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"Demokratie leben" | Presse | bpb.de

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"Demokratie leben" Vortrag und Diskussion auf der Veranstaltung der Robert Bosch Stiftung "Chancen für Jugendliche – auf Dich kommt es an", Berlin-Hohenschönhausen, 20.02.2004

/ 17 Minuten zu lesen

Es reicht nicht über die Politikverdrossenheit von jungen Menschen zu klagen. Neue Engagement- und Partizipationsmöglichkeiten müssen geschaffen werden, fordert bpb-Präsident Thomas Krüger in seinem Vortrag anlässlich der Veranstaltung "Chance für Jugendliche - auf Dich kommt es an".

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

"Eine Hand wäscht die andere, und den will ich sehen, der sich die Hände wäscht mit einer Hand". Dieses Bonmot stammt von Heiner Müller, dem wichtigen DDR-Dramatiker, der 1995 starb und in diesem Jahr 75 Jahre alt geworden wäre. Heiner Müller beschreibt in dem Stück "Wolokolamsker Chaussee", aus dem dieser Satz stammt, deutsche Konflikte seit dem zweiten Weltkrieg. Konflikte gehören nicht nur zum Leben der Deutschen in ihrer jüngeren Geschichte. Konflikte gehören zum Leben schlechthin. Ohne Konflikte fehlt dem Leben das Salz in der Suppe. Es wäre fad und öd. Oder können Sie sich vorstellen, ohne Stress mit Ihren Eltern in einer Wohnung zu leben, ohne Streit mit Altersgenossen in der Schule in friedlicher Eintracht die Vektorrechnung zu pauken, ohne Foul beim Fußball oder Basketball ein Spiel zu gewinnen? Doch wohl eher nicht, aber in jeder Gesellschaft und zu jeder Zeit ist man auch aufeinander angewiesen und muss sich verständigen, wie unterschiedliche Interessen miteinander ausgehandelt werden können.

Der Philosoph Immanuel Kant, dessen Schrift "Zum ewigen Frieden" in diesem Jahr 200 Jahre alt wird, hat nach den beiden großen Revolutionen in Amerika und Frankreich den kategorischen Imperativ geprägt: Entscheide und handle deinem Gegenüber so, dass du ihm ermöglichst, nach deinem Handeln, selber noch eine angemessene Entscheidung treffen zu können. Anders ausgedrückt: Eröffne auch Deinem Gegenüber Handlungsspielräume und sei kommunikativ! Demokratie lebt von solchen Spielräumen und vom kommunikativen Miteinander. Demokratie muss gelebt werden. Demokratie ist nichts Starres, Feststehendes, Systemisches, sondern etwas Vorläufiges, das man sich kommunikativ erarbeiten muss: immer wieder.

Stopp, stopp werden jetzt etliche von Ihnen sagen: Was soll denn der Spruch? Schau Dir die Politik an - wie sollen wir daran glauben? Ist das etwa Demokratie? So etwas wollen wir aber nicht leben. Nun könnte ich mir es einfach machen und Sie mit dem Satz provozieren: Jedes Land wählt sich die Regierungen, die es verdient. Ich könnte es mir auch einfach machen, wenn ich Ihnen von meinen ersten dreißig Lebensjahren in der DDR erzähle und davon, dass wählen gehen damals "falten gehen" hieß. Der Wahlschein wurde einfach ohne näher draufzuschauen gefaltet und in die Urne geworfen. War auch nicht nötig, denn die Kandidaten der Nationalen Front standen auf einer Einheitsliste. Wenn man einen durchgestrichen hat, ist automatisch ein anderer nachgerückt, der noch gar nicht draufstand. Widerstand war also zwecklos, weil die Nachrücker vielleicht noch viel blöder waren, als die, die auf dem Zettel standen. Ganz zu schweigen, von abweichenden politischen Meinungen, die geradewegs zu Verfolgung, Gefängnis oder Ausweisung führen konnte. Man war eben nicht Bürger, der seine Meinung äußern konnte, sondern dann im Nu ein Klassenfeind, der zu bekämpfen war.

