Meine sehr verehrten Damen und Herren,
die DDR hat Konjunktur. 13 Jahre nach dem friedlichen Ende der Diktatur florieren "DDR-Shows" auf öffentlich-rechtlichen wie privaten Fernsehkanälen. Welches Bild des untergegangenen Staates wird uns dort vorgeführt? Eisprinzessin Katarina Witt präsentiert stolz die Uniform der Jungen Pioniere, und Boxchampion Henry Maske steigt noch einmal in einen "Trabant". Hier findet die Wiederaneignung eines Alltags statt, der so schlecht nicht war, in dem natürlich auch gelebt, gelacht und geliebt wurde, in dem der lange Arm der Staatssicherheit nun wirklich nicht darüber entschied, ob es billige Schrippen im "Konsum" gab und welchen Inhalt die Schulfedermäppchen hatten.
Natürlich ist mir bewusst, dass derlei verniedlichende Ost-Folklore, die sich derzeit gut vermarkten lässt, nicht einfach unter dem Rubrum "DDR-Nostalgie" abzubuchen ist. Vielleicht geht es vor allem um Authentizität ostdeutsch Sozialisierter in ungemütlichen Zeiten – eine Authentizität, welche der originalen Dinge bedarf, um unter Rückgriff auf Vertrautes Selbstvergewisserung und Handlungssicherheit in der Gegenwart zu erlangen. Es geht auch um die Schwierigkeit, Abschied zu nehmen, wie es Wolfgang Becker, Regisseur des Erfolgsfilms "Good-Bye, Lenin" treffend formuliert hat.
Aber meines Erachtens ist das nur die halbe Wahrheit. Wenn derartige Revue-Reminiszenzen "Aufklärung" und Wahrhaftigkeit beanspruchen, und sei es nur ironisierend, ist politische Bildung gefragt. Auf der Frankfurter Buchmesse vor zwei Wochen präsentierte eine Berliner Verlagsgruppe die so genannte "DDR-Box" – eine Blechkiste, die auf 0,05 Quadratmetern, wie es in der Werbung heißt, "ein Stück Original-DDR" abbilden will. Zum Inhalt der ersten Auflage gehören ein Einkaufsnetz, eine Flasche Büroklebstoff "Barofix", ein Bastelset des "Trabant", eine Urkunde "Held der Arbeit" und ein Jahreskalender 2004 mit den, man glaubt es kaum, von Walter Ulbricht auf dem V. Parteitag im Juli 1958 verkündeten, unseligen "Zehn Geboten für den neuen sozialistischen Menschen". "Die DDR-Box ziert Schrankwand und IKEA-Regal gleichermaßen, das ist das ideale Partygeschenk! Unverfälschte Vergangenheit, Erinnerung pur, Aufklärung" heißt es im Prospekt. Der Verlag ist vom Erfolg des Produktes überzeugt.
Wenn ein Buch namens "Fragen an die DDR" aus demselben Verlag auf 250 Seiten "Alles, was man über den deutschen Arbeiter-und-Bauern-Staat wissen muss" verspricht und es dazu heißt, angesichts des geringen Wissens über den SED-Staat 13 Jahre nach dessen ruhmlosem Untergang würden hier "erstmals sachlich in Frage und Antwort Grundkenntnisse über dieses Land vermittelt", ist politische Bildung alarmiert.
Es ist leider wahr: Die Kenntnisse der deutschen Teilungsgeschichte sind unter Jugendlichen, die 1989 gerade geboren waren, mangelhaft. In den Schulen droht die DDR- bzw. die Teilungsgeschichte zum weißen Fleck zu werden. Meinungsumfragen, die vor der Massenmedialisierung des Datums in diesem Frühjahr erhoben wurden, belegen, dass nur eine Minderheit der unter 24-Jährigen den 17. Juni 1953 historisch einigermaßen zuverlässig einzuordnen wusste. Eine Studie des Instituts für Hochschulforschung an der Universität Halle-Wittenberg hat ermittelt, dass die Beschäftigung mit dem Thema DDR an deutschen Hochschulen stark rückläufig ist. Im Wintersemester 2000/2001 gab es an 62 Prozent der Universitäten keine einzige einschlägige Lehrveranstaltung. Das sind keine guten Aussichten für künftige Multiplikatoren. Denn es entscheidet sich heute, ob dieser Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte künftig in Lehrplänen und in der Gestaltung des Unterrichts angemessen berücksichtigt werden kann.
