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Den Perspektivenreichtum Europas entdecken

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Die Kulturhoheit der Länder hat sich als allgemeines Strukturprinzip der Kulturpolitik bewährt. Die Länderhoheit in Sachen Bildung und Kultur steht für eine große Erfolgsgeschichte. Zugleich besteht doch auch hier die Gefahr, ins andere Extrem zu verfallen, und vor lauter Betonung des Föderalismus Gemeinsames zu vergessen.

1. Die Kulturhoheit der Länder hat sich als allgemeines Strukturprinzip der Kulturpolitik in einem halben Jahrhundert bundesrepublikanischer Geschichte bewährt. Die Länderhoheit in Sachen Bildung und Kultur steht für eine große Erfolgsgeschichte. Die Pflege und Förderung der Vielfalt im Kulturellen hat die Republik bereichert, regionale Identität gefördert. Zugleich besteht doch auch hier die Gefahr, ins andere Extrem zu verfallen, und vor lauter Betonung des Föderalismus Gemeinsames zu vergessen. Denn der Kulturföderalismus ist kein Selbstzweck, der zum dogmatisch gehandhabten Gebot versteinern darf – das Ziel, die gesamte Republik zu bereichern und die Einsicht, das Pluralität immer Vielfalt innerhalb eines Ganzen darstellt, sollte nicht aus den Augen verloren werden.

Es war sicher kein befriedigender Zustand, dass der Bund vor 1998 zuletzt kulturpolitisch kaum noch in Erscheinung getreten ist. Selbst die Aufgaben, die ihm zukamen – ich nenne als Stichwort nur beispielhaft die Filmförderung – schienen zu verkümmern. Und dort, wo die Bundesregierung kulturpolitisch tätig war, etwa in der wertvollen auswärtigen Kulturarbeit der Goethe-Institute, blieb es zu wenig sichtbar. Glücklicherweise wurde dies 1998 durch die Ernennung eines "Beauftragten der Bundesregierung für Angelegenheiten der Kultur und der Medien" anders. Erstmals in der Geschichte der Republik wurden die kulturpolitischen Kompetenzen des Bundes in einem Amt gebündelt. So wurde deutlich, dass auch der Bund seinen Teil der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe der Kulturförderung in Zukunft in aktiver Verantwortung übernehmen will. Nach wie vor ist der Bund dabei auf die Länder angewiesen. Deren Interessen sollten aber schneller als bisher artikuliert werden. Auch ein stärkerer Konsens unter den Ländern würde der Sache dienen. Im Sinne einer komplementären Kulturpolitik wären handlungsfähige und handlungsorientierte Bund-Länder-Arbeitsebenen wünschenswert. Im Zuge neuer globaler Entwicklungen –digitale Revolution, kulturelle Globalisierung - ist heute eine neue Flexibilität in der staatlichen Verantwortung für Kunst und Kultur angezeigt. Insbesondere könnte ich mir ein stärkeres Engagement des Bundes in der Pflege der Kulturgüter und in der Förderung zeitgenössischer Kunst, sowie in der Berlinförderung im Kulturbereich vorstellen.

Die Gefahr einer Entmachtung der Länder, gar eines neuen Zentralismus, sehe ich nicht, solange die Länder ihre Verantwortung weiterhin wahrnehmen. Wohl aber gibt es gerade in der Kultur Angelegenheiten und Themen, denen durch eine stärkere Zentralisierung gedient würde. In vielen Bereichen beteiligt sich der Bund schon lange sehr aktiv. Zwar hat das Verfassungsgericht in den 60er Jahren die Medienangelegenheiten in die Länderhoheit verwiesen, die Zuständigkeit für die Stiftung Preussischer Kulturbesitz jedoch bereits 1959 ausdrücklich in eine Bund-Länder-Zuständigkeit. Insofern ist der Bund schon seit langem kulturell mit dabei. Verfassungsrechtler sprechen hierbei von einer Annexkompetenz, also einer Situation, die durch eine Art Interpretation und Gewohnheit entstanden ist. Eine weitere Klarstellung dieser wachsenden Bundeskompetenz würde aus meiner Sicht der Faktenlage, aber auch dem öffentlichen Ansehen und der Verantwortung einer vom Bund unterstützten Kunst und Kultur zuträglich sein.