Aber ich wollte es mir ja nicht leicht machen. Denn zunächst haben Sie ja Recht: Das Ansehen heutiger Politik – übrigens jedwelcher parteipolitischer Couleur ist alles andere als berauschend. Es sieht so aus, als ob die Politik derzeit mit den gravierenden Veränderungen maßlos überfordert ist. Dabei schien die Demokratie als Gesellschaftsform doch gerade so unaufhaltsam, nachdem alle Alternativen wie der Sozialismus in sich zusammengestürzt sind. Aber vielleicht ist es gerade dieser Sieg der Demokratie und die damit einhergehenden Veränderungen, der die Demokratien in der Welt in eine Krise geführt hat. Denn die weltpolitischen Veränderungen, der Globalisierungsprozess mit seinen wirtschaftlichen Folgen, die neuen internationalen Konfliktlagen und die wachsende Bedeutung der Politikfelder, die mit Wissen zu tun haben, erfordern massive Veränderungen, ein radikales Umdenken und neue Antworten. Die gewählten Abgeordneten aber sind von Menschen gewählt worden, die diesen Veränderungen selbst mit großer Skepsis gegenüberstehen. Keine und keiner möchte zurückstecken, viele haben Angst, dass es ihnen noch schlechter geht, nur wenige stehen den Veränderungen gelassen gegenüber – vielleicht, weil Sie jenseits von Existenzängsten leben können. Von den heutigen Volksvertretern wird zugleich verlangt, dass sie die Lage zum Guten wenden und dass sie die jeweiligen Interessen konsequent vertreten. Eine Quadratur des Kreises, eine schiere Unmöglichkeit. Da sie das gar nicht schaffen können und versuchen, sowohl ein bißchen vom einen und ein bißchen vom anderen zu tun, stehen sie als Lavierer da und verlieren das Ansehen. Sie halten sich zwar an die demokratischen Gepflogenheiten und versuchen Interessen und Gegensätze mehr oder weniger gut auszugleichen. Aber sie tun es letztlich keinem recht. Dabei sind viele Menschen mittlerweile bereit zu Veränderungen, nur eben ihre scheinbaren Interessenvertreter in den Parteien, Institutionen und Verbänden nicht.

Viele, vor allem junge Menschen, kommen nun und meinen: Da seht Ihr's: Die Demokratie taugt eigentlich nichts. Wenn dieser Politikkram Demokratie sein soll, dann will ich damit nichts zu tun haben, dann interessiert mich das gleich gar nicht. Und sie, die Politiker wundern sich natürlich, dass die Jungen sich dabei nicht an die alten Spielregeln halten. Dass sie die Ideologien und Wertorientierungen der politischen Debatte nicht interessieren. Dass Jugendliche "mit dem Begriff Politik eine Landschaft von Parteien, Gremien und politischen Ritualien verbinden, der sie wenig Vertrauen entgegenbringe" und dass sie die "ritualisierte Betriebsamkeit von Politikern als wenig relevant und ohne Bezug zum wirklichen Leben" (so Arthur Fischer, Mitautor der Shell-Jugendstudie 2000) empfinden. Daraus den Schluss zu ziehen, "die Jugend" – die es, wie wir wissen, ohnehin nicht gibt – bräuchte nur wieder die "richtige" Bildung und Erziehung, ist falsch und ohne Perspektive. Eine solche Einstellung verkennt die gesamtgesellschaftlichen Bewegungen, verkennt, dass Jugendliche mit ihren Suchbewegungen und Lebensexperimenten, mit ihren Lebensentwürfen und auch mit ihrer Selbstbildung längst "in der Zukunft angekommen sind", wie die Shell-Studie vermerkt.