Wenn man bedenkt, dass die wissenschaftliche Erforschung und publizistische Kommentierung der DDR insgesamt sehr weit fortgeschritten sind, beschämen derartige Befunde. Vergleichen Sie den Stand der DDR-Forschung mit dem Wissen über die NS-Zeit in der alten Bundesrepublik im Jahr 1958: Kaum ein Aspekt ist unbeackert geblieben. Denken Sie etwa an die voluminösen, in zwei großen Reihen auf mehreren Tausend Seiten präsentierten Ergebnisse der beiden Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages. Die jüngst vorgelegte Festschrift für Hermann Weber über "Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung" verzeichnet über 2000 Einzelpublikationen zu allen Bereichen und Facetten der DDR-Geschichte. Was dagegen immer noch weitgehend aussteht, ist bezeichnenderweise die Erforschung der alten Bundesrepublik – und demzufolge auch die Erhellung unserer "asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte". Das hat Folgen. Insbesondere die Ahnungslosigkeit vieler Westdeutscher der Geschichte der Teilung gegenüber muss betroffen machen. Ist die Auseinandersetzung mit jenen 40 Jahren im Osten zum Teil folkloristisch, zum Teil noch immer emotionsgeladen, trifft man in Westdeutschland häufig auf Indifferenz – bestenfalls. Bisweilen hört man auch die Meinung: Der Westen hat doch gesiegt, warum also sich mit dieser historischen Fußnote östlich der Elbe befassen?
Eine solche Einstellung wäre nicht nur ignorant, sie verkennt auch, dass die unterschiedlichen Geschichtsbilder ihre Prägekraft noch nicht verloren haben und die Sicht auf die Gegenwart weiter bestimmen. Die Historikerin Annette Leo hat in einem aktuellen Beitrag unserer Zeitschrift "Aus Politik und Zeitgeschichte" dargestellt, wie unterschiedlich die Erinnerung an die beiden Diktaturen im letzten Jahrhundert ist. In der neuen Bundesrepublik herrscht kein kollektives Selbstverständnis über die Geschichte der DDR. Es gibt keinen Konsens über die Beurteilung des SED-Staates und seine Einordnung in den europäischen Kontext. Aber auch die NS-Geschichte wird keineswegs gemeinsam erinnert; in Ostdeutschland, so Leo, sei eine Verkoppelung der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Debatte um die SBZ/DDR-Geschichte festzustellen. Und als die Demoskopen von Allensbach anlässlich des 50. Jahrestages der Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg danach fragten, wer die entscheidende Rolle beim Sieg über den Nationalsozialismus gespielt habe, antworteten 69 Prozent der Westdeutschen "die USA", 87 Prozent der Ostdeutschen "die Sowjetunion". Der fortschreitenden Unkenntnis der deutschen Teilungsgeschichte muss politische Bildung entgegenwirken. Doch ganz so einfach ist das nicht. Wir wissen aus Auswertungen unserer Kunden- bzw. Nutzerdaten, dass sich die Themenbereiche "Deutsche Einheit" und "Deutsche Geschichte" bei den bis zu 27-Jährigen nur mehr begrenzter Attraktivität erfreuen. Es muss zuerst darum gehen, Interesse für die deutsche Teilungsgeschichte – und ihre Vorgeschichte - zu wecken, ließen sich daraus doch Lehren und Anregungen für die politische Bildungsarbeit im 21. Jahrhundert ziehen.
