Sehr geehrte Frau Kulturdezernent Hartwig, liebe Freundinnen und Freunde des Freien Theaters,
ich möchte Ihnen einen Witz erzählen. Und um meiner eigenen Enttäuschung vorzubeugen, wenn Sie gleich nicht in Gelächter ausbrechen – ja, es gibt bessere Witze, und genau genommen handelt es sich auch nur um eine lustige Rätselfrage. Aber die war in meiner Kindheit so beliebt, weil man sich damit als Schlaumeier in Szene setzen konnte. Die Rätselfrage geht so: "Was ist tiefer – Teller oder Tasse?" Und die richtige Antwort lautet: "Oder". Die Oder als Fluss ist natürlich tiefer als jeder Teller und als jede Tasse. Ja, es gibt bessere Witze. Aber dass Sie jetzt losgelacht haben, liegt vielleicht auch daran, dass Ihnen der Fluss Oder hier ferner ist als einem Kind in der DDR. Hier, in diesem Frankfurt, in dem das 11. Festival Politik im Freien Theater dieses Jahr erstmals zu Gast ist – hier heißt der dazugehörige Fluss Main. Und zugleich ist dieses Frankfurt so groß und bedeutsam, um nicht zu sagen: mächtig, dass die wenigsten auf die Idee kämen, es durch einen Fluss zu erklären. Wer in Westdeutschland Frankfurt sagt, denkt nicht an die Oder. Eine Selbstverständlichkeit, die auch ein Zeichen von Macht ist. Witze brauchen also Kontext, um verstanden zu werden. Diese Erfahrung konnte unlängst Mamadou Sow machen, ein Mitarbeiter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. Mamadou Sow war auf einer Konferenz in Berlin zu Gast, und er hat am Beginn seiner Rede einen Witz gemacht. Einen guten, den er auch gut performt hat, fast wie ein Comedian, der Clip davon ging viral, Sie können sich den Externer Link: anschauen . Sow sagt da also, lächelnd, weil ein bisschen vorfreudig über den Witz, den er gleich machen wird: "Good afternoon, ich komme aus Afrika." Daraufhin lacht das Publikum im Berliner Saal – weil Sow selbst schmunzelt, vielleicht auch, weil die Leute dachten, das sei schon der Witz – dass wir hier zwischen unseren weißen, eurozentristischen Scheuklappen über Afrika immer reden wie ein Land, weil es uns egal ist, ob jemand aus dem Senegal, Nigeria oder Tansania kommt. Das war aber noch nicht der Witz, die selbstironische Bemerkung, die Sow machen wollte. Die ging so: "Ich komme aus Afrika und es ist interessant in Berlin zu sein für einen Kongress." Daraufhin lachte keiner, Totenstille im Auditorium, und in dieses Schweigen aus Unverständnis hinein seufzt Sow dann mit noch feinerer Ironie, weil im Grunde zu sich selbst: "Ich hoffe, Sie verstehen den Witz."
Das war offensichtlich nicht der Fall, weil der Kontext fehlte. Für Sow war die historische Pointe seines Auftritts so klar, dass er sie aussprechen musste – ein Afrikaner redet auf einer Konferenz in Berlin, wo 1884/85 auf eben einem Kongress über diesen Kontinent Afrika gesprochen wurde wie über einen Laib Brot, den europäische Mächte einfach unter sich aufteilen. Für das Berliner Publikum aber war die eigene Kolonialvergangenheit so stark verdrängt, dass die Leute den Witz erstmal erklärt kriegen mussten, um ihn zu verstehen. Für die Menschen in Afrika hatte die Berliner Konferenz von 1884/85 einschneidende Folgen, bis heute, während bei uns am Ort des Geschehens dieses Wissen etwas für Schlaumeier zu sein scheint, lange vorbei. Ignoranz ist auch ein Zeichen von Macht.
Jetzt fragen Sie sich vielleicht, warum ich Ihnen hier Witze erkläre, wenn ich über Macht sprechen will. Aber Witze haben etwas mit Macht zu tun. Weil sie für den Moment ihres Erzählt-werdens aus tief empfundener Ohnmacht befreien. Witze empowern, würde man heute sagen, sie sind das, was denen bleibt, die keine Macht haben. Der Karneval geht auf diese Idee der Verkehrung von Unten und Oben zurück – das haben wir in Deutschland nur vergessen, weil der Karneval als Institution selbst ein mächtiger Player geworden ist. Das konnte man etwa in der Inszenierung "Karneval" sehen, die Joana Tischkau im Frühjahr, in der sogenannten fünften Jahreszeit am Theater Oberhausen herausgebracht hat. Joana Tischkau ist beim nun startenden Festival Politik im Freien Theater mit ihrer neuen Arbeit "Yo Bro" vertreten – in Oberhausen ließ sie schwarze Performer:innen auftreten. Die bewegten zu kolonial verdrehten Karnevalshits wie "Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien" aus der Nachkriegszeit, die im echten Karneval noch immer zum Kulturgut gehören, ihre Lippen synchron und bewirkten dadurch eine Irritation – weil die schwarzen Körper in diesem schunkelnden Kontext nicht vorgesehen sind, weil sie etwas sichtbar machten, das verdrängt war. Das war der Witz, der für ein weißes Publikum nicht so komisch war, eher nachdenklich stimmte.