Heute hat leider die Demokratie als Gesellschaftsmodell stark an Ansehen eingebüßt. Dieser Prozess scheint sich – auch verstärkt durch die Gesetze medialer Vermittlung von Politik – unaufhaltsam fortzusetzen. Das halte ich für gefährlich. Aber Gemach: Die Demokratie hatte schon immer ein problematisches Ansehen. Es gibt übrigens schon seit den Zeiten der griechischen Philosophie den Satz: Die Demokratie ist die beste aller schlechten Regierungsformen. Man war sich offenbar schon lange der Begrenztheit demokratischer Spielregeln bewusst. Aber eben auch der Tatsache, dass unter den Alternativen in letzter Konsequenz nur ungerechtere Regierungsformen anzutreffen sind. Heute sind in Europa regierende Monarchien, Familienclans oder kommunistische oder nationalsozialistische Regime nicht mehrheitsfähig, zum Glück! Aber ist denn wirklich nichts Besseres vorstellbar? Gerade für junge Menschen, die das Leben noch vor sich haben, ist der Gedanke, dass es keine Veränderungen oder Verbesserungen geben könne, doch echt unerträglich. Ich glaube – auch wenn ich schon etwas älter bin – fest daran, dass es Verbesserungen geben kann. Das Schwierige wird nur sein, dass diese Verbesserungen uns nicht auf dem Tablett präsentiert werden, am allerwenigsten von den Parteien, die derzeit besondere Rücksichten auf ihre jeweiligen Klientelen nehmen wollen. Ich glaube, dass man die pure Identifizierung von Demokratie mit dem Politikbetrieb vermeiden muss. Demokratie ist viel weiter zu fassen. Es geht darum, die ganze Gesellschaft, ja sogar die persönlichen Beziehungen demokratisch zu gestalten. Auch im Sport, im Betrieb und in der Nachbarschaft müssen demokratische Regeln und Fairness gelten. Sogar die Familie bleibt von dieser Diskussion nicht verschont. Die Verteilung von Familienarbeit und die geschlechterdemokratischen Fragen werden mittlerweile heiß diskutiert und sind keinesfalls zu vernachlässigen.

Der amerikanische Demokratieforscher und Soziologe Robert Putnam macht vier Vorschläge die Demokratiemisere zu beheben: Erstens fordert er die Delegation von Entscheidungen. Dabei geht es keineswegs nur um die Delegation auf die regionale und lokale Ebene. Das versteht sich von selbst. Denn alles was im unmittelbaren Umfeld passiert können die Menschen selbst am besten entscheiden, die dort leben. Es geht auch um die Delegation von Entscheidungen auf die transnationalen Ebenen, denn bestimmte Fragen können nur dort sinnvoll koordiniert und gesteuert werden. Zweitens besteht er auf der Rehabilitation der Parteien. Es bedarf in einer repräsentativen Demokratie wirksamer Mittlerstrukturen, die Werte bündeln und Entscheidungsprozesse organisieren. Alle Alternativen sind im Grunde hilflose Konstruktionen. Drittens empfiehlt er einen zivilen Journalismus. Die Regeln des Medienbetriebs, insbesondere des Fernsehens wirken zerstörerisch auf die Demokratie. Die Reduzierung von Politikerstatements auf wenige Sekunden führt zu einer Personalisierung von Politik. Der gute Eindruck wird wichtiger als der Inhalt. Viertens schließlich baut er auf die Erziehung zu staatsbürgerlicher Partizipation. Die Teilhabe an Entscheidungsprozessen wird die parlamentarische Demokratie nicht ersetzen, aber es wird sie vitalisieren, lebendiger machen. Putnam schlägt vor, gute Beispiele der Teilhabe zum Gegenstand kollektiver Lernprozesse zu machen und politische Bildung für die Staatsbürger nicht nur als Informationsdienstleistung, sondern als Aktivierung des Staatsbürgers zu betreiben.

