Meine sehr verehrten Damen und Herren,
im Herbst wird in einer Berliner Verlagsgruppe die so genannte "DDR-Box" erscheinen – eine Blechkiste, die auf 0,05 Quadratmetern, wie es in der Werbung heißt, "ein Stück Original-DDR" präsentieren will. Zum Inhalt der ersten Auflage gehören ein Einkaufsnetz, eine Flasche Büroklebstoff "Barofix", ein Bastelset des Trabant, eine Urkunde "Held der Arbeit" und ein Jahreskalender 2004 mit den, man glaubt es kaum, von Walter Ulbricht auf dem V. Parteitag im Juli 1958 verkündeten, unseligen "Zehn Geboten für den neuen sozialistischen Menschen". "Die DDR-Box ziert Schrankwand und IKEA-Regal gleichermaßen, das ist das ideale Partygeschenk! Unverfälschte Vergangenheit, Erinnerung pur, Aufklärung" heißt es im Prospekt. Der Verlag ist vom Erfolg des Produktes überzeugt.
Natürlich ist mir bewusst, dass derlei Ost-Folklore, die sich offenbar gut vermarkten lässt, nicht einfach unter dem Rubrum "DDR-Nostalgie" abzubuchen ist. Vielleicht geht es, wer wüsste das besser als Sie, die Sie mit der musealen Präsentation der deutschen Teilungsgeschichte bestens vertraut sind, vor allem um Authentizität ostdeutsch Sozialisierter in unruhigen Zeiten - eine Authentizität, welche der originalen Dinge bedarf, um unter Rückgriff auf Vertrautes Handlungssicherheit für die Gegenwart zu erlangen.
Aber meines Erachtens ist das nur die halbe Wahrheit. Wenn derartige Reminiszenzen, die für sich genommen unbedeutend sind, "Aufklärung" und Wahrhaftigkeit beanspruchen, und sei es nur ironisierend, ist politische Bildung gefragt. Wenn ein Buch namens "Fragen an die DDR" aus demselben Verlag auf 250 Seiten "Alles, was man über den deutschen Arbeiter-und-Bauern-Staat wissen muss" verspricht und es dazu heißt, angesichts des geringen Wissens über den SED-Staat 13 Jahre nach dessen ruhmlosem Untergang würden hier "erstmals sachlich in Frage und Antwort Grundkenntnisse über dieses Land vermittelt", ist politische Bildung alarmiert.
Es ist leider wahr: Die Kenntnisse der deutschen Teilungsgeschichte sind unter Jugendlichen, die 1989 gerade geboren waren, mangelhaft. In den Schulen droht die DDR- bzw. die Teilungsgeschichte zum weißen Fleck zu werden. Aktuelle Meinungsumfragen scheinen zu belegen, dass nur eine Minderheit der unter 24-Jährigen das Datum des 17. Juni 1953 historisch einigermaßen zuverlässig einzuordnen weiß. Eine Studie des Instituts für Hochschulforschung an der Universität Halle-Wittenberg hat ermittelt, dass die Beschäftigung mit dem Thema DDR an deutschen Hochschulen stark rückläufig ist. Vor zwei Jahren war sie auf dem vergleichsweise dürftigen Stand von 1990 angekommen: Im Wintersemester 2000/2001 gab es an 62 Prozent der deutschen Universitäten keine einzige einschlägige Lehrveranstaltung. Das sind keine guten Aussichten für künftige Multiplikatoren. Denn es entscheidet sich heute, ob dieser Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte künftig in Lehrplänen und in der Gestaltung des Unterrichts angemessen berücksichtigt werden kann.
Dem sollte politische Bildung entgegenwirken. Doch ganz so einfach ist das nicht. Wir wissen aus einer aktuellen Auswertung unserer Kunden- bzw. Nutzerdaten, dass sich die Themenbereiche "Deutsche Einheit" und "Deutsche Geschichte" bei den bis zu 27-Jährigen nur mehr begrenzter Attraktivität erfreuen. Und es ist eine deutliche Spaltung festzustellen: Bei den Nutzerinnen und Nutzern aus Ostdeutschland stehen diese Themen vergleichsweise hoch im Kurs, bei denen im Westen hingegen dominieren andere.
