Länge: Herr Krüger, nach der Bundestagswahl 2002 war in der Presse mehrfach zu lesen, Sie seien der neue Favorit für das Amt des Bundeskulturministers. Hätte Sie diese Aufgabe gereizt?
Krüger: Na ja, wenn es eine neue Aufgabe gibt, muss man immer sehr genau abwägen, aber die Frage hat sich konkret gar nicht gestellt. Und außerdem bin ich mit meiner Tätigkeit hier in der Bundeszentrale für politische Bildung sehr zufrieden, weil es sich im Blick auf die Gestaltungsmöglichkeiten um eine ausgesprochen vielseitige und spannende Aufgabe handelt.
Länge: Die Frage hat natürlich einen Hintergrund: Das Thema Kultur liegt Ihnen ja. Sie haben sich in der politischen Bildung von Anfang an dafür eingesetzt, dass die Verbindung von Kultur und Politik in den Vordergrund gerückt wird.
Krüger: Ja, ich habe seit vielen Jahren die Bereiche Kultur- und Medienpolitik mitgestaltet. Das dürfte ein Grund dafür sein, dass es bei den Pressemeldungen nicht einfach um eine Seifenblase, sondern bis in die Zielgerade hinein um eine ernsthafte Option ging. Na ja, es muss ja nicht schlecht sein, wenn man einmal unter Kompetenzgesichtspunkten gesagt bekommt, bei welchen Aufgaben die eigene Person zählt. Es war auch sicherlich für die bpb nicht schlecht, denn es signalisierte, dass der Umstrukturierungs-Prozess der letzten zwei Jahre erfolgreich war und als solches auch wahrgenommen worden ist.
Das Thema Kultur und politische Bildung ist von mir mit der Gründung einer Projektgruppe in Angriff genommen worden, die wir dann zu einem eigenen Fachbereich Kulturelle Medien weiter entwickelt haben. Diese Arbeit ist wichtig, weil sie uns neue Zielgruppen erschließt. Für die Gewinnung neuer Zielgruppen braucht man Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, und kulturell interessierte Menschen sind meist Multiplikatoren in Sachen Demokratie. Politische Bildung, die neben Informationsweitergabe auch Aktivierungsmodul sein will und auf Empowerment-Strategien zielt, hat hier, wie unsere Erfahrungen zeigen, gute Anknüpfungsmöglichkeiten - übrigens nicht nur bei jungen Leuten!
Die aktuelle politische Agenda
Länge: Nun stehen ja einige Herausforderungen auf der Tagesordnung der deutschen Politik. Oft wird ein Reformstau beschworen, der jetzt - endlich - aufzulösen sei. Natürlich gibt es einiges zu tun, so hat der Umbau des Sozialstaats besondere Priorität. Wird da politische Bildung mitgedacht und einbezogen, wenn etwa die Hartz-Kommission in ihrem Modul Nr. 13 die große Koalition der gesellschaftlichen Multiplikatoren fordert, um die notwendigen Reformen auf den Weg zu bringen?
Krüger: Wenn es um den gesellschaftlichen Konsens geht, kann und wird politische Bildung nicht abseits stehen. Sie muss aber genau so deutlich betonen, dass sie kein Administrationsorgan einer Exekutive oder Legislative ist. Politische Bildungsarbeit ist überparteilich und staatsfern konzipiert. Politische Lernprozesse, die wir anstoßen, dürfen sich zu keiner Zeit dem Verdacht aussetzen, dass sie sich einem bestimmten politischen Projekt widmen. Es ist wichtig, dass man die gesamte Palette der Positionen berücksichtigt. Denn nur so bekommt politische Bildung gesellschaftliche Legitimation - eine Legitimation, die eben rasch verspielt werden kann. Deshalb bin ich skeptisch, wenn es um Kommissionen geht wie oben angesprochen. Dies bedeutet natürlich keine Distanz zu den inhaltlichen Herausforderungen: Umbau der Sozialversicherungssysteme, Zukunft der Arbeit, Zukunft der Wirtschaft - das sind Themen, mit denen wir uns in der bpb intensiv und konsequent befassen, ob das jetzt unsere Bücher und Zeitschriften, unsere Online- und Interaktions-Module oder unsere kulturellen Medien betrifft.
Länge: Eine besondere Aufgabe, die die Weiterbildung allgemein und damit auch die politische Bildung betrifft, stellt sich bei der Zuwanderung. Hier gibt es wichtigen Regelungsbedarf, und die Entwicklung ist noch offen.