Veränderungen und Verbesserungen hängen heute mehr denn je absolut von uns selbst ab. Es klingt banal, aber wer nicht aus dem Knick kommt, ist selbst Schuld. In einer Zeit wachsender individueller Verantwortung kann man nicht mehr nur mit dem Finger auf die anderen zeigen, auf die Politik, auf den Staat, auf den Betrieb, auf die Gewerkschaft, auf die Kirchen. Man muss den alten Institutionen auf die Füße treten. In der heutigen Gesellschaft haben die alten Institutionen ihre Prägekraft verloren. Sie repräsentieren diejenigen, für die sie zu sprechen vorgeben, oft gar nicht mehr. Die verschiedenen Individualitäten bestimmen heute das Gesicht der Institutionen und Medien. Wir steuern auf Pluralität "pur" zu. Die drückt sich aber nicht mehr nur in einer Ausdifferenzierung von Lebensentwürfen, in unterschiedlichen Sozialformen oder im Widerstreit von Gruppeninteressen aus. "Pluralität pur" stellt grundsätzlich alles zur Disposition. Werteverfall ist das Stichwort der einen, Liberalisierung oder Deregulierung das der anderen – je nach geistiger Herkunft oder Diskussionszusammenhang. Davor mag man erschrecken, weil nun – man sieht es an der Debatte um die Gentechnik – Dinge verhandelt werden, die man nicht zur Diskussion stellen möchte. Weil Gewissheiten in Frage gestellt werden, eine Sachlogik gegen die andere Sachlogik steht, und vor allem Entscheidungen abverlangt werden. Politiker, Kirchen und auch Pädagogen befürchten ein Befragen ihrer "theoretisch-normativen Grundlagen" (Peter Massing), auf denen sie zu argumentieren und arbeiten gewohnt sind. Seien dies der Rechtsstaat, ethische Grundsätze, der religiöse Glaube oder das Ziel einer demokratischen Erziehung. Nun sind die Zweifel an bisherigen Gewissheiten, die sich mit zunehmender Individualisierung häufen und von uns selbst erfahren werden, keineswegs nur subjektiver Art, sondern objektive Probleme, die bisher weitgehend durch gesellschaftliche Institutionen wie Parteien, Ehe, und Generationenvertrag zum Beispiel geregelt waren. Sie mögen als Probleme der persönlichen Lebensentscheidung erscheinen. In Wahrheit sind sie aber Ausdruck der Notwendigkeit, neue Formen der Entscheidungsfindung und Problemlösung zu finden, die jenseits traditioneller institutioneller Vorentscheidungen liegen. Schwierig wird die Situation meines Erachtens aber erst dadurch, dass sich die mit breiter gesellschaftlicher Beteiligung zu behandelnden Zukunftsfragen stetig mehren, zugleich aber etablierte Einrichtungen und Verfahren der demokratischen Ordnung nicht nur an Glaubwürdigkeit, sondern auch an Wirksamkeit verlieren. Schauen Sie sich nur das Theater um die Praxisgebühr der Gesundheitsreform an.

Alles dies ist keine neue Erkenntnis. Wo Gewissheiten, Autoritäten und Instanzen an Deutungsmacht und Akzeptanz verlieren, wird auf lange Sicht auch Entscheidungsmacht substanziell unterhöhlt. Sie ist nur eine begrenzt lange Zeit durch Formen und Symbole aufrecht zu erhalten. Ins Praktische übersetzt heißt das: Mag die Politik ruhig Entscheidungen treffen – wo sie dies ohne Akzeptanz der Wählerinnen und Wähler tut, verweigern diese irgendwann ihre Zustimmung. Und da alle Teil des Systems sind, Regierung wie Opposition, wird dann gar nicht mehr gewählt. Diese "hochpolitische Politikverweigerung" (Ulrich Beck) betrifft ja schon lange nicht mehr nur die Jugend. Damit ist eine große demokratische Aufgabe umrissen: Die Erkenntnis muss Platz greifen, dass grundlegende strukturelle Veränderungen notwendig sind, um neue Entscheidungs- und Partizipationsformen zu ermöglichen. Statt über das mangelnde Engagement von Bürgerinnen und Bürgern zu klagen – was übrigens gar nicht stimmt –, sollte deutlich werden, dass Engagement- und Partizipationsmöglichkeiten zunächst neu geschaffen werden müssen. Und zwar auf allen Ebenen, ob in Parteien, Vereinen, im Stadtteil, in der Schule oder am Arbeitsplatz. Jedoch nicht, um das schrumpfende Steuergeld und die einst noch davon bezahlten staatlichen Leistungen jetzt durch freiwillige und kostenlose Ehrenamtsarbeit zu ersetzen. Sondern um der immer individuelleren und egoistischeren Lebenswelt lebendigen Gemeinsinn gegenüberzustellen.