Wenn man bedenkt, dass die wissenschaftliche und publizistische Kommentierung unzähliger Facetten der DDR-Geschichte insgesamt, trotz der gegenwärtigen Flaute, sehr weit fortgeschritten ist, sind derartige Befunde beschämend. Vergleichen Sie den Stand der DDR-Forschung etwa mit dem Wissen über die NS-Zeit in der alten Bundesrepublik im Jahr 1958; kaum ein Aspekt der DDR-Geschichte ist unbeackert geblieben. Oder denken Sie an die voluminösen, in zwei großen Reihen auf mehreren Tausend Seiten präsentierten Ergebnisse der beiden Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages. Hier und da gab es in den Neunzigern sogar einen Überdruss, etwa, was das Thema Staatssicherheit betrifft.
Was immer noch weitgehend fehlt, ist bezeichnenderweise die Erforschung der alten Bundesrepublik – und demzufolge auch die Erhellung unserer "asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte", wie der Titel dieser Tagung so schön lautet. Das hat Folgen. Insbesondere die Ahnungslosigkeit vieler Westdeutscher der Geschichte der Teilung gegenüber muss betroffen machen. Ist die Auseinandersetzung mit jenen 40 Jahren im Osten nicht selten noch immer emotionsgeladen, trifft man in Westdeutschland häufig auf Indifferenz – bestenfalls. Bisweilen hört man auch die Meinung: Der Westen hat doch gesiegt, warum also sich mit dieser historischen Fußnote östlich der Elbe befassen?
Eine solche Einstellung wäre nicht nur ignorant, sie verkennt auch, dass die unterschiedlichen Geschichtsbilder ihre Prägekraft noch nicht verloren haben und die Sicht auf die Gegenwart weiter bestimmen. Als etwa die Demoskopen von Allensbach anlässlich des 50. Jahrestages der Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg danach fragten, wer die entscheidende Rolle beim Sieg über den Nationalsozialismus gespielt habe, antworteten 69 Prozent der Westdeutschen "die USA", 87 Prozent der Ostdeutschen "die Sowjetunion".
Es muss allerdings zuerst darum gehen, Interesse für die deutsche Teilungsgeschichte zu wecken. Im Internetzeitalter genügen die traditionellen Instrumente der Multiplikatoren - Printprodukte und Veranstaltungen - allein längst nicht mehr, es gilt, sich zusätzlich zu der seriösen Erarbeitung dessen, was war, der Medien und der Kooperationspartner zu bedienen, die zur Verfügung stehen. Im globalen Netz sind die Möglichkeiten, aktuelle, schnelle Informationen zu liefern und zugleich auf Produkte der Bundeszentrale, die sich für eine Vertiefung eignen, hinzuweisen, ideal. Das Internet bietet zudem vor allem für jugendliche Zielgruppen einen Anreiz, so dass Zugangsschwellen herabgesetzt werden.
Ist das Interesse geweckt, folgt sogleich die nächste Frage: Welches Ziel soll eine Auseinandersetzung politischer Bildung mit der Geschichte der deutschen Teilung verfolgen? Ich rede hier gar nicht dem Mythos einer "inneren Einheit" das Wort – von manchen als Idealzustand gedacht, in dem Konsens über die Vergangenheitsbewertung und die Gegenwartssicht herrschen möge. Ein solch harmonistisches Idyll ist mir ein Gräuel. Aber ein großes Stück Teilung in den Köpfen harrt noch der Überwindung, wenn wir uns selbstbewusst der jüngsten Zeitgeschichte vergewissern wollen. Politische Bildung kann zu einem gesamtdeutschen Gedächtnis an die Zeit der Teilung beitragen.
