Sehr geehrte Damen und Herren,
in diesem Jahr feiern wir den 10. Jahrestag der Eröffnung des Denkmals für die rund 500.000 von den Deutschen während des Holocaust ermordeten Sinti und Sintizze, Roma und Romnja. Nach langer Vorbereitung wurde 2012 endlich, nach 20 Jahren der Planung und Vorbereitung, im Herzen der Hauptstadt prominent im Schatten des Reichstagsgebäudes ein Ort der Erinnerung an das Leid und die Verfolgung von Sinti und Roma realisiert. Der Eröffnung waren langwierige Debatten vorausgegangen. Auch die Diskussionen um den S-Bahn Ausbau im vergangenen Jahr – zu denen sich der Zentralrat klar positionierte – zeigen das Erfordernis einer fortwährenden Auseinandersetzung mit Denkmälern. Debatten über und um diese sind nie abgeschlossen. Dies gilt auch für erinnerungskulturelle Diskussionen. Gegenwärtig sind Denkmäler und die Geschichtspolitik oftmals Gegenstand von Interventionen der (gar nicht so) neuen und radikalen Rechten, die diese für ihre geschichtspolitischen Agenden nutzen.
Welche Relevanz haben Denkmäler wie das für die im Holocaust ermordeten Sinti und Roma als Orte der Demokratie für die Gesellschaft? Und wie sind die Diskursinterventionen der neuen und radikalen Rechten zu werten?
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir aus der Geschichte lernen können. Nicht unmittelbar vielleicht, nicht „eins-zu-eins“ – aber ohne Bewusstsein für das, was war, ist das, was ist, nicht zu verstehen. So kommt mir das Drama „Requiem for a Nun“ in den Sinn, in dem der amerikanische Schriftsteller William Faulkner seinen Protagonisten sagen lässt: „The past is never dead. It’s not even past.“ Denn nicht selten sagt die Art und Weise der Beschäftigung mit der Historie mehr über die Gegenwart aus als über tatsächlich Gewesenes. Es handelt sich bei diesen Debatten demnach um ein Spiegelbild der Gesellschaft, in der vor allem ganz gegenwärtige Themen verhandelt werden. Auch etwa, um den Blick zu weiten, wenn Kriegsdenkmäler aus dem Zweiten Weltkrieg im postsowjetischen Raum aufgrund des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine nun eingestampft werden.
Mit Blick auf Deutschland und insbesondere Berlin sind die Denkmäler in der Erinnerung an den Holocaust von besonderer Bedeutung. Dies spiegelt sich auch in den ungebrochenen Besuchszahlen im Corona-Jahr 2021 wider: Das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas besuchten in jenem Jahr (2021) über 285.000 Personen. So wichtig diese Form der öffentlichen Erinnerung und prominenten Sichtbarmachung ist, darf diese erfreulich hohe Zahl nicht zum Anlass genommen werden auch im Sinne der politischen Bildung im Status-quo zu verharren. Wie erreichen wir auch in Zukunft verschiedene Zielgruppen im Rahmen einer lebendigen Erinnerung an den Holocaust? Welche Resonanz haben Denkmäler und erinnerungspolitische Debatten in der Breite der Gesellschaft? Was ist der „Impact“ von Denkmalbesuchen, wenn er etwa zum Pflichtbesuch einer Schulklasse auf der Berlinreise gehört? Wie stellen wir außerdem sicher, dass Gedenken an Denkmälern sich nicht in vielfach kritisierten Ritualen erschöpft? Und wie verhindern wir, dass Denkmäler zu Instanzen des Vergessens werden, da sie den Besuchergruppen, so die Historikern Heidemarie Uhl, die „Last der Erinnerung“ nehmen?
Es ist nicht so, dass nur jede Generation ihren eigenen Zugang zur Geschichte sucht. Ich gehe davon aus, dass geschichtspolitische Interventionen tatsächlich viel häufiger geschehen. Beispiele dafür sind die aktuellen Debatten um den sogenannten Historikerstreit 2.0, die Fragen von postmigrantischen Perspektiven auf Erinnerung, oder auch, wie mit kolonialen Denkmälern, Statuen oder Straßennamen umzugehen ist, um nur drei aktuelle, kontrovers debattierte Beispiele zu nennen.