Wer sich heute aus Politik, Wirtschaft und Kultur ernsthaft für freiwillige und kreative Initiativen, wie die Ihren interessiert, der will etwas über Ihre Energien und die kreativen Potenziale wissen, über kulturelle Motivationen und den Habitus, mit dem sie Herausforderungen angehen. Er will wissen, wohin die Welt sich dreht, welche Pfade beschritten werden, wie die Zukunft wird. Meine Damen und Herren, wer heute Entscheidungen treffen will, die auch akzeptiert werden sollen, muss sich auskennen. Und er wird sich nur auskennen, wenn er Ihnen zuhört und Sie versteht. Um es etwas zugespitzt zu formulieren: Sie haben die heutigen Entscheider in der Hand. Denn heutige Entscheider müssen sich vor allem einstellen, darauf zu verzichten, alles selbst zu regeln. Entscheidungen schreien heute nach Teilhabe, nach Partizipation. Sie werden sonst nicht akzeptiert. Geben Sie ihnen zu verstehen, was Sacheist.

Was sind heute für sich engagierende junge Menschen unabdingbare Erkennungszeichen lebendiger Demokratie? 1. Man muss authentisch bleiben können. Ein Engagement, dass mich verbiegt oder mich unter Änderungsdruck setzt, kann sehr unangenehm sein. Man will so sein, wie man ist. Es kommt darauf an, sein Engagement geradlinig durchzuziehen. 2. Man muss sich identifizieren können. Für ein Engagement ist es sehr wichtig, Erfüllung und Bestätigung zu finden. Gerade bei den eher projektbezogenen Engagements ist das Bedürfnis groß, sich bestätigt zu fühlen, vor allem in seinen gesellschaftspolitischen Werturteilen, für die man ja etwas zu tun auch bereit ist. 3. Man muss sich herausgefordert wissen. Wer Erfahrungen macht und machen will verändert sich 4. Man muss nach außen glaubwürdig bleiben können. Ein Engagement wird öffentlich und vor allem unter Altersgenossen nur anerkannt, wenn es ehrlich ist. Es muss zu dem sich Engagierenden passen, sonst bekommt er gerade durch das Engagement eine Situation der Infragestellung und nicht der Bestätigung seiner Person. 5. Man muss das Gefühl haben, etwas zu gewinnen. Einen Mehrwert, eine Energie, eine Erfahrung, die man für sein Leben gewinnbringend einsetzen kann. Engagement erlahmt, wenn man nur noch das Gefühl hat, ausgenutzt zu werden.

Ich habe den Eindruck, dass man in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft die Chancen aktiver Beteiligung – wo auch immer das geschieht – ansatzweise zu begreifen beginnt. Gerade starten das Bundesjugendministerium und einige Partner aus Wirtschaft, Jugendhilfe und Bildung mit einem großen mehrjährigen Projekt zur politischen Teilhabe. Der Weg freilich ist noch weit. Immer wieder erleben Engagierte, dass sie von vorne anfangen müssen. Aber es gibt ermutigende Zeichen. In Schleswig-Holstein ist die Teilhabe von Kindern und Jugendlichen an öffentlichen Entscheidungprozessen in der Kommunalverfassung festgeschrieben und funktioniert auch. Es gibt Orte, die zu kinderfreundlichen Umgebungen gestaltet worden sind, sich heute damit schmücken und bereits enormen Zuzug erfahren. In St. Denise (F), Porto Allegre (Bra) und Elmstetten (D) sind Bürgerhaushalte eingerichtet worden. Hier werden die städtischen Geldmittel in öffentlichen Diskussionen so verteilt, wie die sich beteiligenden Bürger und Bürgerinnen es wünschen.

