielen Dank.