So ist der Umgang mit Geschichte und nationalen Denkmälern Spiegelbild nicht nur der Gesellschaft, sondern auch der Gegenwart. Sie zeigen auf, wie eine demokratische, sich immer weiter diversifizierende Gesellschaft die Vergangenheit deutet und welche Schlüsse sie für die Zukunft ziehen will. Denn: Demokratisches Erinnern kann nicht oktroyiert werden. Aus der Vergangenheit lassen sich auch nicht zwingend Orientierungen für die Zukunft ableiten.
Was jedoch möglich ist, ist die Sichtbarmachung und Anerkennung von Verbrechen. Zugleich dient Klaus-Michael Bogdal zufolge Erinnern „der Selbstvergewisserung und Zukunftsbewältigung“. Denkmäler in Berlin sind keine authentischen Orte des Verbrechens. Sie geben jedoch Auskunft über nationale Geschichtsbilder und kollektiver Erinnerung. Wenn im öffentlichen Raum an den Völkermord der Sinti und Sintizze, Roma und Romnja gedacht wird – der viel zu spät, erst 1982 öffentlich als solcher anerkannt wurde - spricht dies für den Stellenwert im Diskurs der Erinnerung und dass die schändlichen Taten nicht in Vergessenheit geraten. Denkmäler sind ein symbolischer Ort des Gedenkens, der Mahnung sowie der Botschaft: „Nie wieder!“ Denkmäler dienen, der Historikerin Karola Fings zufolge, jedoch auch dem Nachdenken sowie der Vergewisserung von Gedenktraditionen. Das Gedenken an den Völkermord sowie dessen Anerkennung musste mühsam erkämpft werden. Antiziganistische Kontinuitäten, fortwährende Stigmatisierung, ausbleibende Entschädigungen sowie die Bagatellisierung der Verbrechen an den Sinti und Sintizze, Roma und Romnja waren und sind traurige Realität. Gleichzeitig ist es wichtig Opferkonkurrenzen und Hierarchisierung mit anderen verfolgten Gruppen zu vermeiden.
Während staatliches Gedenken nicht verordnet werden kann, ist es gleichsam selbstverständlich, dass staatliche Akteure zentrale „Player“ in der Erinnerungslandschaft sind. Der Bundestag beschloss die beiden Denkmäler für die ermordeten Sinti und Roma sowie die Juden Europas. Die langwierigen Debatten zeigten jedoch auch, dass Denkmäler nicht nur politisch, sondern auch gesellschaftlich durchgesetzt und Mehrheiten gefunden werden müssen. Dabei gilt es die verschiedenen Interessen verschiedener Akteure zu berücksichtigen. Staatliche Erinnerungspolitik dient zudem der Repräsentation nationaler Geschichte, im Falle Deutschlands der Legitimation der eigenen Staatlichkeit (Stichwort Wiedervereinigung), und konstruiert nationale Identitäten. Hier geht es gerade für den Staat darum, wachsam zu sein und die Instrumentalisierung von Geschichte selbstkritisch zu begleiten.
Ja. Wir müssen uns als staatliche Institution selbstkritisch mit unserem Handeln auseinandersetzen, insbesondere, da ein Großteil der Finanzierung von Gedenkorten aus staatlichen Quellen gespeist wird. Deshalb ist es unabdingbar, dass die derzeit in Überarbeitung befindliche Gedenkstättenkonzeption des Bundes die „Unabhängigkeit der Gedenkstätten von politischen Weisungen“ wahrt. Und das sollte meines Erachtens auch so bleiben.
Die verschiedenen Akteure im Feld der Erinnerung, sei es staatliche, zivilgesellschaftliche Initiativen, Verbände, die Wissenschaft oder auch die Gedenkstättenpädagogik stehen in einem stetigen Aushandlungsprozess über das Wie der Erinnerung. Dennoch gehe ich davon aus, dass im Feld der Erinnerung ein Konsens über die Grenzen des machbaren und Sagbaren existiert, die jedoch durch rechte Akteure immer weiter verschoben werden. Gleichzeitig gehören zu einer demokratischen Erinnerungskultur plurale Geschichtsbilder, die in einer diversen Gesellschaft sicht- und hörbar sein sollten. Dabei geht es keineswegs um eine Vereinheitlichung von Geschichte. Vielmehr wissen wir von Hannah Arendt, dass eine gemeinsame Welt „überhaupt nur in der Vielfalt ihrer Perspektiven“ existiert.