In verschiedensten Betrieben hat es Reorganisationen gegeben, nach denen die Verantwortung für die Produktion und spezielle Dienstleistungen auf viel mehr Schultern verteilt werden. Das alles hätte man aber schon früher wissen können. Die UNESCO wusste es spätestens 1992 mit der Rio-Konferenz zu Umwelt und Entwicklung. Im dort verabschiedeten Schlussdokument ging es nur indirekt um Klimaprobleme oder Müll. Die "Agenda 21" und das darin postulierte Prinzip der Nachhaltigkeit von Zukunftsentscheidungen ist vielmehr ein Forderungskatalog an die Zivilgesellschaft:

1. Zukunftsgerechte Lösungen gibt es nicht "von oben". Auch wenn man sich innerhalb einer wissenschaftlichen Disziplin, eines politischen Lagers, zwischen den Generationen darum streitet: Recht zu haben hat niemand gepachtet. Nach diesem Modell hat eine Sache mindestens drei Seiten: eine ökonomische, eine ökologische und eine sozial-kulturelle. Und nur wenn die in Einklang zu bringen sind, kann von einer "nachhaltigen Entwicklung" gesprochen werden – schwere Zeiten für Missionare, Experten, Expertinnen und Blockdenker. Demokratie ist eben in diesem Sinne eine diskursive, eine partnerschaftliche Angelegenheit. 2. Nachhaltige Entwicklung ist nicht von oben zu verordnen. Sollen Entscheidungen tragfähig sein, sollen sie praktisch umgesetzt werden, müssen sie breite Akzeptanz finden und von möglichst vielen getragen werden. Das werden sie aber nur, wenn möglichst viele daran mitgewirkt haben. Sowohl aus dem Blickwinkel eines steigenden Individualismus, als auch aus dem einer erstarkenden Zivilgesellschaft ist jede und jeder dort gefragt, wo es um die eigenen Lebensbedingungen geht. Für sein Leben und seine Bedürfnisse ist jeder Experte.

Das aber, so heißt es auch in der Agenda 21 klar und deutlich, ist nicht einfach zu haben. Das verlangt von jeder Gruppe, jedem Individuum ein hohes Maß an Kompetenzen, um "mitreden" zu können: 1. Man braucht ein Problembewusstsein, muss Informationen einholen, Wissen organisieren, Komplexität reduzieren, vorausschauend denken, verschiedene Möglichkeiten einbeziehen, sich eine Meinung bilden – über ein Problem reflektieren können. 2. Man muss interdisziplinär arbeiten können, Entscheidungs-Dilemmata aushalten können, Kompromisse ertragen, sich verständigen und einigen können. 3. Man muss Bezüge herstellen können, über den Tellerrand gucken, kooperieren, vernetzen, planen können. 4. Man muss abstrahieren können von eigenen Bedürfnissen, die Wirkung auf andere erkennen 5. Man muss sich und andere immer wieder motivieren können, auch wenn es schwierig ist und wird. 6. Man muss Ideen haben können, spinnen, kreativ, mutig und entscheidungsfreudig sein und sollte keine Angst vor Fehlern haben. Man muss gestalten können.

Kurz: Man benötigt "Gestaltungskompetenz" (Gerd de Haan).

