I. "Der Jugend gehört die Zukunft – aber eben erst die Zukunft", hat Kurt Sontheimer einmal gesagt. Die Zukunft aber beginnt in dieser Minute – für uns alle, und für junge Leute eben nicht erst mit 30. Keinem über 30 zu trauen – dies war der Spruch der Generation der 68er. Diese Generation sind heute die 60-jährigen. Damals gab es einen heftigen Generationskonflikt zwischen Alt und Jung: Zwischen einer Generation, die die Werte Ordnung, Sauberkeit, Pflichtbewusstsein und Leistungsbereitschaft hoch hielt und der Jugend mit ihren antiautoritären Werten. Die Jungen revoltierten auch gegen eine Generation, die – verstrickt in den Nationalsozialismus – über ihre Vergangenheit nicht reden wollte.
Jung und Alt unterscheiden sich heute nicht mehr so sehr in den grundsätzlichen Lebensauffassungen. Die Jüngeren haben sich in ihren Werthaltungen der älteren Generation angenähert. Sicherheit und Leistungsbereitschaft zählen wieder. Das zeigen neuere Untersuchungen.
Der Generationskonflikt betrifft heute die Politik. Jugendliche distanzieren sich vom politischen Betrieb, der von den Älteren beherrscht wird. Sie hegen Misstrauen, wenn über ihre Köpfe hinweg über ihre Zukunft entschieden wird. Und sie fühlen sich zunehmend als die Opfer einer Politik, die gegen ihre Interessen betrieben wird. Immer weniger Junge zahlen für immer mehr Rentner und Rentnerinnen. Der Konflikt entzündet sich um die knapper werdenden Finanzmassen unserer sozialen Sicherungssysteme.
Ich möchte deshalb darüber sprechen, wie wir die Jugendlichen wieder für die Politik interessieren können. Aber nicht nur das Interesse für Politik soll geweckt werden, sondern auch die Kompetenzen für politisches Handeln. "Jugendtargeting" ist dafür der Begriff aus der Sprache des Politikmarketings.
II. Wahl- und Politikverhalten von Jugendlichen Jugendliche zeigen Distanz und Verdruss gegenüber der etablierten (Partei-) Politik. Dies sagen uns immer wieder Jugend- und Wahlforschende. Sehen wir uns aber das Politik- und Wahlverhalten genauer an. Der Abwärtstrend bei der Wahlbeteiligung von Jugendlichen unter 30 hat sich umgekehrt. Bei der letzten Bundestagswahl lag die Beteiligung sogar wieder höher als bei der Wahl von 1990, bei knapp 70 Prozent. Sie liegt aber immer noch um 8 Prozent unter dem Durchschnitt. Und bei den 21- bis 24-jährigen erreicht sie ihren Tiefpunkt.
Dies darf kein Grund zur Entwarnung sein. Denn der Politikverdruss von vielen Jugendlichen sitzt tief. Nach den Ergebnissen der letzten Shell-Jugendstudie bezeichnen sich nur noch 34 Prozent der Jungendlichen im Alter von 12 bis 24 Jahren als politisch interessiert. 1999 waren es noch 43 Prozent. Auch das politische Engagement der Jugendlichen geht zurück. Es hat immer weniger Bedeutung für die eigene Lebensgestaltung.
Wir sollten aber genauer hinsehen. Denn dann erkennen wir, dass viele Jugendliche den Politikern und vor allem den Parteien fremd gegenüberstehen – und nicht der Politik insgesamt. Immer weniger junge Menschen werden Mitglied in einer Partei. Die Parteien vergreisen allmählich. Der Mitgliederschwund und das zunehmende Durchschnittsalter der Mitglieder trifft fast alle Parteien. Die Jugendlichen lehnen aber weder die Demokratie ab, noch fühlen sie sich zu extremistischen Gruppen hingezogen. Auch wenn sie sich weniger politisch engagieren, so bedeutet das noch lange nicht, dass sie sich überhaupt nicht engagieren. Ganz im Gegenteil.