Krüger: Wir haben in der bpb schon früh eine Projektgruppe Migration ins Leben gerufen, die zu dem Thema arbeitet. Dies hat einen institutionellen Hintergrund. Die Bundeszentrale für politische Bildung war traditioneller Weise, nämlich von ihrem Erlass her, in ihrer Arbeit auf "das deutsche Volk" orientiert. Und dies wurde im Jahr 2001 geändert. Jetzt sind wir für die Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland ohne Einschränkung zuständig. Die Änderung des Erlasses gilt es, mit Leben zu erfüllen. Das heißt, dass wir Migranten und Migrantinnen nicht nur als Zielgruppe der politischen Bildung, sondern auch als Träger von Bildungsarbeit in den Blick nehmen. Diejenigen, die dort aktiv sind, sollen auch die Chance erhalten, als anerkannte Träger der politischen Bildung tätig zu werden.
Genau so wichtig ist es, dass die Mehrheitsgesellschaft mit dieser Thematik befasst wird, weil Migration einiges an Konfliktpotential mit sich bringt. Sich in dieser Frage auf demokratische Grundwerte zu verständigen und den aktuellen Handlungsbedarf aufzugreifen, das bedarf einer Unterstützung. Wir haben zum Beispiel von der bpb-Projektgruppe Migration aus Nachdruck auf ein wichtiges Thema gelegt, nämlich das der interkulturellen Öffnung von Verwaltung. Verwaltungen kannten ja lange Zeit auch nur eine Zielgruppe: das deutsche Volk. Hier kann und muss die politische Bildung eine Menge tun. Wir haben dazu Materialien und Vorschläge erarbeitet. Wir machen zum Beispiel zielgruppenrelevante Qualifizierungen im Blick auf das Thema Islam. Da gibt es einen großen Bedarf, denn es ist ein Thema, das zu kurz gekommen ist und bei dem wir jetzt nachlegen müs-sen. Es ist ein Skandal, dass der Islam in den schulischen Curricula ein Schattendasein führt, obwohl wir seit Jahren wissen, dass in großem Umfang Zuwanderung aus der islamischen Welt stattfindet. Aber die Arbeitshilfen für Lehrer und Lehrerinnen fehlten bisher.
Länge: Mit der Änderung des Erlasses ist auch die notwendige Änderung des nationalstaatlichen Blickwinkels angesprochen, wenn wir etwa an die Stichworte Europäisierung und Globalisierung denken. Jutta Limbach schreibt in der neuen Beilage zum Parlament, "Aus Politik und Zeitgeschichte" (B 45/2002), die sich mit den Aufgaben der politischen Bildung befasst, die Bürger und Bürgerinnen in Europa würden noch zu sehr in nationalen Kategorien denken. Hier sei eine grundsätzliche Umorientierung nötig. Gilt dieser Nachholbedarf auch für die politische Bildung?
Krüger: Wir haben uns um diese Umorientierung in den letzten zwei Jahren ganz deutlich bemüht, und nach meinem Eindruck ist auch in der Bevölkerung spürbar, dass bei einzelnen Gruppen einiges in Gang gekommen ist - zum Beispiel bei der jungen Generation, die das Internet nutzt, auf Mobilität setzt und für Globalisierung aufgeschlossen ist. Hier hat sich viel geändert, im jugendkulturellen Bereich wird länderübergreifend gedacht. Je stärker man jedoch in gefestigte institutionelle Strukturen hineinschaut, desto eher würde ich Jutta Limbachs These zustimmen. Dieser Befund trifft wohl noch die Normalsituation.
Die Trends in der Jugendkultur sind ermutigend, und darauf muss man in der politischen Bildung setzen. Wir haben unser Programm - sowohl was die Bücher und Zeitschriften als auch die Veranstaltungen und unsere Online-Angebote betrifft - dementsprechend umgestellt. Neben Europa und der damit verbundenen Institutionenkunde sind es vor allem die Themen Globalisierung und der Islam, die zur Zeit stark nachgefragt werden. Wir haben gerade eine Bestsellerliste unserer Publikationen erstellt, mit dem Ergebnis, dass weit vorne Bücher zum Themenfeld Islam rangieren, danach folgt die Erweiterung der Europäischen Union, fremde Kulturen und Afrika. Das Afrika-Lexikon zum Beispiel, das wir gemeinsam mit einem Verlag produziert haben, war innerhalb kurzer Zeit vergriffen. Politische Bildung muss im Blick auf die europäische Debatte einerseits zeigen, was sie leisten kann. Die Vertiefung, die Erweiterung der Union, der Konvent - das sind genuine Bildungsthemen. Andererseits muss noch einiges dafür getan werden, dass politische Bildung auf europäischer Ebene, in den ent-sprechenden Beschlüssen und Resolutionen, mitgedacht und einbezogen wird. Hier führte der Verweis auf das Subsidiaritätsprinzip bisher zu einiger Zurückhaltung, was auch mit den heterogenen Bildungsstrukturen und Traditionen in Europa zusammenhängt. An einigen Stellen hat sich etwas getan, das natürlich noch ausgebaut werden muss.
