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Quo vadis Wehrpflicht? | Presse | bpb.de

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Quo vadis Wehrpflicht? Redebeitrag anlässlich der Nationalen Wehrpflichttagung am 25.5.2004 in Berlin

/ 11 Minuten zu lesen

Die Bundeswehr steht vor schwierigen Umstrukturierungsprozessen. In seinem Vortrag anlässlich der Nationalen Wehrpflichtagung am 25.Mai 2004 in Berlin zieht bpb-Präsident Thomas Krüger eine Bilanz der Debatte um die Zukunft der allgemeinen Wehrpflicht.

Vieles spricht dafür, dass die Bundeswehr derzeit wohl vor den schwierigsten Umstrukturierungsprozessen seit ihrer Gründung steht. War nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Systemwechsel in den ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten zunächst die Rede von der Friedensdividende, die nun gutgeschrieben werden könne, so zeigte sich schon bald, dass neue sicherheitspolitische Unwägbarkeiten und global entflammende Konfliktherde die zukünftige Entwicklung bestimmen würden. Lösen sich auf der einen Seite Strukturen und Feindbilder auf, so entstehen und verfestigen sich andere, neue Konfliktfelder mit noch höherer Komplexität und mit globalen politischen, politisch-psychologischen, soziokulturellen sowie system-strukturellen Anforderungen an Politik und Gesellschaften.

Eingebettet in diese Fragestellungen findet sich die Bundeswehr wieder. Wohl kaum ein anderer staatlich-institutioneller Bereich hat so grundlegend den System- und gesellschaftlichen Wandel denken und gestalten müssen. Dabei ist eine der Kernfragen, die diesen Umstrukturierungsprozess kennzeichnet und ausmacht, die Frage nach der allgemeinen Wehrpflicht oder der Freiwilligen- sprich Berufsarmee.

Der geschichtspolitische Diskurs zu dieser Frage verläuft in Deutschland durchaus gegensätzlich: Hier die Wehrpflicht als "das legitime Kind der Demokratie" wie Theodor Heuß 1949 sagte, und dort die Wehrpflicht als strukturelle Gefahr, die gerade nicht zum Schutz der Demokratie geeignet sei, wie es Aktivisten aus der Friedens- und Kriegsdienstverweigerungsbewegung wie Christian Herz meinen.

Für Theo Sommer, den Stellvertretenden Vorsitzenden in der "Weizsäckerkommission" "Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr", hat Heuß Recht und Unrecht zugleich. Unrecht, insofern es Adolf Hitler war, der die allgemeine Wehrpflicht eingeführt habe. Recht allerdings im Hinblick auf die Geschichte der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Einführung der Wehrpflicht, nämlich Verteidigung als Aufgabe des ganzen Volkes, hat erstens die Armee als "Staat im Staate" vermieden und zweitens genügend Soldaten gegen die Bedrohung aus dem Osten aufge-boten.

Hinzugefügt werden muss allerdings, dass mit der Einführung der Wehrpflicht auch ein elitär-volkspädagogischer und intervenierender, von einer Mehrheit der 50er Jahre-Gesellschaft durchaus erwünschter Ansatz zur Sozialkontrolle verbunden war. Mit der Wehrpflicht als wertvoller "Ausbildung fürs Leben", wie es 1956 in einer Broschüre der Bundesregierung hieß, wurde die Armee mit einem Erziehungsauftrag in Verbindung gebracht, wurde selbst zur "Erziehungsinstanz", wie es Ute Frevert 2001 formulierte.

Das aber entsprach keineswegs der Vorstellung von Wolf Graf von Baudissin, dem Leiter der Abteilung "Inneres Gefüge" in der "Dienststelle Blank". Dessen Leitbild für einen zukünftigen Soldaten besagte, dass die Nation und der Staat zur Schule der Streitkräfte würden und nicht umgekehrt die Armee eine "Schule der Nation" sei.

Das Leitbild des "Staatsbürgers in Uniform", also die Vorstellung einer nicht-autonomen soldatischen Erziehung traf zunächst in der Bundeswehr und im politischen Konservatismus auf erhebliche Widerstände. Noch in seiner Regierungserklärung von 1969 fühlte sich Willy Brandt aufgefordert, diesen Grundsatz zu bekräftigen. Ich zitiere: "Das Ziel ist die Erziehung eines kritischen, urteilsfähigen Bürgers, der imstande ist, durch einen permanenten Lernprozess die Bedingungen seiner sozialen Existenz zu erkennen und sich ihnen entsprechend zu verhalten. Die Schule der Nation ist die Schule."

Und Fritz Erler betonte, dass "Demokratie nicht am Kasernentor aufhören dürfe" und sagte: "Die Armee wird nur das fortentwickeln können und müssen, was sich an Grundlagen bereits in den Menschen durch ihre vorangegangene Erziehung befindet". Sie kann nicht ersetzen, was in Elternhaus und Schule unterlassen wurde. Aber sie darf auch nicht zerstören, sondern muss weiterentwickeln, was vorher geleistet wurde.