Die Shell-Jugendstudie im letzten Jahr und der Freiwilligensurvey von 1999 zeigten, dass sich Jugendliche sehr wohl engagieren – und das in weit höherem Maß als die Erwachsenen. 37 Prozent der 14- bis 24-jährigen sind in Vereinen, Projekten oder Gruppen aktiv. Das ist über dem Durchschnitt der Bevölkerung, der bei 34 Prozent liegt. Wir konnten das auch deutlich sehen: bei der Flut im letzten Jahr, als sich viele jugendlichen Helferinnen und Helfer ganz uneigennützig zur Verfügung stellten.
Das Bild einer lethargischen Jugend, die nur noch Spaß haben möchte oder für die Ellenbogengesellschaft trainiert, ist falsch. Jugendliche engagieren sich. Sie sind leistungsbereiter, streben nach Sicherheit und pflegen pragmatische Haltungen – Ideologie ist out. Ein neuer Hedonismus ist nicht in Sicht.
Dieser Befund könnte uns tröstlich stimmen. Ich möchte jedoch Besorgnis äußern und Überlegungen anstellen, wie die Jugendlichen für die Politik gewonnen werden können.
Denn wir beobachten die beschriebene Abwendung von der Politik. Und wir sehen ein gesellschaftliches Engagement, das eher kurzfristiger Natur ist. Jugendliche möchten sich eher in einem Projekt engagieren und dann wieder aufhören. Sie möchten schnelle Erfolge und scheuen langfristige Bindungen an Organisationen. Die Mitgliedschaft in attac ist hier die passende Form. Sie garantiert schelle Erfolge und rasche öffentliche Aufmerksamkeit. Die Mitgliedschaft in einer Jugendorganisation der Parteien zahlt sich dagegen eher in einer langfristigen Perspektive aus. Das Phänomen attac etwa und die soziale Bewegung, in der attac eingebettet ist, haben wir in Kooperation mit arte und ZDF mit der Webseite "www.wastun.org" aufgegriffen, die eine Informations- und Vernetzungsplattform darstellt.
Wir brauchen aber junge Menschen, die sich für Politik interessieren und die auch das nötige Organisationswissen erwerben. Denn Interesse für Politik ist eine wichtige Voraussetzung. Eine Bürgergesellschaft kann nur bestehen, wenn es viele Organisationen gibt, in denen sich Bürgerinnen und Bürger politisch organisieren. Die Parteien sind nach wie vor die einzige Organisationsform, die eine Bündelung der demokratischen Willensbildung leisten kann. Es gibt weit und breit keinen Ersatz. Nicht attac, nicht der BürgerKonvent und nicht die verschiedenen sozialen Bewegungen – auch wenn diese alle wichtig sind.
Wir dürfen daher die Parteien nicht aus ihrer Verantwortung entlassen. Sie müssen mehr unternehmen, um sich zu verjüngen. Gegenwärtig beobachten wir einen entgegengesetzten Trend: Die Jugendorganisationen der Parteien schmelzen zusammen. Die Jusos – die Jugendorganisation der SPD – haben heute noch knapp 60.000 Mitglieder – zu ihren Hochzeiten waren es noch 300.000. Ähnlich dramatisch ist der Einbruch bei der Jungen Union. Immerhin bieten die Jusos eine Mitarbeit ohne Mitgliedschaft an, die von 10.000 jungen Menschen genutzt wird.
III. Authentische Angebote Wie also gehen wir in der bpb mit diesen Herausforderungen um? Mein beruflicher Auftrag als Präsident einer wichtigen Institution der politischen Bildung ist es, die junge Generation mit der Politik vertraut zu machen und sie – wenn es geht – auch für die Politik zu begeistern.