Ist politische Bildung noch gefragt?
Länge: Der Zuspruch, den Bildung heute erfährt, richtet sich besonders auf die ökonomische Verwertbarkeit. Qualifizierung steht im Vordergrund. Von diesem Gesamttrend aus gesehen gerät politische Bildungsarbeit leicht ins Abseits. So beobachten wir, dass sich in diesem Sinne der Zuschnitt der für politische Bildung zuständigen Ministerien ändert - Beispiele sind etwa Nordrhein-Westfalen oder Mecklenburg-Vorpommern.
Krüger: Dieser Trend dürfte seinen Grund im Paradigma der Wissensgesellschaft haben. Wenn Wissen selbst zur Produktivkraft wird, greift eine neue Bewertung der Prozesse zur Aneignung von Bildung und Wissen. Allerdings wäre es fatal, wenn jetzt eine Verengung auf berufliche Bildung, auf unmittelbar verwertbare Qualifikation stattfände. Gerade die sogenannten weichen Bereiche der kulturellen, der ökologischen oder eben der politischen Bildung sind mit in den Blick zu nehmen. Die Gefahr einer reinen Ökonomisierung, die solche Fragen ausschließt, besteht meines Erachtens derzeit nicht. Doch müssen wir uns auch in Zukunft für ein breites Bildungsverständnis stark machen, sonst können wir unserem Auftrag nicht gerecht werden.
Länge: Wenn man in diesem Sinne Lobbyarbeit für die politische Bildung zu machen versucht, hat man immer wieder den Eindruck, dass dem nicht viel Erfolg beschieden ist. Der Trend Raus aus der politischen Bildung´ scheint seit Jahren dominant zu sein.
Krüger: Diesen Trend muss man leider konstatieren - schon seit 10 bis 15 Jahren. Ich mache allerdings die Erfahrung, dass der Trend umkehrbar ist. Mit der wachsenden Wahrnehmung politischer Bildung als Erfolgsgeschichte tut sich hier einiges. Es ist eine Frage der medialen Aufstellung. Uns geht es darum, Formen der medialen Präsentation zu finden, die Interesse wecken, die deutlich machen, dass es sich lohnt, in politische Bildung zu investieren und dass es sich dabei um eine Investition in die eigene Zukunft eines jeden Menschen handelt. Als Bundesinstitution hat die bpb hier eine besondere Verantwortung für die gesamte Landschaft der politischen Bildung und auch ganz andere Möglichkeiten als ein kleiner Bildungsträger. Jeder muss jedoch seinen Beitrag zur Neupositionierung der politischen Bildung leisten.
Länge: Das ist ja aufgefallen, dass nach der Struktur- und Organisationsreform der Bundeszentrale für politische Bildung neue Signale ausgesandt wurden - in Richtung Politik und in Richtung Bevölkerung. Gut, dass Sie auch den Beitrag der Träger erwähnen. Wir wollen hier gerne mittun, ein verbessertes Image deutlich werden zu lassen. Kommt dieses Image denn in der Politik an? Bewirkt es dort etwas?
Krüger: Ich glaube schon. Bei den Bundestagsabgeordneten, die im Kuratorium der bpb vertreten sind, war und ist ein entsprechendes Engagement spürbar. Der Auftrag zum Evaluationsprozess der bpb hat auch das Interesse an einer Modernisierung dokumentiert. Meine Erfahrung in den letzten beiden Jahren ist, dass mit jedem Modernisierungsschritt - sei es die Erschließung neuer Zielgruppen, sei es die Etablierung neuer Themen oder aktueller Bezüge - die Politik diesen Prozess unterstützt und dankbar aufgreift. Und wir kommen auch wieder in Debatten des Deutschen Bundestages vor.