Bei unserer Arbeit in der Bundeszentrale für politische Bildung haben wir in den letzten Jahren erkannt, dass politische Bildung von kultureller Bildung nicht zu trennen ist. Der Einzelne wird auch geprägt durch kulturelle Sozialisation und seine unmittelbare kulturelle Umwelt, durch Architektur, Städtebau und Kunstwerke im öffentlichen Raum. Dynamisch und ohne Berührungsverbote überschreitet die Kultur ihrem Charakter nach alle Grenzen – gerade da, wo sie nicht museal erstarrt ist. Die Bundeszentrale für politische Bildung hat diese Einsicht mit der Einrichtung einer Projektgruppe für "Kulturelle politische Bildung" berücksichtigt und ergänzt die einseitige, in vielem gesellschaftlich überholte Fixierung auf Institutionen und Parteien um neue Handlungsfelder.

Politische Aufklärung und Erziehung zu demokratischer Praxis muss sich auf die neuen Lebenswelten, auf die von ihnen erzeugten veränderten Kultur- und Politikbegriffe einlassen. Gerade unter sich zunehmend ausdifferenzierenden Lebensverhältnissen wächst ein neues Bedürfnis nach Identifizierbarkeit. Die von Staatsminister Nida-Rümelin in die Wege geleitete Gründung einer Bundeskulturstiftung ist aus meiner Sicht daher sehr zu begrüßen. Sowohl die zentralen Kulturinstitutionen in anderen Staaten, als auch Künstler im In- und Ausland brauchen und erwarten klar erkennbare kulturelle Ansprechpartner und Repräsentanten gesamtstaatlicher Interessen. Die "Bundeskulturstiftung" wird ein Meilenstein sein, weil sie der Mobilität zeitgenössischer Kunst und der Überregionalität des Kulturgutes Rechnung tragen kann. Doch wahrscheinlich gehört auch dieses gegenwärtig noch zeitgemäß scheinende Denken in Zuständigkeiten von Bund und Ländern schon der zukünftigen Vergangenheit an, Verhältnissen, die letztlich am Ideal des föderal organisierten Nationalstaats orientiert sind, und in einem regional und kulturell ausdifferenzierten und zugleich vereinten Europa durch neue Strukturen ersetzt werden, in denen die alten Grenzziehungen ihre Bedeutung verlieren.

2. Mit der zunehmenden Entgrenzung des Kulturlebens auf europäischer und bundesstaatlicher Ebene einher geht auch eine Ausdifferenzierung auf regionaler Ebene. Trotz des Zuwachses an politischer Eigenständigkeit der Städte ist hiermit nicht gleichermaßen auch eine Zunahme an kultureller Eigenständigkeit verbunden. Im Gegenteil: Die kommunale Kulturförderung hingegen hat stark abgenommen oder sie stagniert. Und das, obwohl von einer schrumpfenden kulturellen Potenz der Städte überhaupt keine Rede sein kann. Vielmehr entdeckt man allerorten lokale Initiativen, die von einer bemerkenswerten Freude an Experiment und Innovation geprägt sind. Einmal mehr zeigt sich hier die Kraft der kleinen Einheiten, und die grundlegende Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips für ein lebendiges Kulturleben. Dezentralität sollte daher auch in Zukunft einer der wichtigsten Leitmaßstäbe für Kulturpolitik sein. Freilich ereignet sich die vielfach von Sozialwissenschaftlern und Philosophen beschriebene Entgrenzung nicht allein horizontal – zwischen Regionen, Städten, nationalen Grenzen - sie geschieht auch zwischen den Milieus und den Generationen. In einer kulturell ausdifferenzierten Gesellschaft, macht es wenig Sinn, eine bayerische von einer westfälischen "Kultur" zu unterscheiden. Und Jugendkulturen und die Lebenswelten der Erwachsenen, urbane, mittelstädtische und ländliche Lebensweisen kann man nur im Plural noch unterscheiden. Gerade in den Städten besteht zudem die Chance, Neues auszuprobieren und der grassierenden Tendenz zur Arsenalisierung der Kultur, zu Reduzierung von Kulturpolitik auf die konservative Pflege der Bestände entgegenzuhalten.

Die zentralen Probleme städtischer Kulturpolitik liegen heute in den engen finanziellen Rahmenbedingungen. Steigende Kosten stehen schrumpfenden öffentlichen Etats und dem Zwang zur Haushaltskürzung gegenüber. Hierunter leiden vor allem die Kommunen. Und leider scheint nach wie vor die traurige Erfahrung zu gelten, dass die Kultur zu den schwächsten Gliedern der Finanzkette gehört, dass man hier als erstes Einsparpotentiale entdeckt.