Es ist beileibe noch nicht selbstverständlich, von einer "asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte" auszugehen. Warum überhaupt "asymmetrisch"? Es geht doch nicht um Erfolgs- oder Misserfolgsstaat; zeitweilig waren beide deutsche Staaten ja geradezu Modelle ihrer jeweiligen Blöcke. Es geht darum, zu erkennen, wie beide Staaten aufeinander angewiesen waren, ja, wenn auch auf unterschiedliche Weise, voneinander lebten. Mir scheint, es ist viel zu wenig bewusst, wie sehr beide Staaten – und ihre Menschen – 40 Jahre lang aufeinander schauten. So galt die Bundesrepublik wohl der Mehrzahl der DDR-Bürger als "Goldener Westen", ein Klischee, produziert vom fast überall empfangbaren Westfernsehen. Und die DDR? Sie war den meisten Westdeutschen eine Folie, eine negative zwar, aber doch eine Bezugsgröße, ohne deren Existenz die politische Kultur der alten Bundesrepublik nicht zu erklären wäre. Der Ruf "Geh doch rüber" wurde nicht nur 1968 den Aufmüpfigen entgegengeschleudert.
Beide Staaten hatten unterschiedlich schwer an den Folgen der deutschen und europäischen Katastrophe von 1933 zu tragen. Die beiden gegensätzlichen Gesellschaftssysteme waren das Ergebnis der Niederlage Hitlerdeutschlands. Die Bundesrepublik gelangte rasch zu Reichtum und war als "unsichtbarer Dritter" in allen Beziehungen der DDR zu Drittstaaten präsent. Aber müsste nicht auch eingestanden werden, dass Adenauers lange, im Zeichen der Westintegration stehende Kanzlerschaft wesentlich auf der Ablehnung des Ostens, auf der Negativfolie DDR beruhte? Dass der gesamtdeutsche Ostpolitiker Willy Brandt ohne die in Berlin so schmerzhaft miterlebte deutsche Teilung, ohne die Mauer, die sein Denken prägte und deren Überwindung er sein Leben widmete, nicht vorstellbar gewesen wäre? Dass Helmut Kohls Amtszeit ohne seine entschlossene Politik 1989/90 wohl bereits nach nur acht und nicht erst nach 16 Jahren beendet gewesen wäre?
Auch spannende Fragen nach der gegenseitigen Wahrnehmung wären in diesem Kontext zu beantworten. Wie begegnen Westdeutsche heute der DDR? Wie weit trägt die Feiertagsrhetorik von den "Brüdern und Schwestern"? Wie erinnern sich ehemalige DDR-Bürgerinnen und Bürger heute an ihre damalige Wahrnehmung der Bundesrepublik? Der Leipziger Jugendforscher Peter Förster betreut seit 1987 eine Längsschnittuntersuchung der politischen Einstellungen damals junger DDR-Bürger. Die aktuellen Ergebnisse sind in einem Themenheft von "Aus Politik und Zeitgeschichte" erschienen. Eine der letzten Befragungswellen stellte fest, dass die jungen Ostdeutschen des Geburtsjahrganges 1972/73 heute zu Protokoll geben: "Es war nicht alles falsch, was wir damals in der DDR über den Kapitalismus erfahren haben." Eine Erkenntnis, die sich vor der Tatsache erklärt, dass über die Hälfte der Befragten mittlerweile eigene Erfahrungen mit Jobverlust und Arbeitslosigkeit gemacht haben. Zur Enttäuschung über die Politik der SED in der Endzeit der DDR ist Ernüchterung über die Verhältnisse im vereinten Deutschland getreten, und sozialistische Ideale erleben eine überraschende Wiederkehr. Es geht also beim Umgang mit der Teilungsgeschichte sehr wohl auch um die Klärung aktueller Befindlichkeiten, um die politische Kultur, um die Zivilgesellschaft am Anfang des 21. Jahrhunderts, die nur dann eine demokratische sein kann, wenn unterschiedliche Geschichtssichten öffentlich registriert werden.