Couragiertem Eintreten für Bürgerrechte und Demokratie unabhängig vom tagesaktuellen Zustand unserer Verfassungsorgane zur Akzeptanz zu verhelfen ist nicht leicht. Wie ist jüngeren Generationen zu vermitteln, dass es sich lohnt, für demokratische Grundüberzeugungen, ja, für die Menschenrechte einzutreten, wenn es doch in Leipzig oder Bautzen im Herbst 2003 so viel leichter fällt – und wirkungsloser zu verhallen scheint – als in der "Heldenstadt" im Herbst 1989? Dabei geht es nicht um einen erhobenen Zeigefinger gegen Nachgeborene, nein, politische Bildung muss die Sprache derer sprechen, die sie erreichen will. Im Mittelpunkt steht nicht allein der historische Erkenntnisgewinn, sondern vielmehr und vor allem eine Sensibilisierung für Gefahren und Gefährdungen der aktuellen Demokratie und ein Aufruf zum aktiven Mitwirken in der Gesellschaft. Welches Ziel soll eine Auseinandersetzung politischer Bildung mit der Geschichte der deutschen Teilung verfolgen? Ich rede hier gar nicht dem Mythos einer "inneren Einheit" das Wort – von manchen als Idealzustand gedacht, in dem Konsens über die Vergangenheitsbewertung und die Gegenwartssicht herrschen möge. Ein solch harmonistisches Idyll ist mir ein Gräuel. Aber ein großes Stück Teilung in den Köpfen harrt noch der Überwindung, wenn wir uns selbstbewusst der jüngsten Zeitgeschichte vergewissern wollen. Politische Bildung kann zu einem gesamtdeutschen Gedächtnis an die Zeit der Teilung beitragen.
Es ist beispielsweise noch nicht selbstverständlich, von einer "asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte" auszugehen. Warum überhaupt "asymmetrisch"? Es geht doch nicht um Erfolgs- oder Misserfolgsstaat; zeitweilig waren beide deutsche Staaten ja geradezu Modelle ihrer jeweiligen Blöcke. Es geht darum, zu erkennen, wie beide Staaten aufeinander angewiesen waren, ja, wenn auch auf unterschiedliche Weise, voneinander lebten. Mir scheint, es ist viel zu wenig bewusst, wie sehr beide Staaten – und ihre Menschen – 40 Jahre lang aufeinander schauten. So galt die rasch zu Wohlstand gelangte Bundesrepublik wohl der Mehrzahl der DDR-Bürger und -Bürgerinnen als "Goldener Westen", ein Klischee, produziert vom fast überall empfangbaren Westfernsehen und dem Mythos "Westpaket". Und die DDR? Sie war den meisten Westdeutschen eine Folie, eine negative zwar, aber doch eine Bezugsgröße, ohne deren Existenz die politische Kultur der alten Bundesrepublik nicht zu erklären wäre. Der Ruf "Geh doch rüber" wurde nicht nur 1968 den Aufmüpfigen entgegengeschleudert. Beide Staaten hatten unterschiedlich schwer an den Folgen der deutschen und europäischen Katastrophe von 1933 zu tragen. Die beiden gegensätzlichen Gesellschaftssysteme waren das Ergebnis der Niederlage Hitlerdeutschlands. Das Phänomen der doppelten Verfolgung in zwei Diktaturen und zum Teil an denselben Orten ist eine deutsche Besonderheit. Es gibt aufrechte Demokraten, die sowohl im Nationalsozialismus als auch in der SBZ/DDR aus politischen Gründen Widerstand leisteten, verfolgt und inhaftiert wurden. Nimmt man aber Verfolgung und Widerstand in den beiden deutschen Diktaturen des letzten Jahrhunderts – wobei man selbstverständlich nicht verwischen darf, dass die eine auf die andere folgte und gewissermaßen, zumindest was Deutschland betrifft, eine Folge der ersten war –, zum Anlass, über Möglichkeiten der politischen Bildung im demokratischen Verfassungsstaat nachzudenken, dann stößt man zunächst methodische Schwierigkeiten. Wie – wenn überhaupt – kann der nachfolgenden Generation zumindest eine Ahnung vom Leiden und Sterben der vielfach bereits in jugendlichem Alter im "Gelben Elend", dem späteren "Speziallager" der Sowjets und ab 1950 der Strafvollzugsanstalt des Ministeriums des Innern draußen am Stadtrand, Inhaftierten vermittelt werden? Wie wird man Bautzen