Auf der anderen Seite, wohl nicht zuletzt aus der geschichtlichen Erfahrung mit dem Nationalsozialismus heraus, hat derselbe Fritz Erler 1955 in einem Aufsatz das komplizierte Verhältnis von Armee und demokratischem Staat beschrieben. "Jede Armee", so Erler, "hat ihre innenpolitische Fragwürdigkeit, beruht auf den Grundsätzen des Befehlens und Gehorchens und ist deshalb von vornherein ein Gegensatz zur Demokratie, die auf Diskussion und Abstimmung begründet ist (...)."

Es gelte deshalb, "den richtigen Standort des Militärs in der Politik zu finden. Die ‚Entpolitisierung nützt nichts. Sie führt nicht zu der Einsicht der Militärgewalt in ihre dienende Rolle in der parlamentarischen Demokratie. Sie läßt vielmehr das Militär sich erhaben fühlen über die ‚Niederungen´ der Politik. In Wahrheit ist das auch eine politische Haltung, nämlich eine Haltung außerhalb der und gegen die Demokratie."

Schlussfolgerungen aus diesen Ausführungen können nur sein, dass: 1. die Armee nicht zur Schule der Nation werden darf, weil ansonsten tatsächlich das eintritt, was Manfred Messerschmidt für eine Gesellschaft mit einer Wehrpflichtarmee als "soziale Militarisierung der Gesellschaft" bezeichnet 2. die pluralistische Demokratie nicht den militärimmanenten Grundsätzen von Be-fehl und Gehorsam folgen darf, sondern auf der Grundlage eines werteorientierten argumentativen Für und Wider zu einer anerkannten Entscheidung per Mehrheitsabstimmung kommt, auch wenn das länger dauert, als Befehle durchzustellen. 3. das Militär den Primat der demokratischen Politik anzuerkennen hat; sich mithin nicht das Selbstverständnis des "entpolitisierten" Militärs ergeben darf, weil es nämlich hochpolitisch, soll heißen antidemokratisch wäre und von daher besondere und staatsbürgerliche sowie gesellschaftspolitische Verpflichtungen auf die jeweils Verantwortlichen zukommen.

Meine Damen und Herren, Sie sehen, die aktuelle Debatte um das Pro und Contra zur allgemeinen Wehrpflicht ist mehr als eine sicherheits- und bündnispolitische, verfassungsrechtliche und finanzielle Streitfrage. Hier geht es um das demokratische Selbstverständnis des Gemeinwesens.

Es geht um die der Demokratie in der Bundesrepublik zugrunde liegende politische Kultur in ihrer politisch-normativen und institutionellen Verfasstheit.

Die Frage der Wehrform bedarf also einer breiten gesellschaftlichen Diskussion, denn mit ihr verbinden sich gesellschaftlich-integrative und politisch-programmatische Fragestellungen. Dieser Diskussion kann es nur dienlich sein, dass der Sympathiewert und die Akzeptanz der Bundeswehr in der bundesdeutschen Ge-sellschaft erfreulich hoch sind, wie der SOWI-Ergebnisbericht 2004 belegt.

Die überwiegend generell positive Einstellung gegenüber der Bundeswehr erklärt sich jedoch vor allem aus den ihr zugeschriebenen Nützlichkeitserwägungen.

Interessant ist, dass sich diese Nützlichkeitszuschreibung vorrangig auf die (Über-) Lebenshilfe in Katastrophensituationen bezieht. Wir haben es hier offenbar mit so etwas wie der sozialintegrativen Zivilität der Bundeswehr zu tun. Interessant ist nach dieser Studie, dass der verfassungs- und militärgenuine Auftrag, nämlich die Verteidigung des eigenen Landes, nicht an erster Stelle genannt wird. Und wenn, dann eben nur für den Einsatz im Inland.

Mit anderen Worten: Der nicht-militärische und auf Deutschland selbst orientierte Bundeswehreinsatz wird präferiert.

Daraus ergibt sich eine Frage:

Muss nicht vom Anforderungs- und Kompetenzprofil her, wie es aus der bundesdeutschen Gesellschaft heraus für die Bundeswehr formuliert wird, präziser und unmissverständlicher eine zivile Professionalisierung aufgabenseitig definiert werden?

Müsste also neben die traditionellen Aufgaben von Selbstverteidigung und Abschreckung so etwas wie die "Verstreetworkung oder die "Verzivildienstlichung" treten ?