Erlauben Sie mir an dieser Stelle einen auf den ersten Blick nebensächlichen Exkurs, wiewohl er die komplizierte deutsch-deutsche Zweierbeziehung vielleicht weiter erhellt. Lange Zeit wurden die Fußballländerspiele separat gezählt. Ulf Kirsten etwa, der jüngst bei Bayer Leverkusen seinen Abschied aus der Bundesliga gab, absolvierte von 1990 bis zum Jahr 2000 genau 51 Länderspiele für Deutschland. Die zuvor absolvierten 49 "Auswahlspiele für die DDR", wie es heißt, werden erst seit einigen Jahren auch offiziell als deutsche Länderspiele in der DFB-Statistik geführt. Mit insgesamt 100 Berufungen gehört Kirsten zu Deutschlands Rekordnationalspielern; ebenso wie "Dixie" Dörner, der "Beckenbauer des Ostens", der 100-mal allein für die DDR spielte und sein DDR-Team 1974 in Hamburg zum 1:0-Sieg über die unter der Bezeichnung "Deutschland" antretende Fußballauswahl der Bundesrepublik führte, und Joachim Streich, der sogar 102-mal im Trikot der DDR auflief. Ob die Bundesrepublik ohne die heilsame Vorrundenniederlage 1974 tatsächlich Weltmeister geworden wäre? Jürgen Sparwasser übrigens, der Torschütze von Hamburg, flüchtete in den achtziger Jahren in die Bundesrepublik, und seine Heldentat wurde aus den Annalen des DDR-Fußballs getilgt.
Die fortdauernde Teilung des Erinnerns hat auch den Museumsalltag beschäftigt. In den neunziger Jahren kam es zu mancherlei Missstimmungen bei der musealen Präsentation der schwierigen deutschen Teilungsgeschichte. Helmut Kohl hatte in seiner ersten Regierungserklärung am 13. Oktober 1982 die Errichtung eines zeitgeschichtlichen Museums angekündigt. Als das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland im Juni 1994 in Bonn eröffnet wurde, gab es die DDR nicht mehr. Direktor Hermann Schäfer betonte, man habe die Gesamtkonzeption des Projektes nur erweitern bzw. neu akzentuieren müssen. Doch es hagelte Kritik. Zwar hingen im Erdgeschoss des Hauses der Bundesadler aus dem ersten Plenarsaal und Hammer und Zirkel aus dem Staatsratsgebäude einträchtig nebeneinander, aber viele Aspekte der DDR-Geschichte erschienen buchstäblich hinter Gittern und Drahtverhauen, wirkten angehängt, hatten nicht wirklich zu tun mit der westdeutschen Geschichte. Die SBZ/DDR erschien vor allem vor der Folie der westdeutschen Erfolgsgeschichte. Die Demokratiebewegung tauchte nur am Rande auf. Und ein Teppich mit den eingangs bereits erwähnten Zehn Geboten Ulbrichts diente als Fußabtreter. "So behandelt man einen toten Gegner nicht", schrieb damals die Berliner Zeitung. Längst ist die Präsentation im Haus der Geschichte verändert worden. Ein Besuch lohnt sich – übrigens auch im Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig, das sich als Außenstelle des Bonner Hauses vor allem der Geschichte von Opposition und Widerstand in der DDR widmet.