II, dem Stasi-Gefängnis neben dem Amts- und Landgerichtsgebäude, gerecht? Wohl vor allem durch eine zeitgemäße Präsentation von Einzelschicksalen. Dazu gehört unabdingbar die akribische Präsentation und Erhaltung sowie fachkundige Kommentierung der authentischen Orte. Denken Sie etwa an das Beispiel der "Werdauer Oberschüler", deren 19 jugendliche Mitglieder 1951 – ironischerweise am 3. Oktober – in einem der ersten politischen Schauprozesse der noch jungen DDR zu insgesamt 130 Jahren Haft verurteilt wurden. Alle mussten ihre Strafe antreten. Ihr Vergehen: Sie hatten sich nach anfänglicher Begeisterung für den antifaschistischen Neuanfang in der SBZ von der Politik der SED und der Gängelung durch die sowjetische Besatzungsmacht abgewandt und sind mit selbstgefertigten Flugblättern und nächtlichen Pinselaktionen für die Einheit Deutschlands und freie Wahlen eingetreten. Das war in der frühen DDR ein Kapitalverbrechen. Widerständiges und oppositionelles Verhalten wurde in der DDR prinzipiell kriminalisiert, ein wichtiges Erkenntnisziel politischer Bildung heute. In ihrem Handeln beriefen sich die Oberschüler und -schülerinnen aus dem sächsischen Werdau auf die Weiße Rose der Geschwister Scholl. An ihrer ehemaligen Schule, die heutige Alexander-von-Humboldt-Gymnasium heißt, ist vor wenigen Jahren eine Gedenktafel angebracht worden, und die Schule stellt sich ihrer Vergangenheit.
Zweifellos muss politische Bildung an solchen Belegen von Zivilcourage und Widerstehen aus der deutschen Teilungsgeschichte anknüpfen, und das geht am besten, wenn die historischen Fakten plastisch und nachvollziehbar vermittelt werden. Insbesondere muss es darum gehen, jüngere Generationen, von denen viele das Ende der DDR noch nicht bewusst erlebten, zu erreichen, auch, um die Teilung endgültig zu überwinden. Leider jedoch werden die Zeitzeugen nicht mehr allzu lange zur Verfügung stehen können. Hier müssen neue Wege der Vermittlung der jüngeren bzw. jüngsten Geschichte gefunden werden. Dabei ist es hilfreich, sich der Medien und Kommunikationswege zu bedienen, welche auch für eher "printferne" Kreise Teil ihres Alltags sind.
Am 3. Oktober hat die Bundeszentrale für politische Bildung, kurz bpb, zum zweiten Mal den "Bürgerpreis zur deutschen Einheit", kurz "einheitspreis" vergeben. Ausgezeichnet werden Institutionen, Initiativen und Personen, die sich nach 1989 auf besondere Weise um die Gestaltung der "inneren Einheit" verdient gemacht und Brücken für ein respektvolles und tolerantes Miteinander in Deutschland gebaut haben. Die Preisträger in diesem Jahr waren ein evangelisches Begegnungsprojekt junger Menschen in Köthen (Sachsen-Anhalt) und Idstein (Hessen), das kommunale Entwicklungsprojekt Rodachtal e.V. sowie der Kurator und Autor Walter Gillen, der die Ausstellungen "Deutschlandbilder" und "Wahnzimmer" gestaltet hat. Im Internetzeitalter genügen die traditionellen Instrumente der Multiplikatoren – Printprodukte und Veranstaltungen – allein jedoch längst nicht mehr. Es gilt, sich zusätzlich zu der seriösen Erarbeitung dessen, was war, neuer Medien und Kooperationspartner zu bedienen. Im globalen Netz sind die Möglichkeiten, aktuelle, schnelle Informationen zu liefern und zugleich auf Produkte der bpb, die sich für eine Vertiefung eignen, hinzuweisen, ideal. Das Internet bietet zudem vor allem für jugendliche Zielgruppen – denken Sie etwa an unsere Seite "fluter.de" - einen besonderen Anreiz, so dass Zugangsschwellen herabgesetzt werden, ein altes und immer aktuelles Anliegen der politischen Bildung. Ich nenne hier nur beispielhaft die zusammen mit dem Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam erarbeitete Homepage zum 17. Juni 1953, deren aufregende und bewegende Mischung aus Zeitzeugenberichten, Videoclips und Originaldokumenten nun auch als CD vorliegt.