Eigenständige Programme und die insgesamt stärkere Länderverantwortung können hier manches auffangen, die eine oder andere Lücke füllen. Aus ihr kann jedoch nicht ein Rückzug der Kommunen oder eine Zurückhaltung des Bundes abgeleitet werden. So begrüßenswert diese Initiativen sind, können sie doch ein eigenständiges kulturelles Profil der Kommunen nicht ersetzen. Nur dort, wo es sowohl eine hohe Motivation und engagierte, durchsetzungsfähige Kulturpolitiker gibt, hat sich die kommunale Kulturförderung verstärken können. Heute ist eine solche komplementäre Wahrnehmung der Verantwortung die zeitgemässe Form von Kulturförderung. Hinzu kommt ein anderer Aspekt: Nicht nur aufgrund schwindender öffentlicher Mittel nimmt die Bedeutung privater Förderungen und des ehrenamtlichen Engagements einzelner Bürger stark zu. So wurde der partielle Rückzug der Kommunen mitunter durch engagierte Freiwillige und bürgerschaftliches Engagement aufgefangen – eine Entwicklung, die einerseits erfreut, zugleich aber traurig stimmt, denn wünschenswert wäre, dass solcher Einsatz die kommunale Aktivität ergänzen, nicht – wie oft geschehen - ersetzen würde.

Politische Öffentlichkeit bedeutet schon im Verständnis der antiken Politiktheorie in erster Linie Partizipation, Teilhabe und Engagement des einzelnen Bürgers für die "res publica", die "öffentliche Sache". Neuere Theorien – die, oft von Hannah Arendts Schriften inspiriert, in den USA entwickelt werden - artikulieren die Notwendigkeit solchen Engagements in der Forderung nach einem neuen "Bürgersinn". Ein solcher Bürgersinn – der sich im eigenen Interesse immer als individueller versteht, und von der emphatischen Feier neuer "Gemeinschaften" abgrenzt – entsteht jedoch nicht von selbst. Er muss vielmehr nicht zuletzt durch kulturelle politische Bildung geschaffen und sorgfältig gepflegt werden. Die Bundeszentrale für politische Bildung betrachtet es als eine ihrer vorrangigen Aufgaben, solchen Bürgersinn zu fördern. Neue Bildungskonzepte haben das gemeinsame Ziel, politisch-kulturelle Kreativität und Visionen freizusetzen sowie persönliches Engagement zu fördern. Jedes Individuum soll mit einem möglichst hohen Maß an Kompetenzen ausgestattet sein, um bei den unterschiedlichsten Problemstellungen "mitreden" zu können. Das Engagement öffentlicher Institutionen sollte durch Bürgersinn aber vor allem verstärkt und komplementär ergänzt werden. Bürgersinn darf nicht zur billigen Ausrede für eigenes Nichtstun oder ein verfehlte Finanzpolitik werden.

3. "Wenn ich nochmal mit Europa beginnen könnte, würde ich mit Kultur (wohl auch Bildung) anfangen!" – von Jean Monnet, einem der Gründerväter des vereinten Europa, stammt diese Einsicht in die elementare Bedeutung kultureller Prozesse. Politik, Wirtschaft und Kultur sind voneinander abhängig. Darum bezeichnet die Agenda 21 Bildung als Schlüssel für die gemeinsame Lösung der Zukunftsprobleme. Bildung, nicht Information, auch nicht Wissen ist der Oberbegriff für verschiedene Qualitäten und Kompetenzen erfasst.