Was bieten wir – und da spreche ich auch und ganz besonders von der Bundeszentrale für politische Bildung – Jugendlichen an, um ihr Interesse an Politik zu wecken? Und wie trainieren wir ihre Fähigkeiten, sich politisch zu engagieren?
Wir haben die bpb seit 2001 organisatorisch umgebaut und fachlich neu ausgerichtet. Neben unserem Stammklientel wollen wir neue Gruppen gewinnen. Wir wollen mit unseren Angeboten der politischen Bildung ganz besonders neue Zielgruppen bei den Jugendlichen und jungen Menschen erreichen. Ihr Bildungsverhalten und ihr Verständnis von Bildung hat sich verändert. Deshalb versuchen wir bei unseren neuen Angeboten verstärkt auf die Nachfrage der neuen Zielgruppen der "Modernen Performer", der "Experimentalisten" und der "Hedonisten" einzugehen. Dies bedeutet aber nicht, dass wir unsere traditionellen Zielgruppen vernachlässigen.
Seit 2001 geben wir den "fluter", ein Magazin für Jugendliche, heraus. Eines der letzten Hefte beschäftigte sich mit dem Thema Sexualität – homosexuelle und transsexuelle Orientierungen inbegriffen. Im Dezember wird es ein Heft zu Gesundheit geben. Im Magazinstil werden hier Themen für Jugendliche und ihre Lebenswelten aufbereitet.
Den Wahl-O-Mat kennen Sie vielleicht. Vor Bundes- und Landtagswahlen ist er auf unserer Website zu finden. Die Zugriffe etwa vor der letzten Bundestagswahl waren zum Teil so zahlreich, dass unser Server Probleme bekam. Er spricht ganz besonders Jugendliche an und gibt einem schnelle interaktive Wahlhilfe. Bei der Europawahl im nächsten Jahr wird er wieder zum Einsatz kommen.
Politik für Kids zwischen 6 und 12 bietet unser Site Hanisauland.de. In einem Comic werden komplexe und schwer verständliche politischen Themen mit vielen Animationen kindergerecht aufbereitet. Drei Tiervölker – Hasen, Nilpferde und Sauen – bauen gemeinsam eine Demokratie auf. Sie haben nach langen Kämpfen eingesehen, dass es so nicht weiter gehen kann.
Ein anderes Angebot machen wir im Rahmen der "Jugendbeteiligungskampagne 2003-2005", einer gemeinsamen Initaitive der Bundesregierung, der bpb, des Deutschen Bundesjugendringes und der Bertelsmannstiftung. Sie richtet sich sowohl an Kinder und Jugendliche, um diese zu veranlassen, sich aktiv an diesen Prozessen zu beteiligen und mitzumachen, als auch an Entscheider/innen und Politiker/innen, um den Kindern und Jugendlichen auch die entsprechenden Beteiligungsmöglichkeiten einzuräumen. Hierfür wird ein ganzheitliches Verständnis von Beteiligung zugrunde gelegt. Dies bedeutet, dass Jugendliche diese selbst organisieren, auf gesellschaftlicher, staatlicher und politischer Ebene erkunden, entwickeln, erproben und etablieren sollen. Innovative, zukunftsorientierte politische und gesellschaftliche Kinder- und Jugendinitiativen werden im Rahmen der Kampagne aufgesucht, unterstützt und vernetzt. So sollen vor allem selbstorganisierte Formen der politischen Willensbildung und Interessensvertretung Kinder und Jugendlicher gestärkt und gefördert werden.
IV. Glaubwürdige Mittler: Jugendtargeting – wer kann es? Die bpb ist nicht die einzige Institution, die Jugendliche anspricht und das Interesse für Politik zu wecken versucht. Wenn wir Jugendliche für Politik interessieren wollen, so sollten wir bei den Lebenswelten der Jugendlichen ansetzen. Die Jugendlichen – so war eingangs meine These – zeigen zwar Desinteresse für die Politik, sie sind aber in vielen anderen Bereichen sehr stark – stärker als die Erwachsenen – engagiert. Hier sollten wir ansetzen und dieses Engagement stärken.