1996 wurde im Deutschen Historischen Museum die Propagandageschichte der frühen DDR thematisiert. Leider fehlte damals ein Vergleich mit der Bild- und Propagandasprache der frühen Bundesrepublik; die bedrohlichen Asiaten-Augen und der Spruch "Alle Wege des Sozialismus führen nach Moskau" auf einem frühen Wahlplakat sind der unerlässliche Resonanzboden für die monumentale Sozialismus-Romantik der jungen DDR. Ich erinnere ferner an den Eklat im Weimarer Gau-Forum, als 1999 die Hängung von Kunstwerken aus der NS-Zeit und aus der DDR in der Ausstellung "Aufstieg und Fall der Moderne" mehr als eine zeitliche Kontinuität der deutschen Diktaturen suggerierte. Diese Zeiten sind hoffentlich vorbei. Als 1999 im Martin-Gropius-Bau in Berlin "Wege der Deutschen 1949-1999" in einer monumentalen Schau zu besichtigen waren, erschloss sich die doppelte Geschichte aus einer Vielzahl von Installationen und thematischen Querschnitten. Besonders gelungen waren Gegenüberstellungen der Alltagskultur: Beim Thema Film etwa repräsentierten "Grün ist die Heide" bzw. "Ernst Thälmann, Sohn seiner Klasse" die fünfziger, "Die Blechtrommel" bzw. "Jakob, der Lügner" die siebziger Jahre.
Die Teilungsgeschichte erschöpft sich also nicht in Herrschaftsgeschichte. Sie ist jedoch ebenso wenig auf ein kabarettistisches "Es-war-nicht-alles-schlecht" zu reduzieren. Natürlich war nicht alles schlecht. Die Bundeszentrale hat eine Fülle von Produkten erarbeitet, die sich um einen gesamtdeutschen Blickwinkel bemühen. Christoph Kleßmanns 1991 in der fünften Auflage erschienener Schriftenreihe-Band "Die doppelte Staatsgründung" war Anfang der achtziger Jahre eine Pionierarbeit, mit der erstmals die gesamtdeutsche Geschichte von 1945 bis 1955 in den Blick genommen wurde – und das noch zur Zeit der Teilung. Allein acht Publikationen aus unserer überaus populären und reich illustrierten "Zeitbilder"-Reihe widmen sich vielfältigen Aspekten der DDR- bzw. der deutschen Teilungsgeschichte; die Themen reichen von einer Geschichte der Deutschlandpolitik über "Ostdeutsche Wirtschaft im Umbruch 1970-2000" bis zur Rockmusik in der DDR. In Kürze folgt ein neunter Band über die DDR in den fünfziger Jahren. Im Herbst erscheint in unserer Schriftenreihe ein Sammelband, der sich mit der deutschen Diktaturgeschichte des 20. Jahrhunderts befasst. Das ist nun ohne den Furor möglich, der die ersten Debatten über die "doppelten Diktaturen" Anfang der neunziger Jahre begleitet und zu einem zweifelhaften Revival des Totalitarismusansatzes geführt hatte. In vielleicht sperrig klingenden Themenstellungen wie "Kulturföderalismus und zentralistischer Herrschaftsanspruch in Sachsen 1933-1952" gilt es, sich einer deutschen Gesellschaftsgeschichte zu nähern, die gemeinsame Wurzeln des vereinten Deutschlands beschreibt.
Gleiches gilt für die aktuellen Geschichtsdebatten, die im Kern vielleicht nichts anderes als Zwischenergebnisse auf dem Weg zu einem gesamtdeutschen Geschichtsbild darstellen. Denken Sie nur an die Diskussionen um Flucht und Vertreibung, den Bombenkrieg, Stalingrad. Die Deutschen vornehmlich als Kriegsopfer – das ist neu. Oder an den gerade erst begangenen 50. Jahrestag des Volksaufstandes in der DDR: Hier war ein wahrer "Geschichtsboom" zu verzeichnen, wie Ehrhart Neubert in der "Welt" bemerkte. Die Stiftung Aufarbeitung zählte bundesweit über 500 Veranstaltungen, und auch die Fernseh- und Rundfunkanstalten standen nicht nach. In der DDR wurde die Erinnerung an das Datum verdrängt und verschwiegen, in der Bundesrepublik erstarrte sie zum Ritual. Der gut erforschte 17. Juni 1953 ist auf dem besten Wege, zu einem ersten gesamtdeutschen Erinnerungsdatum an die Zeit der Zweistaatlichkeit zu werden; vielleicht gehört er in eine Reihe mit den Jahreszahlen 1848 und 1989.