Diese Reihe von Anforderungen – die sicher nicht vollständig ist – entspricht im Übrigen in den Grundzügen dem, was Bildungsexperten als adäquate Ausstattung für die sogenannte Wissensgesellschaft ansehen. Es wird nicht darum gehen, so prognostizieren sie, Wissen anzuhäufen, sich darüber zu streiten, welches Wissen das richtige und welches das falsche ist, nicht darum, unentwegt zu lernen und zu verlernen. Es geht darum, langfristiges Wissen von flüchtigem, nützliches von unnötigem, gesichertes von spekulativem, interessegeleitetes von polyperspektivischem, disziplinäres von interdisziplinärem, Expertenwissen von allgemein zugänglichem, veraltetes von neuwertigem, handlungsleitendes von theoretisch-modellhaftem zu unterscheiden. Es wird darauf ankommen, zu strukturieren, auszuwählen, zu verbinden, zu vergleichen, in Relation zu setzen. Um ein ganz altes, vergessenes Wort der emanzipatorischen Erziehungswissenschaft zu verwenden: Es gilt, Kritikfähigkeit zu schulen. Als jemand, der sich mal mit Alt-Griechisch abgequält hat, weiß ich noch, dass Kritik = Krinein (griech.) "unterscheiden" bedeutet. Gestaltungskompetenz hat man nicht einfach so. Man muss sie erlangen, einüben, braucht dafür Voraussetzungen und Bedingungen. Und darum bezeichnet die Agenda 21 Bildung als Schlüssel für die gemeinsame Lösung der Zukunftsprobleme.

Bildung, nicht Information, auch nicht Wissen, auch nicht Bewusstsein oder guten Willen – Bildung ist der Oberbegriff, der verschiedene Qualitäten und Kompetenzen erfasst. Diese Kompetenzen sind ganz unterschiedlich zu erlangen, in verschiedenen Bildungszusammenhängen, mit verschiedenen Zugängen, Inhalten und Methoden. Sie sind nicht einseitig ökonomisch, politisch oder sozial bestimmt. Sie sind das "Handwerkszeug", das Erwachsene wie nachkommende Generationen benötigen, um selbst zu bestimmen, wo es lang gehen soll. Diese Kompetenzen sind nicht normativ außer darin, dass Entscheidungen abgewogen sein müssen und nicht einseitig die eine Generation über die nächste, die Verwaltung über die Bürger, die Wissenschaft über die Politik, die Politik über den Umweltschutz oder die westlichen Industrieländer über die sogenannte "Dritte Welt" bestimmen. Um es mit einem neudeutschen Wort zu belegen: "Cross-Over" ist angesagt.

Aber wem erzähle ich das. Sie kennen das aus eigener Erfahrung. Ob in der Verweigerung etablierter Bildungsinstitutionen, in der Verballhornung traditioneller Symbole, in der Enthaltsamkeit bei Vereinen und Wahlen oder in der Euphorie über digitale Welten - Ihre eigenen Suchbewegungen und Lebensexperimente sprechen Bände über mögliche Alternativen. Auch wenn die ältere Generation es einfach nicht mehr kapieren kann: Für sie ist dabei offensichtlich das "Cross-Over" von Lebenswelten, Einstellungen und Interessen völlig problemlos: Pfadfinderinnen, die HipHop Fans sind, Computerfreaks, die helfen, den Schulgarten anzulegen oder Jugendliche inländisch-ausländischer Herkunft, die Polizist oder Polizistin werden wollen. Alles denkbar und von ihrer Altersgruppe kaum in Frage gestellt. Jugendliche lieben Herausforderungen. Noch mehr lieben sie es, sie gewinnbringend zu meistern. Dabei passt es derzeit ins System, wenn sie dies tatsächlich auch ökonomisch umsetzen können. Der Begriff des "Unternehmergeistes" hat in die öffentliche Debatte Einzug gehalten.