Dass Witze die kleinste kommunikative Einheit von Widerstand sind, wissen wir aus totalitären Regimen. Die DDR hatte eine lebendige Witzekultur. So wurde am Ende der Honecker-Ära erzählt, dass jemand an das Dresdner Reiterdenkmal für August den Starken den Reim geschrieben habe: "Lieber August, steig hernieder und regiere du uns wieder. Lass in diesen schweren Zeiten lieber unsern Erich reiten." An solch schelmenhaften Wortwitz können Sie übrigens auch sehen, dass AfD, Pegida und andere rechte Bewegungen keineswegs die Erben des subversiven Geists in der DDR sind – die haben keinen Humor; als Witz gilt dort die drastische Verächtlichmachung.
Wie wichtig der Witz für die Machtlosen ist als Möglichkeit, ein Nicht-Einverstandensein mit Repression und Unterdrückung zu markieren – das erleben wir gerade in Russland. Mögen die Proteste gegen das autokratische Putin-Regime nicht so weit gediehen und mutig sein wie die Szenen, die uns aus Iran erreichen – die Schlagzahl der Witze, die sich durch soziale Netzwerke verbreiten, hat zugenommen. So wurde auf den Tod von Elizabeth II. mit dem Einzeiler reagiert, Putin lasse die englische Königin wieder mal sehr lange auf sich warten. Und über die völlig verdrehte Propaganda zum Ukraine-Krieg macht sich etwa der folgende Witz lustig: "Es klingelt an der Tür. Davor steht ein Soldat, der die Teilmobilmachung verkündet. Mit wem müssen wir da kämpfen, will der Mann wissen, der einberufen werden soll. Mit Nazis, antwortet der Soldat vor der Tür. Das weiß ich, sagt der Mann in der Wohnung, aber mit wem haben wir es zu tun?"
Nun haben auch Witze ihre Grenzen, sie sind der Rest oder ein Anfang von Widerstandsfähigkeit der Leute, die keine Macht haben. Aber dass man Witze "machen" muss, führt zu einem anderen Gedanken über "Macht" als Motto dieses 11. Festivals Politik im Freien Theater. Denn "Macht" kann man auch kleinschreiben – und dann hat man einen Imperativ zum Loslegen, um selbst etwas an den Dominanzverhältnissen zu ändern. Im Rahmenprogramm des diesjährigen Festivals finden sich zahlreiche Veranstaltungen, in denen das "Machen" Thema ist.
Zwei Termine tragen die Titel "Hessliche Zustände. Wir müssen reden" und "Wieder da? Jemals weg? Rechte Gewalt seit 2000". Da sollen die toten Winkel im bundesrepublikanischen Selbstverständnis ausgeleuchtet werden – die andauernde Bedrohung durch tödliche, rechte Gewalt, der seit der Wiedervereinigung mehr als 200 Menschen zum Opfer gefallen sind und die weitergeht – trotz des Schocks, den die Selbstenttarnung der sich NSU nennenden Terrorzelle 2011 für die deutsche Öffentlichkeit bedeutete. Weil die Leute, die Macht haben, dagegen zu wenig unternehmen – die Politik, die das Phänomen jahrelang kleingeredet hat; die Justiz, die milde Urteile fällt, weil sie rechte Hintergründe und Motivationen zumeist ausblendet; die Polizei, die sich mit ihren eigenen, rassistischen Strukturen nicht beschäftigen will.
Aber: Dass und wie wir heute in solchen Veranstaltungen über das Problem rechter Gewalt reden, das zeigt auch, was das Selber-Machen bewirkt. Denn hier an dieser Stelle, in Frankfurt am Main, in Hessen über rechte Gewalt zu reden, geht nicht, ohne Hanau zu sagen. Und wer Hanau sagt, der muss erinnern an Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun und Fatih Saraçoğlu – das hat seinerzeit dann sogar die Bundeskanzlerin gemacht. Diese Form des Gedenkens, des Darüber-Sprechens ist erkämpft worden von den Leuten, die jahrelang allein gelassen wurden mit Trauer und Schmerz. Es ist ein Zeichen, wohin das Machen führen kann, wenn man bedenkt, dass die meisten Namen der mehr als 200 Todesopfer rechter Gewalt in der deutschen Gesellschaft so unbekannt sind wie die koloniale Berliner Afrika-Konferenz von 1884/85. Nur aus dem Bewusstsein für die Opfer kann politisches Handeln entstehen – und was das bedeutet, zeigt die bewundernswerte Arbeit, das Machen von Serpil Temiz-Mutter, der Mutter eines der Toten. Serpil Temiz-Unvar steckt ihren Schmerz und ihre Trauer in etwas Produktives – sie hat die Bildungsinitiative Ferhat Unvar gegründet. Weil Bildung der Ausweg aus der eigenen Unmündigkeit, der Marginalisierung durch die Mehrheitsgesellschaft ist.
Bundeszentrale für politische Bildung heißt die Institution, als deren Präsident ich heute zu Ihnen spreche. Zur Eröffnung des Festivals Politik im Freien Theater, das 1988 auch deshalb mit der Freien Szene, dem Unten der deutschen Theaterlandschaft gegründet wurde, weil von dort die Impulse zur Veränderung kommen und nicht aus den mächtigeren Staats- und Stadttheatern. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und uns ein anregendes Festival, einen guten Austausch über die verschiedenen Theaterarbeiten und in den Veranstaltungen des Rahmenprogramms. Und nicht zuletzt: auch viel Vergnügen.