Die bisherigen Diskussionen um die Ausgestaltung der Integration, institutionellen Vertiefung und der politischen Erweiterung der EU haben eines sehr deutlich werden lassen: Europa leidet nach wie vor unter Demokratie-Defiziten. Dieser Mangel ist eng mit dem Fehlen einer kritischen, aufgeklärten, europäischen Öffentlichkeit verbunden. Erfolgreiche europäische Integration braucht den Rückhalt in Gesellschaft und Öffentlichkeit – diese Interdependenz stellt eine unverzichtbare Bedingung für die Entstehung einer postnationalen europäischen Bürgergesellschaft dar. Sie gehört zu den Kernaufgaben der politischen Bildung in und für Europa. Politische und kulturelle Integration sind ohne eine gewisse Harmonisierung nicht denkbar. Selbstverständlich bedeutet dies, dass auch Traditionen und manche nationalen Errungenschaften preisgegeben werden müssen, oder zumindest nur in veränderter Form fortgesetzt werden können. Auch diese Erfahrung verbindet uns mit unseren europäischen Mitbürgern in anderen Ländern. Wichtig ist hierbei jedoch die Perspektive der jeweiligen Wahrnehmung. Anstelle der "Verlust- und Gefahrendiskussion", den Klagen über das, was vermeintlich verloren geht oder aufgeben werden muss, tritt in der deutschen Europadebatte die "Chancendiskussion", das Bewusstsein für Gewinne und neue Errungenschaften infolge der europäischen Integration, leider allzu oft in den Hintergrund. Europäisch zu denken hieße aber gerade, sich nicht in kleinlichen Eitelkeiten zu verstricken, sondern selbstbewusst auch manche nationale Tradition zugunsten der gemeinsamen res publica Europa verabschieden zu können. Dies muss freilich nicht heißen, dass es nicht, gerade auch im Feld der Kulturpolitik, Traditionen gäbe, um deren Erhaltung sich einzutreten lohnte. Das deutsche Modell der Buchpreisbindung hat sich bewährt. Es wäre wünschenswert, wenn sich die Bundesregierung und andere Institutionen dafür einsetzten, dieses Modell in das vereinte Europa zu überführen.

Wir sollten allerdings keine noch so wichtige Einzelfrage als einen nationalen Fetisch behandeln. Bei allen ihren guten Seiten kann die deutsche Subventions- und Kulturförderungspolitik doch auch manches von unseren Nachbarländern lernen. Gerade an einer Kulturpolitik, die sich auch ordnungspolitisch und normativ begreift, besteht im Vergleich zu vielen Nachbarländern eher ein Nachholbedarf. Kulturelle Ordnungspolitik ist aber die vornehmste und wichtigste Aufgabe der Bundeskulturpolitik. Sie kann Tendenzen zu einer "Refeudalisierung der Kulturpolitik" (Günter Gaus) gegensteuern, und den Gedanken des "Bürgerrechts Kultur" (Hermann Glaser) auch in Europa aktiv vertreten.

In allen diesen Fragen sollten wir uns freilich vor der selbstgerechten Haltung hüten, die glaubt, dass am deutschen kulturpolitischen Wesen die Nachbarländer genesen müssten. Gerade als ein Vertreter der Politischen Bildung möchte ich dafür plädieren, die europäische Integration auch als einen wechselseitigen Lernprozeß zu verstehen, und auf diesen Prozeß vorurteilsfrei und ohne Hochmut einzugehen. Nur, wenn wir die Bereitschaft mitbringen, auf die Erfahrungen anderer offen und veränderungsbereit einzugehen, können wir gleiches auch umgekehrt erwarten. Zur wünschenswerten und von der Bundesregierung gewünschten Dekonstruktion nationaler Identitäten im Gefolge der Vertiefung der Europäischen Union gehört auch, die Pluralität und den Perspektivenreichtum Europas zu entdecken, Europa als Wissens- und Kulturgesellschaft zu begreifen. Gerade die Besinnung auf die gemeinsamen kulturellen Wurzeln, auf das längst existierende vereinte Europa der Kulturen kann dazu beitragen, auch den politischen und ökonomischen Vereinigungsprozeß "vom Staatenbund zur Föderation" (Bundesaußenminister Joschka Fischer) und die Herausbildung einer gemeinsamen, von allen Bürgern Europas geteilten, europäischen Identität zu befördern.

Dies bedeutet auch für die Bundeszentrale für politische Bildung neue Herausforderungen. Zunehmend sind wir vor die Aufgabe einer Zusammenarbeit mit den jeweiligen Institutionen in unseren Partnerländern gestellt. Wir wollen eine solche Zusammenarbeit, wo immer sie möglich ist, aktiv anstreben. Hierzu gehört selbstverständlich auch der Austausch mit Institutionen der Politischen Bildung außerhalb Europas – mit anderen Worten: die Transnationalisierung – nicht Internationalisierung, nicht Globalisierung - der Politischen Bildung. Unter den Bedingungen der Gegenwart kann und darf der Nationalstaat nicht länger das einzige Bezugssystem für politische Bildung sein. Ein nationalstaatlich verengter Blick sollte ebenso verabschiedet werden, wie die antiquierte Vorstellung einer wie immer gearteten "Leitkultur". Nicht nur in der inhaltlichen Arbeit, auch institutionell muss dieser Einsicht entsprochen werden.

Fussnoten