Kontroverse Debatten um plurale Geschichtsbilder und Perspektiven sind zentraler Teil erinnerungspolitischer Konsensfindung in einer offenen Gesellschaft. Verschiedene Perspektiven in den geschichtspolitischen Kanon zu integrieren ist von demokratischer Bedeutung. Das Ziel der neuen und radikalen Rechten hingegen ist es, Erinnerung abzuwehren, Geschichte umzuschreiben bzw. Gedenkorte zu instrumentalisieren und letztlich die Grenzen des Sagbaren zu verschieben oder gar das kollektive Gedächtnis zu verändern. Unter „Rechten“ verstehe ich unterschiedliche Bewegungen, von gemeingefährlichen Neonazis über rechte Parteien bis zur sogenannten neuen Rechten. Diese unterscheiden sich bisweilen in ihrer Ideologie, auch wenn sie Schnittmengen aufweisen.
Wir müssen uns immer wieder bewusst machen, dass Geschichtspolitik und Erinnerung ein zentrales Politikfeld der Rechten ist. Geschichtspolitische Äußerungen sind dabei Teil einer Strategie, um Deutungshoheit und kulturelle Hegemonie im Sinne Antonio Gramscis zu erlangen. Also, einfach gesagt, der Versuch Ideen zu verändern, anschlussfähig zu machen und diese politisch durchzusetzen. Für Parteien können geschichtspolitische Äußerungen und Forderungen jedoch auch ein Mobilisierungspotential von Wählerstimmen erzeugen. Etwa von Personen, die sich nie als Teil des offiziellen Erinnerungsdiskurses verstanden.
Tatsächlich geht es in der Erinnerung an den Holocaust stets mehr als um den Holocaust selbst. Wie bereits durchgeklungen, geht es auch um Zugehörigkeit, um nationale Identität und die Frage eines nationalen Selbstverständnisses nach einem Genozid. Die Rechte versteht diese Identität als völkisches Kollektiv und nicht als einen veränderbaren, ambiguen Prozess.
Ihnen sind die skizzierten, demokratischen und pluralen Debatten zuwider, die plurale Perspektiven einbeziehen und einen inklusiven Charakter besitzen. Ihr Ziel ist letztendlich Exklusion, in dem ein homogenes Bild von Gemeinschaft, ein „Volk“ und eine Nation konstruiert wird. Wie wir wissen geschieht dieser Konstruktionsprozess vor allem über Ausschlüsse von vermeintlich „Anderen“. Und gerade deshalb sind plurale Perspektiven so relevant. Wir müssen uns gegen die Exklusion von Personen, die nicht als zugehörig erachtet werden, gemeinsam wehren und völkischen Umdeutungsversuchen der Geschichte Einhalt gebieten.
Dem Historiker Volker Weiß zufolge will die völkische Rechte „ethnische und kulturelle Homogenität wiederherstellen“. Sie versucht verstärkt die Erinnerung an den Holocaust abzuwehren und andere Aspekte deutscher Geschichte in den Mittelpunkt zu stellen. Das muss klar als Teil einer Relativierungsstrategie des Holocaust bezeichnet werden. Sie versucht eine positive, deutsche Identität über Ausgrenzung und das Konstruieren von Zugehörigkeit in den Mittelpunkt zu stellen. Sie evoziert einen vermeintlichen „Schuldkult“, da Deutschland aufgrund des Holocaust angeblich seine Identität verloren habe und sich daher vermehrt den „positiven“ Aspekten seiner Geschichte widmen solle.
Diese Negativfolie der Vergangenheit geht sogar so weit, dass fabuliert wird, Hitler habe „den Deutschen das Rückgrat gebrochen, weitgehend“, da Deutschland mit der Niederlage im Krieg und dem Holocaust keine positiven Bezugspunkte mehr habe. Dem müssen wir erwidern: Die Nachkommen von Tätern, die heutige Generation, trägt vielleicht keine Schuld am Holocaust und ist nicht direkt für die Vergangenheit verantwortlich. Doch ist eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und die Übernahme von Verantwortung unabdingbar. Der Auschwitz- und Dachau-Überlebende Max Mannheimer fasste dies prägnant in dem folgenden Satz zusammen: „Ihr Seid nicht schuld an dem, was war, aber verantwortlich dafür, dass es nicht mehr geschieht“.