Gewiss, es gibt auch gegenüber der politischen Bildungsarbeit Vorurteile. Dann heißt es etwa, dass ein Seminarbetrieb seit Jahren schematisch ablaufen würde etc. Dagegen muss man etwas setzen, und das kann man in der heutigen Mediengesellschaft, indem man stärker mit den Massenmedien kooperiert. Dadurch lassen sich auch die Zugangsschwellen senken. Bisher haben wir es in der politischen Bildung mit einer bildungsbereiten und -gewohnten Gruppe zu tun, die einer großen bildungsfernen Bevölkerungsgruppe gegenübersteht. Das dürfen wir nicht einfach hinnehmen. Es gibt Angebote, mit denen man auch bildungsferne Menschen erreichen kann. Da kommen die Massenmedien, speziell das Fernsehen, ins Spiel. Wir haben zum Beispiel Kooperationen, gerade auch mit privaten Fernsehsendern, an den Start gebracht, denn es existiert durchaus eine Interesse, eine solche Zusammenarbeit zu nutzen. Dabei geht es nicht um die Fördergelder, die vergleichsweise bescheiden sind. Nein, die Verantwortlichen in den Massenmedien merken, dass wir uns auf dem Weg in die Wissensgesellschaft befinden und dass in Zukunft andere Formate gefragt sind. Die Sender bemerken, dass selbst die Inhalte, die in Unterhaltungsformaten geboten werden, eine Nachfrage nach ergänzenden Informationen auslösen können, worauf dann verstärkt mit begleitenden Materialien oder Internet-Angeboten reagiert wird. Die Sender werden damit so etwas wie Veranstaltungsagenturen. Umgekehrt könnte ich mir vorstellen, dass wir in Zukunft mit einer Art "bpb-TV" oder "Politische Bildung TV" antworten, was heute noch wie eine Vision klingen mag...
Medien, Wahlen und Wahlkampf
Länge: Im Wahlkampf 2002 hat das ja anscheinend schon funktioniert. Der Wahl-o-mat der bpb im Internet hat Zuspruch gefunden, auch die anderen Aktionen im Rahmen von die WAHL GANG sind auf Resonanz gestoßen... Zudem ist mit der Aktion bpb: tour 2002 zum 50. Jubiläum der Bundeszentrale für politische Bildung einiges in Bewegung gekommen.
Krüger: Gerade die letztgenannte Aktion, vor Ort Gesicht zu zeigen, war für uns eine Herausforderung, denn wir sind als Institution auf Bundesebene angesiedelt und haben keine Verankerung in den Regionen, wo die Landeszentralen für politische Bildung agieren. Der Entscheidung lag eine klare strategische Überlegung zu Grunde: Man kann nicht bundesweite Angebote konzipieren und generieren, ohne zu wissen, wie sie lokal rezipiert werden. Man muss sich auch vor Ort der Diskussion stellen und ansprechbar sein. Politische Bildung muss so etwas kommunikativ umsetzen, um zukunftsfähig zu sein.
Länge: Vielleicht wäre das besser gelungen, wenn man die Träger früher und stärker einbezogen hätte.
Krüger: Leider hatten wir vergleichsweise wenig Vorbereitungszeit für das Vorhaben. Aber wir haben viele Erfahrungen gesammelt, wie wir es in Zukunft noch besser machen können. Wichtig ist uns, dass unsere Kooperationspartner vor Ort mit einbezogen werden und Synergien wirken können. Wie sich das dann im Einzelnen gestaltet, hängt von den örtlichen Bedingungen ab. Mal ist es ein Träger der politischen Bildung, mal ein Lehrer oder eine Lehrerin als Stammkunden der politischen Bildung, die die Angebote der bpb konsequent nutzen, mal ist es eine Landeszentrale für politische Bildung. Solche Akteure auf der lokalen Ebene müssen eingebunden werden. Hier liegt die Zukunft des Moduls bpb: tour 2002: Man muss in strategischen Allianzen vor Ort agieren.