Die Akteure der "New Economy" haben sich vor ein paar Jahren wie Gründerpioniere des ausgehenden 19. Jahrhunderts benommen. Geschichten von 19-jährigen Schülern, die nebenher eine Softwarefirma mit Angestelltenzahlen in zweistelliger Höhe und Millionenumsätzen betreiben, geisterten durch die Medien und begeisterten diejenigen, die diese Kids als Beispiel einer Elite und als Vorbilder sehen. Viele dieser Geschichten sind leider schneller obsolet geworden als einem lieb sein kann. Auch Sie haben ein solches Beispiel unter Ihnen. Die lokalen Musikproduzenten aus Ziesar nutzen die Veränderungen der Musikbranche für sich und bauen auf einen lokalen Vertrieb ihrer Musik. Das ist beherzt und zukunftsgewandt. Ich behaupte aber: Ob jemand mit 17 eine Softwarefirma gründet, sich in einem Behindertenprojekt oder für Aussiedlerkinder engagiert, oder während einer Jugendmesse vom Bungeeturm springt, signalisiert strukturell zunächst einmal dasselbe: Herausforderung, eigenes Erleben, Risiko. Aber wir sollten genauer hinsehen. Gerade die Sinnbestimmung, ein möglichst konkretes Ziel, kommt bei dem Engagement und den Aktivitäten junger Menschen zum Vorschein. Ist es ein Zufall, dass laut dem Freiwilligensurvey von 1999 bei der Altersgruppe der 14- bis 24-Jährigen das ehrenamtliche Engagement mit 37 Prozent über dem älterer Bürger mit 34 Prozent liegt?

Wir müssen endlich mit dem Märchen aufräumen, die heutige Jugend sei unpolitisch, egoistisch und suche nur nach dem omnipotenten Funfaktor. Sie hat – das ist richtig – eine große Distanz zum Politikbetrieb. Sie engagiert sich aber in wachsendem Maße in der Gesellschaft und für politische Themen. Das wird leider übersehen. Schauen Sie sich die vielen Projekte an, die hier vertreten sind. Es sind Generationenprojekte, bei denen Jung Alt und Alt Jung hilft, es geht um Aktivierung von jungen Menschen zu höchst konkreten Anliegen im lokalen Umfeld, es geht um die Beteiligung junger Menschen an Entscheidungsprozessen, um internationale Projekte und Integrationsprojekte. Jede dieser Initiativen hat es verdient, wahrgenommen und unterstützt zu werden. Ohne sie wäre das große Wort der "lebendigen Demokratie" nur Schall und Rauch.

Ich gebe zu, diese Engagements sind meistens kurzfristige, projektbezogene Aktivitäten. Ihnen fehlt oft der lange Atem. Aber hier werden faktisch konkrete Erfahrungen gemacht und vor allem wertebezogene Haltungen erlernt, die dann flexibel einsetzbar sind. Was will die Gesellschaft denn mehr? Sind das nicht genau die Forderungen, die heute immer an Jugendliche gestellt werden? Die konkreten Visionen sollten diejenigen haben, die sie noch leben können und müssen. Das Beste, was wir tun können, ist, ihnen zu helfen, Visionen entwickeln zu können, und dieses fair, solidarisch und friedlich zu tun. "Teachers – leave us kids alone" – so heißt es im Song von Pink Floyd. "Bloß nicht!", möchte man als Erwachsener heute einwerfen. Unterstützen, ermöglichen, zeigen, sich reiben – aber dann doch mit Pink Floyd: allein lassen! Im besten pädagogischen Sinne sich überflüssig machen und als gleichberechtigte Partner neu begegnen. Oder wie Imanuel Kant es fordert: Dem Gegenüber Handlungsspielraum einräumen. Das ist übrigens auch heute noch viel schwieriger, als zu sagen, wo es lang gehen soll. Das ist ein Gesellschaftsprojekt. Aber keines, vor dem man kapitulieren und in alte Muster zurückfallen sollte. Es gibt noch genug zu tun, bevor man sagen könnte, man sei mit einem solchen Projekt gescheitert.

Meinen großen Respekt deshalb der Robert Bosch Stiftung für Ihre Initiative "Chancen für Jugendliche – auf Dich kommt es an". Meinen ebenso großen Respekt an Sie, die Sie mit den vielfältigsten Engagements zu einer lebendigen Demokratie in unserem Land beitragen. Und ein Aufruf an alle, viel mehr in aktivierendem Sinne dazu beizutragen, den vielen kleinen Partizipationsinitiativen "Wind unter die Flügel zu blasen". Denn was weiß Skispringer Jens Weißflog, übrigens auch aus der DDR, so trefflich? "Man fliegt nur so weit, wie man im Kopf schon ist."

Fussnoten