Eine ganz andere Frage ergibt sich aus den jüngsten Modernisierungsschüben zu transnationalen Strukturen, wie sie Ulrich Beck und Anthony Giddens diagnostiziert haben:

Ist demzufolge die erwartete, vielleicht auch erhoffte "Denationalisierung und Vergemeinschaftung traditioneller Militäraufgaben", wie Karl W. Staltiner es ausdrückt, oder die konstatierte Abnahme der affektiven Bindung an den Nationalstaat, wie Tzvetan Todorov in seinem brillanten Essay "Die verhinderte Weltmacht" ausführte, ein bereits so verbreitetes und verfestigtes, den Nationalstaat überwölbendes gesellschaftliches Bewusstsein?

Oder anders ausgedrückt: Wie realistisch ist eine durchsetzungsfähige europäische Armee, die ihre internen Konflikte selbst lösen kann und mit den demokratischen Partnern gemeinsam international agiert?

Beide Fragestellungen sind Bestandteil der Umstrukturierungsthematik. Die aktuelle Ausgangssituation für die Bundeswehr kann klar benannt werden. Zum einen wird es weiter äußere Unwägbarkeiten geben, die neue sicherheitspolitische Erfordernisse mit sich bringen.

Die Umstrukturierungsdebatte Wehrpflicht- oder Freiwilligenarmee bezieht sich immer auf die Bundeswehr als Ganzes. Gefordert wird von ihr Selbstreflexion und binnensystemischer Perspektivenwechsel. Denn auf der Agenda stehen die Erinnerungskultur, die politische Kultur und das Werteverständnis dieser Republik sowie neue, den Nationalstaat überwölbende militärstrategische Kontextualitäten.

Worum es dabei geht, das möchte ich anhand von fünf Fragestellungen verdeutlichen:

1) Ist die Bundeswehr noch das Spiegelbild der Gesellschaft?

Die These von der Bundeswehr als Spiegelbild der Gesellschaft trifft schon viele Jahre nicht mehr zu. Dieses Argument bedient also nur einen Identitäts-Mythos und hat mit der realen Situation seit mehr als drei Jahrzehnten nichts mehr zu tun.

Ob Geschlechterverhältnis, formale Bildungsqualifikation, politische Einstellungen oder regionale Besonderheiten, sowohl bei den Wehrpflichtigen als auch bei den Berufs- und Zeitsoldaten ist die Bundeswehr anders in ihrer Heterogenität als die Gesamtgesellschaft. So sehr man diese Entwicklung gesamtgesellschaftlich als Demokratisierungs- und Differenzierungsprozess begrüßen kann, so sehr muss man allerdings fragen, wie sehr sich Binnenstruktur und Binnenverständnis der Bundeswehr und die Kommunikations- und Wahrnehmungsweisen zwischen ihr und der Zivilgesellschaft verändert haben. Anworten darauf müssten auch Entscheidungen für die Freiwilligenarmee tangieren, weil ihre Rekrutierungsmuster wahrscheinlich noch weitaus selektiver sind.

Es muss jedenfalls paradox anmuten, wenn man Ursachen und mögliche Konsequenzen dieser Entwicklung aufeinander bezieht. Denn zum einen findet sich hier der verfassungsrechtliche Kern der aktuellen Auseinandersetzung: Die fehlende Wehrgerechtigkeit wegen der unzureichenden Umsetzung der allgemeinen Wehrpflicht.

Zum anderen könnte, wenn es im Ergebnis dieser strittigen Positionen zur Freiwilligenarmee käme, dieses dazu führen, dass z.B. mehr Frauen im Militärdienst sind als unter den jetzigen Verhältnissen. Das jedenfalls ergeben vergleichende Untersuchungen zur Wehrform. Mit anderen Worten: eine Berufsarmee wäre dann femininer und parziell "gleicher" in rechtlicher und geschlechtsspezifischer Hinsicht.

Aber wie groß wäre der Grad der "deformation professionelle", wenn der permanente Wechsel zwischen Armee und Zivilgesellschaft nicht mehr erfolgte? Todorov spricht völlig zu Recht davon, dass das Zivilist-Sein vor und nach dem Soldat-Sein hilft, die Frage zu stellen, ob es sinnvoll ist, zwischen zivilen und militärischen Opfern zu unterscheiden, eine Frage die auch Herfried Münkler hinsichtlich des Charakters der neuen Kriege stellt.

2) Ergibt sich die Akzeptanz der Bundeswehr in der Bevölkerung auch aus der Wehrpflicht?

Möglicherweise ist es ein Ergebnis fehlender sozialstruktureller und bewusstseinsmäßiger Spiegelbildlichkeit zwischen Bundeswehr und Gesellschaft, wenn sie im öffentlichen Bewusstsein weniger oder nur sehr fokussiert präsent ist.