Die Aktion Wahl-o-mat kam durch die Kooperation mit einem niederländischen Institut zustande. Das niederländische Modell haben wir dann weiterentwickelt und an das hiesige System angepasst. Der Clou daran ist, dass man auf spielerische Weise etwas organisiert, was Menschen zu einem politischen Thema führt. Das ist politische Bildung par excellence: etwas zu erfinden, zu konstruieren, das Menschen in Teilhabeprozesse verstrickt. Gerade bei jungen Erwachsenen hat das Angebot wie ein Lauffeuer gewirkt. Wir hatten, alles in allem, auf der Website der bpb und den angeschlossenen Seiten 3,1 Millionen Zugriffe zu verzeichnen, und zwar in der Form, dass der Wahl-o-mat konsequent durchgespielt wurde. Die bloßen Zugriffe lagen bei fast 20 Millionen. In der Auswertung, die von FORSA gemacht wurde, hat sich bestätigt, dass dies ein sensationelles Modul im Kontext des Projekts die WAHL GANG war. Dies gilt besonders für die Zielgruppe der Erstwählerinnen und Erstwähler, die schwer zu erreichen ist. Etwa 20 Prozent aus dieser Zielgruppe scheinen nach der Auswertung erreicht worden zu sein. Es gab zwar keine Steigerung der Wahlbeteiligung im Wahlkreis 084 (Friedrichshain-Kreuzberg), aber es gab im Unterschied zum allgemeinen Trend einen weit geringeren Rückgang der Wahlbeteiligung. Die Beteiligung der Erstwähler und Erstwählerinnen konnte weitgehend stabil gehalten werden. Das ist im Hinblick auf die allgemeine Situation bei der Bundestagswahl 2002 und auf die besondere Berlin-Problematik schon bemerkenswert.
Politik und politische Bildung
Länge: Jetzt sind natürlich viele, die gewählt haben, enttäuscht durch das, was sie erleben - und das lässt die Bildungsszene nicht unberührt. Es gibt ja eine Korrespondenz zwischen Politik und politischer Bildung. Wenn die Politik ein schlechtes Image hat, trifft das auch die Bildungsarbeit. Vielleicht kann man von kommunizierenden Röhren sprechen. Die Erwartungen an die politische Bildung sind oft dann besonders groß, wenn das Image der Politik am schlechtesten ist. Auch die Kommunikation zwischen Politik und politischer Bildung lässt ja stark zu wünschen übrig. Was ist da zu tun?
Krüger: Politische Bildung muss sich von der Politik emanzipieren. Das ist die einzige Chance, um nicht bei jeder Konjunkturschwäche der Politik selbst mit haftbar gemacht zu werden.
Länge: Aber beide sind doch nun einmal auf dasselbe politische Feld verwiesen.
Krüger: Gegebenheiten festlegen lassen. Sie muss darüber hinaus gehen und sich daran orientieren, was in der Zivilgesellschaft, bei NGOs, bei Initiativen und Netzwerken geschieht. Politische Bildung ist eben kein Legitimationsorgan für den stattfindenden Politikbetrieb. Positiv gesagt: Es geht darum, Demokratie und Teilhabe zu stärken - nicht gegen Parteien und Institutionen, sondern über sie hinaus. Wer heute politische Mitwirkung fördern will, kann doch wahrlich nicht damit anfangen, Jugendliche oder Erwachsene zum Parteieintritt aufzufordern. Es geht vielmehr darum, über politisch relevante Themen Interesse herzustellen oder anzuknüpfen an bereits artikulierten Interessen mit spezifischen Angeboten. Politische Bildung ist Partner für die Allianzen, die sich neben dem Politikbetrieb ergeben. Für die Zukunft der politischen Bildung ist es essentiell, eine solche Abkoppelung vorzunehmen.
Länge: Hält das die Politik aus?
Krüger: Ich stelle mir vor, dass es einmal wieder richtig krachen müsste zwischen der politischen Bildung und dem Politikbetrieb - nicht in dem Sinne, dass der politischen Bildung Parteinahme für die eine oder andere Richtung vorgeworfen wird, sondern dass an die wunden Punkte der Verfasstheit des Politikbetriebs gerührt, neues Terrain thematisiert und erschlossen wird. Das stellt die Politik auf der einen Seite in Frage, auf der anderen Seite ist es die Vitaminspritze, die der Betrieb braucht, um zukunftsfähig zu bleiben. Wir brauchen mehr Teilhabe und mehr Legitimität des Politischen. Und die Legitimität erhält man nicht, wenn man die Leute nur an die Wahlurne treten lässt.
Länge: Was vermag aber die Politik derzeit? Wir müssen ja heute konstatieren, dass sich viele Fragen der politischen Steuerung entzogen haben, dass Entscheidungsprozesse - Beispiel Hartz-Kommission - ausgelagert werden. Kann da ein konfrontativer Kurs der politischen Bildung weiterhelfen? Kommen wir so aus dem Konkurrenzverhältnis heraus?