Es gilt, diesen Boom zu nutzen. Auf der gemeinsam mit dem Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und dem DeutschlandRadio präsentierten Internetplattform der Bundeszentrale zum 17. Juni 1953 finden Interessierte multimedial unterstützt Grundinformationen über den Volksaufstand, darunter auch zahlreiche Zeitzeugenberichte aus allen Bezirken der DDR. Die hohe Zahl von nachweisbaren Seitenaufrufen gibt uns Recht. Die Surfer können sich selbständig eine Chronik der Ereignisse erschließen und zum Teil bislang unveröffentlichte Ton- und Bilddokumente auf sich wirken lassen – ein Musterbeispiel dafür, wie politische Bildung in zeitgemäßer Form Instrumente und Informationen zur Verfügung stellen kann, um den Umgang der Deutschen in Ost wie in West mit historischen Gegebenheiten vor 1989 aufzuarbeiten. So können wir dazu beitragen, zu einer gesamtdeutschen Sicht auf lange unbeachtete, ja zum Teil verpönte Aspekte deutscher Zeitgeschichte zu gelangen.
Nehmen Sie das Thema Flucht und Vertreibung, mit dem in beiden Staaten so unterschiedlich verfahren wurde: Plötzlich könnte sich herausstellen, dass die Interessen der Kinder und Enkel von Vertriebenen auf frappierende Weise mit den Interessen gleichaltriger Polen, Tschechen oder Ungarn übereinstimmen, denn die einen wie die anderen forschen nach den Tiefenschichten von Orten und Landschaften und Geschichten, die ihnen aus unterschiedlichen Gründen vorenthalten worden sind. Wie Helga Hirsch in einem Beitrag für "Aus Politik und Zeitgeschichte" betont, der zur Frankfurter Buchmesse erscheinen wird, suchen die einen wie die anderen die weißen Flecken in den Geschichten ihrer Familien und Völker auszufüllen. Sie suchen nach untergegangenen Vergangenheiten, in denen die Geschichte ihren ganzen Reichtum und ihre ganze Vielfalt offenbart und alle Kulturgüter für alle zugänglich sind. Insofern enthalten die Bemühungen um ein gesamtdeutsches, vielleicht europäisches Geschichtsbild nichts Einengendes, Beängstigendes, aber viel Befreiendes, Aufklärerisches, Heilendes. Denn lange verdrängte, abgespaltene Teile werden offenbar zunehmend ins kollektive und individuelle Gedächtnis integriert.
Die Aufarbeitung der langen Jahre der Teilung steht daher auch in den kommenden Jahren im Mittelpunkt der Arbeit meines Hauses. Es geht es um das Bewusstwerden dessen, was war – es geht um die Überwindung der Teilung mit den Mitteln politischer Bildung. Die beiden Staaten bestanden 40 Jahre, die Mauer und die mörderischen Grenzbefestigungen 27 Jahre; es wäre geradezu ein Wunder, wenn sich das Thema nach nur 13 Jahren für die politische Bildung erledigt hätte. Wunder aber geschehen nur selten, und wir sollten uns mit dem der gewaltlosen Revolution des Herbstes 1989 begnügen.
Ich möchte mit einem Zitat von Wolfgang Thierse enden, der auf dem Geschichtsforum "Getrennte Vergangenheit – gemeinsame Geschichte?" im Mai 1999 im ehemaligen Preußischen Landtag in Berlin ausführte: "Eine zivile Bürgergesellschaft, die sich ihrer eigenen Identität bewußt geworden ist über einen öffentlichen, diskursiven Selbstaufklärungsprozeß, wird die nötigen Tugenden des Mutes und der Gelassenheit dazu entwickeln, um die anstehenden Probleme zu meistern. Darin besteht die Chance einer besseren Zukunft in Deutschland gegenüber den enttäuschten Hoffnungen vergangener Jahrzehnte."
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.