Natürlich dürfen die traditionellen Print-Produkte nicht vernachlässigt werden. Die bpb hat eine Fülle von Schriften erarbeitet, die sich um einen gesamtdeutschen Blickwinkel bemühen. Christoph Kleßmanns 1991 in der fünften Auflage erschienener Schriftenreihe-Band "Die doppelte Staatsgründung" war Anfang der achtziger Jahre eine Pionierarbeit, mit der erstmals die gesamtdeutsche Geschichte von 1945 bis 1955 in den Blick genommen wurde – und das noch zur Zeit der Teilung.
Allein acht Publikationen aus unserer überaus populären und reich illustrierten "Zeitbilder"-Reihe widmen sich vielfältigen Aspekten der DDR- bzw. der deutschen Teilungsgeschichte; die Themen reichen von einer Geschichte der Deutschlandpolitik über "Ostdeutsche Wirtschaft im Umbruch 1970-2000" bis zur Rockmusik in der DDR. Als weiterer Band ist eine gut lesbare, allgemein verständliche und mit historischen Fotos und Dokumenten angereicherte Geschichte der DDR der fünfziger Jahre erschienen. Ein Schwerpunkt der Darstellung liegt auf Verfolgung und Widerstand gegen die sich etablierende Herrschaft der SED.
Zur Frankfurter Buchmesse haben wir in unserer Schriftenreihe in Kooperation mit der Universität Leipzig einen bemerkenswerten Sammelband fertiggestellt, der sich mit der deutschen Diktaturgeschichte des 20. Jahrhunderts befasst. Das ist nun ohne den Furor möglich, der die ersten Debatten über die "doppelten Diktaturen" Anfang der neunziger Jahre begleitet und zu einem zweifelhaften Revival des Totalitarismusansatzes geführt hatte. In auf den ersten Blick sperrig klingenden Themenstellungen wie "Kulturföderalismus und zentralistischer Herrschaftsanspruch in Sachsen 1933-1952" gilt es, sich einer deutschen Gesellschaftsgeschichte zu nähern, die gemeinsame Wurzeln des vereinten Deutschlands beschreibt.
Eine Ausgabe der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte" hat sich, eingebettet in eine Themenausgabe der Wochenzeitung "Das Parlament", aus zeithistorischer Sicht mit dem internationalen Forschungsstand zum 17. Juni 1953 befasst. Zur Buchmesse erschien ein Themenheft der "Beilage" zur deutschen Zeitgeschichte: Flucht, Vertreibung, Bombenkrieg, Deutsche als Opfer – Themen, die einen markanten Wandel des gesamtdeutschen Geschichtsbildes ankündigen. In wenigen Wochen wird zudem eine Nummer von "Aus Politik und Zeitgeschichte" die bisher seltsam unerforscht gebliebenen "Mitteljahrzehnte" der deutschen Teilung, also die sechziger und siebziger Jahre, in den Blick nehmen und nach Beziehungsgeflechten der Populärkultur und der Jugendgenerationen in beiden deutschen Staaten fragen. Die "Beilage" ist im Volltext auch im Internet abrufbar, und zwar bereits schon am Freitag vor dem Erscheinungsmontag.