Krüger: Aber gerade die erwähnten Kommissionen, die medial inszeniert werden, lösen ja in der Bevölkerung Diskussionen und - vielleicht nicht mehrheitlich, aber in relevantem Umfang - Teilhabebedürfnisse aus. Das ist ja gerade eine produktive Form, solche Teilhabebedürfnisse zu organisieren, ihnen ein Forum anzubieten. Politische Bildung muss sich als ein solches Forum verstehen, und die mediale Inszenierung kann hier hilfreich sein. Wir haben dazu die Internet-Plattform www.wahlthemen.de gemacht, um Debatten aufzugreifen und tiefer gehende Informationen bereitzustellen, eben das zu leisten, was Zeitungen oder Fernsehen nicht leisten können. Wir haben das mit Kooperationspartnern wie der Tagesschau gemacht, die ganz andere Zugriffspotenziale bieten kann.
Ein anderes Beispiel: Historische Dokumente zum 17. Juni 1953 oder zum Mauerbau sind in deutschen Archiven in Hülle und Fülle vorhanden. Die Aufgabe der politischen Bildung ist es, die Informationen aufzubereiten und zur Verfügung zu stellen. Hier kann sie ihre praktische Relevanz unter Beweis stellen. Politische Bildung kann beim Thema Zeitgeschichte eine Vorreiter-Rolle spielen. Sie kann zeitgeschichtliche Themen so konfigurieren, dass sie einen Gebrauchswert bekommen - bei politisch Interessierten im weitesten Sinne, aber natürlich auch im Blick auf bestimmte Interessenlagen und Adressaten. Die zielgruppenspezifische Aufbereitung von Wissen ist heute sehr wichtig.
Potenziale und Ressourcen
Länge: Das betrifft aber vorwiegend diejenigen, die in der einen oder anderen Form politisch interessiert sind. Nur existiert heute das Problem, dass wir immer mehr Personen als bildungsfern einstufen müssen. Anders gesagt: Der Weg zur politischen Bildung ist heute viel länger geworden.
Krüger: Dazu ein Hinweis. Karsten Rudolf hat in seinem "Bericht Politische Bildung 2002" aufgezeigt, dass das Potenzial außerschulischer politischer Bildung größer ist, als gemeinhin angenommen und durch die bisherige statistische Erfassung nahegelegt wird. Über die 9,8 Prozent hinaus, die bisher die Angebote kennen und/oder nutzen, könnten demnach weitere 38,5 Prozent für Maßnahmen der politische Bildung gewonnen werden. Diese Überlegung ist - ich lasse jetzt einmal alle sonstigen Anfragen an die Erhebung bei Seite - für sich genommen richtig, aber nicht ausreichend. Man muss vielmehr in Maßnahmen investieren, um an die fernstehenden, zunächst noch desinteressierten Gruppen heranzukommen. Man darf sich nicht daran gewöhnen, dass es eine Stammklientel der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung gibt. Man muss vielmehr für jede Klientel, die man erreichen will, das richtige Format wählen. Für die circa 48 Prozent, die man erreichen kann, muss ein anderes Format gewählt werden, als für die 52 Prozent, die bildungsfern sind.
Eine junge Auszubildende etwa, die froh ist, dass sie die Schule hinter sich und mit Politik nichts am Hut hat, kann ich nicht mit den üblichen Methoden erreichen. Didaktisch gesprochen sind hier Handlungsorientierung, das Aufgreifen von situativen Aspekten oder Lebensweltbezügen wichtig. Das ist das Prinzip, das konkret umgesetzt werden muss. Dazu gehören viele weitere Methoden, die ausprobiert werden müssen. Zum Beispiel sind die Wissensmengen entschieden zu reduzieren, niedrigschwellige Angebote zu unterbreiten. Wenn der oder die Betreffende ins Kino geht, muss man versuchen, die Unterhaltungsformate in das pädagogische Arrangement zu integrieren. Wenn der- oder diejenige gerne Musikvideos sieht, dann kann man das einbeziehen. Die bpb hat zum Beispiel mit Viva zusammen Wahlspots entwickelt, die im Vorfeld der Bundestagswahl 2002 auf dem Musiksender ausgestrahlt wurden. Dabei werden natürlich Häppchen verabreicht, die Sache soll Appetit machen. Ein politisches Thema XY wird platziert und man verweist zum Beispiel auf www.fluter.de, wo man dann mehr erfahren kann. Und fluter ist dann auch nur eine weitere Stufe, über die man zu einer inhaltlichen Auseinandersetzung gelangen kann. Es geht hier um Unterhaltungsangebote (Film, Musik), aber auch um persönlich (Beispiel: Sucht) oder politisch (Beispiele: Länderberichte, Terrorismus) relevante Fragen.