Die Forderung nach einer „erinnerungspolitische[n] Wende um 180 Grad“ oder die Klage über eine „dämliche Bewältigungspolitik“ ist das Gegenteil von Verantwortungsübernahme und einer Aufarbeitung der Vergangenheit. Es ist vielmehr die Forderung nach einem Schlussstrich. Diese grundlegende, ideologische Komponente rechter Diskursintervention ist jedoch nicht neu. Diskussionen um einen Schlussstrich gab es bereits 1945. Und Formulierungen wie die „Stunde Null“ zeigten den Wunsch nach einem unbeschwerten Neuanfang, aber auch Kontinuitäten auf. Mit Blick auf den Umgang mit der Vergangenheit waren die 1950er Jahre geprägt von einer umfassenden Überschneidung Rechter und bürgerlicher Überzeugungen. Der überwiegend positive Blick auf die Wehrmacht wurde erst mit den Wehrmachtsausstellungen Ende der 90er und in den Nullerjahren gegen breite Widerstände getrübt. Eine kritische Auseinandersetzung mit ihren Vorfahren war von vielen schlicht nicht gewünscht. Die Etablierung einer Erinnerungskultur, wie wir sie heute kennen und gegen die die Rechte nun opponiert, dauerte Jahrzehnte und wird sich natürlich auch weiterhin verändern.
Wieso, aber, sind Geschichtspolitik und die Intervention in erinnerungskulturelle Debatten so wichtig für die Rechte? Dafür gibt es verschiedene Gründen, von denen ich im Folgenden zwei näher skizziere: Wie bereits angeklungen ist die Rechte auf einen unbekümmerten Umgang mit ihrer Vergangenheit angewiesen. Der Bezug soll ausschließlich positiv sein, Stolz verbreiten und eine positive Folie auch auf die Gegenwart legen. In dieser Sichtweise verhindere die negative Vergangenheit die Rückkehr Deutschlands zu alter Größe und halte Deutschland klein.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Entlastung beziehungsweise Relativierung von NS-Verbrechen. Dabei muss es sich nicht immer um klare – und obendrein strafbare - Holocaustleugnung handeln, dies ist eher in der radikalen Rechten der Fall. Die Neue Rechte dagegen operiert mit Relativierungen. Die Debatten um den 9. November zeigen dies klar auf. Wenn das Gedenken an den Novemberpogrom 1938 nur eines von vielen an diesem Tag wäre, verlöre es seine Relevanz. Der Pogrom wäre nur ein weiteres Ereignis, das an diesem wichtigen Tag der deutschen Geschichte stattgefunden hat. Eine Strategie in diesem Zusammenhang ist auch der häufige Bezug auf „12 Jahre“, der den Begriff Nationalsozialismus oder Holocaust nicht selbst in den Mund nimmt, sondern auf die vermeintlich kurze Zeit der Epoche rekurriert. Ziel dabei ist es den Nationalsozialismus als eine überfällige, nicht so wichtige Zeit in der fernen Vergangenheit zu etablieren, die für die Gegenwart keine Rolle mehr spiele, ein „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte.
Welche Bedeutung haben aber nun die nationalen Denkmäler für den Holocaust als Orte der Demokratie und des Gedenkens für die Gesellschaft? Sie können und sollen Symbol sein für eine vielfältige, demokratische und inklusive Erinnerungskultur. Im Gedenken ist es relevant Diskurse zu öffnen und verschiedene Perspektiven einzubeziehen. Insbesondere dann, wenn es um Fragen von Zugehörigkeit und Identitäten geht. Zudem machen Denkmäler die Verbrechen während des Holocaust sichtbar. Dies führt zu einem selbstkritischen, lebendigen Zugang zu Geschichte. Wir müssen dabei nicht immer einer Meinung sein. Es geht darum Konflikte auszuhalten und mit diesen produktiv umzugehen. Immer dann, wenn es gelingt Konflikte produktiv zu nutzen, haben sie sich als Katalysatoren gesellschaftlichen Fortschritts erwiesen. Dies bedeutet jedoch nicht über jeden Stock zu springen, der einem von Ewiggestrigen provokativ hingehalten wird. Wir sollten uns von den Rechten nicht treiben und in ihre Diskursfallen locken lassen.
Der Umdeutung von Geschichte und Erinnerungsabwehr müssen wir uns aktiv widersetzen. Und Jung und Alt ermuntern aktiv zu werden, einzumischen, in der demokratischen Gesellschaft partizipieren und die vielen, existierenden Formen des Gedenkens weiterentwickeln.
Vielen Dank.