Wer also wissen will, dem sind auch künftig kaum Grenzen gesetzt. Es ist müßig, darüber zu streiten, ob wirklich aus der Geschichte zu lernen ist. Geschichte wiederholt sich nicht. Doch Strukturelemente einer sich anbahnenden Diktatur können deutlich aus der Geschichte erkannt werden. Es geht also beim Umgang mit der Teilungsgeschichte sehr wohl auch um die Klärung aktueller Befindlichkeiten, um die politische Kultur, um die Zivilgesellschaft am Anfang des 21. Jahrhunderts, die nur dann eine demokratische sein kann, wenn unterschiedliche Geschichtssichten öffentlich registriert werden.
Die Teilungsgeschichte erschöpft sich nicht in Herrschaftsgeschichte. Sie ist jedoch ebenso wenig auf ein kabarettistisches "Es-war-nicht-alles-schlecht" zu reduzieren. Natürlich war nicht alles schlecht, und für diese Einsicht bedarf es nicht belangloser "DDR-Shows". Aber vielleicht gelangen auch "gelernte Westdeutsche" zu der Überzeugung, dass hier nicht die ganze Wahrheit präsentiert wird, wenn von einer skurrilen Produktwelt und einem exotisch anmutenden Alltag die Rede ist. Vielleicht wissen sie ja bereits, dass die Staatssicherheit eben auch in diesem Alltag stets präsent war: Klagen über fehlende Schrippen in "Verkaufsstellen" wurden häufig der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe des MfS in der Normannenstraße bekannt, und dass ein Federmäppchen mit Westaufdruck der Schulkarriere nicht unbedingt förderlich war, lernten die Betroffenen sehr schnell.
Nicht zu vergessen: Gleichzeitig mit der Ostalgie blüht ja auch die Westalgie. "Capri" und "TriTop" sind wieder da, ebenso Schlaghosen und das "Spiel ohne Grenzen". Der Kinofilm "Herr Lehmann" beschreibt das Lebensgefühl in West-Berlin Ende der achtziger Jahre. Ein Skandal, wie so manche Kritiker meinen, sind "DDR-Shows" also ebenso wenig wie ihre West-Pendants. Vielleicht ist die Erinnerung an die DDR schmerzhafter als die an die alte Bundesrepublik. Harald Martenstein schrieb im "Tagesspiegel": "Manchmal setzt sich jeder von uns an den Fernseher, und es läuft eine Kindheitserinnerung, vielleicht Lassie, vielleicht Miss Marple. Man schaut es an, es ist beknackt, aber es wärmt das Herz, und gegen ein warmes Herz ist nichts zu sagen."
Die Aufarbeitung der langen Jahre der Teilung steht auch in den kommenden Jahren im Mittelpunkt der Arbeit meines Hauses. Es geht es um das Bewusstwerden dessen, was war – es geht um die Überwindung der Teilung mit den Mitteln politischer Bildung. Die beiden Staaten bestanden 40 Jahre, die Mauer und die mörderischen Grenzbefestigungen 27 Jahre; es wäre geradezu ein Wunder, wenn sich das Thema nach nur 13 Jahren für die politische Bildung erledigt hätte. Wunder aber geschehen nur selten, und wir sollten uns mit dem der gewaltlosen Revolution des Herbstes 1989 begnügen.
Ich möchte mit Wolfgang Thierse enden, der auf dem Geschichtsforum "Getrennte Vergangenheit – gemeinsame Geschichte?" im Mai 1999 im ehemaligen Preußischen Landtag in Berlin ausführte: "Eine zivile Bürgergesellschaft, die sich ihrer eigenen Identität bewußt geworden ist über einen öffentlichen, diskursiven Selbstaufklärungsprozeß, wird die nötigen Tugenden des Mutes und der Gelassenheit dazu entwickeln, um die anstehenden Probleme zu meistern. Darin besteht die Chance einer besseren Zukunft in Deutschland gegenüber den enttäuschten Hoffnungen vergangener Jahrzehnte." Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Die Rede wurde gehalten anlässlich der Tagung vom 16. bis 18. Oktober 2003 in den Franckeschen Stiftungen in Halle/Saale: "DDR-Geschichte zwischen Bewahren und Verdrängen. Perspektiven deutsch-deutscher Erinnerungs- und Bildungsarbeit".