So findet eine Heranführung an politische Bildung statt. Ich bin keineswegs ein Idealist, der meint, dass wir die 52 Prozent mit Informations- und Bildungsangeboten ohne Weiteres erreichen können. Aber wenn wir in der beschriebenen Weise etwas in Bewegung setzen, wenn wir entsprechende Formate entwickeln, wenn wir deutlich machen, dass diese Gruppe nicht abgeschrieben ist, dann überschreiten wir eine Grenze. Die Politik wird es nicht groß kümmern, wenn wir bei unserer Stammkundschaft im engeren oder weiteren Sinne landen. Aber wenn wir darüber hinausgehen, ist das ein Fortschritt und heißt dann im Klartext: Wir haben Anspruch auf einen größeren Etat.
Länge: Es gibt heute ja einige Träger, die sich darauf konzentrieren Bildungsbenachteiligte zu erreichen. Ich kann Ihnen nur aus eigener Erfahrung sagen, dass dies eine Heidenarbeit ist. Sie kostet Zeit und Geld. Wenn das ausgebaut werden soll, braucht man natürlich ganz andere Ressourcen, denn das geht nicht im Rahmen kurzzeitpädagogischer Maßnahmen. Da müssen dann schon Projekte her.
Aber noch einmal zum Bericht von Karsten Rudolf. Es wird dort so getan, als gäbe es nur einen kleinen Bereich von 1 bis 5 Prozent, die tatsächlich erreicht werden, und daneben ein weites Feld, das brachliegt. Man könnte jetzt einiges zum Politik- und Bildungsbegriff des Berichts sagen. Ich will aber nur darauf aufmerksam machen, dass hier die Unterstellung mitschwingt, politische Bildung würde darauf verzichten, dieses Reservoir auszuschöpfen. Dabei handelt es sich ja darum, dass die Ressourcenlage momentan nicht mehr hergibt. Ich weiß es von einigen Trägern definitiv, dass sie viel mehr im Osten machen könnten, mindestens das Doppelte an Veranstaltungen. Dafür müssten dann aber die Ressourcen verbessert werden.
Krüger: Bei dem Verteilungskampf um Ressourcen wird heute sicherlich nicht nach Qualitätskriterien entschieden. Es wird politisch danach entschieden, was Erfolg verspricht. Deshalb halte ich es für eine Schlüsselfrage, dass das Image der Profession Politische Bildung verändert wird. Es müssen Erwartungshorizonte entstehen, so dass eine Mehrheit im Parlament sich bereit findet, etwas Neues zu versuchen. Darauf muss man hinarbeiten. Kritiker mögen sagen, das sei die Boulevardisierung der politischen Bildung. Wenn es aber dazu führt, dass man Ressourcen erschließt - so what?
Länge: Das Image der politischen Bildung, das muss man ergänzen, ist ja nicht nur defizitär. Immer wenn es gesellschaftliche Auffälligkeiten gibt - ob nun Rechtsradikalismus oder andere Fragen -, gibt das der politischen Bildung Auftrieb. Dann soll sie schnelle Eingreiftruppe sein, um missliebige Entwicklungen zu kanalisieren.
Krüger: Das ist ein bekanntes Dilemma, das uns zum Beispiel auch in der Jugendhilfe begegnet. Die Feuerwehrfunktion wird in den Vordergrund gerückt. Die neueren Debatten zum Rechtsextremismus seit Sommer 2000 etwa haben im Blick auf die politische Bildung die Notwendigkeit betont, auf die aktuellen Entwicklungen zu reagieren. Es ist zwar richtig, dass man nicht Feuerwehr spielen kann, man muss sich aber den aktuellen Fragen stellen. Hier sehe ich einen gewissen Nachholbedarf.
Länge: Ja, hier sollte die Profession sich einmal selbstkritisch befragen. Man muss das, was als Aufgabe, Anfrage oder Zumutung auf einen zukommt, positiv wenden. Ich würde es nie bei der Auskunft an die Politik bewenden lassen: Das machen wir ja alles schon. Nein, man sollte die neuen Akzente und Gesichtspunkte auf-greifen und im Sinne der eigenen Professionalität weiterentwickeln. Wenn das geschieht, muss man natürlich auch seitens der fördernden Stellen in Kauf nehmen, dass sich an aktuellen Streitfragen Meinungsbildungsprozesse entwickeln, so dass in einem Kurs auch einmal Position bezogen, zum Beispiel eine Resolution verabschiedet wird. In der Vergangenheit hat es da schon Schwierigkeiten gegeben, weil die Richtlinien der bpb so etwas angeblich verbieten.