Wie viele Dinge im Leben muss auch politisches Engagement erlernt werden. Meine These ist daher: Das Interesse für Politik und die Kompetenzen, die Bürgerinnen und Bürger benötigen, können über einen Umweg erworben werden: politisches Jugendtargeting über indirekte Effekte. Dies möchte ich Ihnen kurz begründen.
Jugendliche engagieren sich vor allem in den Bereichen ihres näheren sozialen Umfeldes, in Schulen, Sportvereinen, Kirchengemeinden und Jugendgruppen. Sie sind in der eigenen Lebenssphäre aktiv. Und dort können sie auch angesprochen und unterstützt werden. Beispielweise in den Sportvereinen. Dort lernen die Jugendlichen etwas selbst zu organisieren und sich mit anderen zusammenzutun, aber auch sich durchzusetzen. Ähnlich ist es in Jugendgruppen. Aber nicht alle Vereine und Gruppen bieten genügend Freiraum, sich zu entfalten und selbstbestimmt Dinge anzupacken. Auch die Schule ist ein wichtiger Bereich, in dem sich Jugendliche erproben können. Aber auch hier fehlt es an Mitgestaltungsmöglichkeiten. Es sind vor allem die Alltagspraktiken in diesem Gruppierungen, an und mit denen die Jugendlichen politisches Verhalten erlernen, ihre Kompetenzen einbringen und Dinge selbst gestalten können. Sie erfahren hier die Wirkungen ihres Tuns unmittelbar und können für sich auch den Nutzen erkennen.
V. Nachhaltigkeit des Targeting Jetzt habe ich die ideale Situation dargestellt. Wie können wir aber erreichen, dass Jugendliche dann auch den Weg in die Politik finden? Wir sollten den Jugendlichen in den Vereinen und Organisationen mehr Raum für eigenverantwortliches Handeln zur Verfügung stellen. Die Organisation der Bürgergesellschaft können so zu Lernorten für Bürgerkompetenzen und Generatoren für politisches Interesse werden.
Nicht alle Organisationen sind darauf vorbereitet. Vielleicht am allerwenigsten die Jugendorganisationen der Parteien. Jugendtargeting bedeutet also: Gewinnung von Jugendlichen für Vereine, Jugendgruppen, Naturschutz, Feuerwehr, Mitarbeit in den Schulen und Unterstützung von Initiativen.
Die staatliche Stärkung und Förderung der Bürgergesellschaft darf diesen zentralen Aspekt nicht aus dem Auge verlieren. Jugendliche müssen in den Organisationen mehr Raum und mehr Mitgestaltungsmöglichkeiten bekommen. Es kommt aber auch auf uns selber an. Denn wenn im Elternhaus oder im Bekanntenkreis nicht oder nur abschätzig über Politik gesprochen wird – wie sollen sich dann die Kinder für Politik interessieren? Eltern können hier viel bewirken und haben große Möglichkeiten der Weichenstellung.
Wir sollten also bei den Lebenswelten der Jugendlichen ansetzen, bei ihren Bedürfnissen und auch ihre Frage "Was bringt es?" ernst nehmen Wir sollten uns nicht scheuen, bei den vermeintlich unpolitischen Bereichen des Engagements zu beginnen. Denn über die "Umwege" und indirekten Wirkungen können wir junge Menschen nachhaltiger gewinnen.
Die bpb sucht auch nach neuen Zugangspfaden zu den jugendlichen Lebenswelten und Milieus. Sie konzentriert sich nicht mehr allein auf den engeren politischen Bereich. Und sie will dazu beitragen, dass Politik mehr ist, als Parteipolitik – nämlich selbstbestimmt und zusammen mit anderen die eigenen Angelegenheiten regeln – denn "der Mangel an Erfahrung veranlasst die Jugend zu Leistungen, die ein erfahrener Mensch niemals vollbringen würde".