Krüger: Wir haben inzwischen eine Änderung der Richtlinien vorgenommen, was aber nur der Anfang eines Prozesses sein kann. Wenn wir die besprochenen Innovationen wollen, dann brauchen die Partner der bpb mehr Spielraum. Da muss noch einiges getan werden.
Länge: Könnten hier nicht Rahmenvereinbarungen und Leistungsverträge ein Vorbild für eine angemessene Förderung der politischen Bildung sein? Ich denke in diesem Zusammenhang an entsprechende Absprachen, die es zwischen den großen Trägern der politischen Bildung und dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) im Rahmen des Kinder- und Jugendplans des Bundes (KJP) gibt. Solche Modelle könnten sowohl den Bildungsträgern als auch den fördernden Stellen eine erhebliche Verwaltungsvereinfachung bringen. Ich bin sehr der Meinung, dass diejenigen, die politisch entscheiden und Anforderungen stellen, sich mit diesen alltäglichen Verwaltungsfragen befassen und Verbesserungen anstoßen. Krüger: Man sollte einmal abwarten, wie sich die Dinge im Rahmen des KJP entwickeln. Ich finde die Diskussion, die hierzu am Runden Tisch in Gang gekommen ist, sehr hilfreich.
Länge: Vielleicht müsste am Runden Tisch die inhaltliche Diskussion noch vertieft werden. Aber dass das Gremium auf den Weg gebracht wurde, ist auf jeden Fall ein Plus. In diesem Zusammenhang möchte ich noch ein anderes Thema ansprechen, das ebenfalls am Runden Tisch verhandelt wurde: die Situation in den neuen Bundesländern. Es wurde dort über die Notwendigkeit von Umverteilungsmaßnahmen gesprochen, aber mit dem Mitteltransfer ist es ja nicht getan.
Krüger: Nein, gewiss nicht. Wir brauchen hier mehr, wir brauchen einen Paradigmenwechsel, so wie ihn Hans-J. Misselwitz letzt angedeutet hat (Aus Politik und Zeitgeschichte, B 45/2002). Um die Legitimität der politischen Bildung in den neuen Bundesländern zu verankern, müssen wir die Entgrenzung der Disziplin vorantreiben. Interdisziplinarität wird im Osten sicherlich eine größere Rolle spielen. Wir müssen andere Partner finden, wir müssen Überraschungen schaffen, die die "reservierte Distanz", von der Misselwitz spricht, ein Stück weit überwinden. Dazu sind andere Orte und Personen hinzuzuziehen, die so etwas ermöglichen. Und wir müssen bisherige Ansätze überprüfen. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Totalitarismustheorie, die Anfang der 90er Jahre wieder auflebte, die Menschen von politischer Bildung eher entfernt als angezogen hat. Die Ostdeutschen bekamen gewissermaßen gesagt, dass sie nicht nur in einer Diktatur gelebt hätten, sondern selbst (mentale) Teile der totalitären Herrschaft seien. Das ist nicht besonders aufbauend und motivierend. Wir haben in der bpb jetzt ein Buch produziert, das im Osten zum Geheimtipp avanciert ist. Es heißt "Rock in der DDR" und macht eine Szene zugänglich, die nicht unbedingt dem offiziellen DDR-Bild entsprach. An solchen alltagskulturellen Dingen anzusetzen, das ist meines Erachtens viel produktiver.
Länge: Das gilt aber nicht nur für den Osten, sondern auch für den Westen. Wir diskutieren das ja unter dem Stichwort Entgrenzung der politischen Bildung. Ich bin der Meinung, dass wir, wenn die Eigenständigkeit der politischen Bildung gesichert ist, über einen professionellen Hintergrund verfügen, der eine solche Entgrenzung erlaubt.
Krüger: Dem stimme ich zu, im Osten hätte man das Dialektik genannt. Ich möchte es so formulieren: Politische Bildung braucht ein Gesicht, sie braucht ein Profil, aber sie muss in der Praxis die Grenzen der Disziplin überschreiten, um wirksam zu werden.
Thomas Krüger ist seit 2000 Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung. Theo W. Länge ist Bundesgeschäftsführer von Arbeit und Leben und Vorsitzender des Bundesausschusses Politische Bildung (BAP). Aufgezeichnet wurde das Gespräch von Johannes Schillo, Redaktion Praxis Politische Bildung.