Wenn aber für die Akzeptanz und Wahrnehmung, für "bürgernahe Streitkräfte" die Wehrpflicht gleichsam zur "conditio sine qua non" wird, dann muss nicht nur aus ver-fassungsrechtlichen, sondern aus gesellschaftspolitischen Überlegungen heraus über Modelle einer reformierten Wehrpflicht nachgedacht werden. Dieses könnte und sollte im Kontext eines gesamtgesellschaftlichen Gerechtigkeitsdiskurses stattfinden.

Zugleich aber lauert hier auch verfassungsrechtlich und gesellschaftspolitisch ein Dilemma. Einerseits nämlich zeigt eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung eine positive Einstellung zur Wehrpflicht, andererseits können knapp 50 Prozent sich ihre Abschaffung und knapp über 50 Prozent sich eine allgemeine Dienstpflicht mit fakultativen Dienstverpflichtungen vorstellen.

Je nach Alter, Bildungsniveau und parteipolitischer Präferenz gibt es hier aber durchaus differenzierte Positionen (SOWI-Bevölkerungsumfrage, 2004). So wird die Wehrpflichtfrage auch zur Inklusionsfrage für eine solidarische Gesellschaft und könnte durch ihre gesellschaftsintegrative Funktion zusätzlich an Relevanz gewinnen.

Es sei daher an dieser Stelle das Resümee gewagt, dass die Wehrformfrage einer Klärung zugeführt werden muss, die allgemeine Wehrpflicht bisher aber wenig dafür her gab, politisch-normative Legitimitätsdefizite des bundesdeutschen Gemeinwesens herauszustellen.

3) Hat die Struktur der Bundeswehr Einfluss auf die Entscheidungen der Politik, die Armee in internationale Einsätze zu schicken?

Zweifellos bestimmt die Struktur der Wehrform auch die politischen Akteure in ihren Einsatzentscheidungen. Es erhöht sich bei einer Wehrpflichtarmee, so darf angenommen werden, der Verantwortungsdruck auf die Politik, das Militärische als "ultima ratio" zu sehen. Nicht die unkritische Hinnahme der kollektiven Verpflichtung und die Einsicht in die Betroffenheit aller, sondern die Begründbarkeit gegenüber einer Gesellschaft, die dem Individuum unveräußerliche Rechte und den Schutz vor staatlichen Übergriffen zugesichert sehen möchte, dürfte das Spannungsfeld zwischen verantwortlicher demokratisch-legitimierter Politik und den Bürgern ausmachen. Natürlich kann diese Struktur institutionell wie personell zukünftig für die Bundeswehr zu einer Belastung führen. Denn sie trägt zur Ausbildung einer Zwei-Klassen-Armee bei.

Andererseits könnten in der Zukunft gerade für die Stabilisierungskräfte die zivilen Kompetenzen der Wehrpflichtsoldaten von großem Wert sein, weil es zusätzliche politisch-moralische Akzeptanz schüfe, weil gegenseitiges Verständnis und eine Vernetzung mit NGOs gefördert würden und weil das den Aufbau ziviler Strukturen erleichtern könnte.

4) Gibt es einen Zusammenhang zwischen Wehrpflicht und zukünftiger Professionalität der Bundeswehr-Einsätze?

Wenn, wie es übereinstimmend von den Befürwortern einer Freiwilligenarmee angenommen wird, mit ihr zu einem Mehr an Professionalität kommen wird, muss die Frage erlaubt sein, von welcher Professionalität hier die Rede ist?

Meint sie die "Kriegstüchtigkeit" als das "Handwerk des Soldaten" oder die Vorstellung vom "Soldaten als Kämpfer"? Einem derartigen Ausbildungsverständnis und einer derartigen Gesinnung könnte die allgemeine Wehrpflicht besser entgegenwirken. Denn strukturell und intentional stellt sie einen hohen Grad an Öffentlichkeit her.

Und Öffentlichkeit wäre bei so einem Verständnis um so mehr von Bedeutung, weil es mit dem aktuellen Bild von Bundeswehr in der Gesellschaft überhaupt nicht kom-patibel wäre. Die Wehrpflicht ist insofern die institutionelle Agora für die Kommunikation zwischen Gesellschaft und Armee.

5) Ist die allgemeine Wehrpflicht Staatsbürgerschaftsrechts-Bestandteil des Selbstverständigungsdiskurses über die pluralistische Demokratie und Zivilgesellschaft in Deutschland?

Sicherheitspolitische Fragen, die als Wertefragen auch in den Kontext gesamtgesellschaftlicher Legitimitätskonstituierung gehören, sind auch implizite Bestandteile der Bestimmung des Verhältnisses von Individuum-Zivilgesellschaft-Staat. Mit der Wehrpflichtfrage wird also die in dieser Trias sich wiederfindende Problematik von Autonomie und Verantwortlichkeit des Einzelnen, von Engagement und Rückverlagerung von Entscheidungen in die Zivilgesellschaft und von Zuständigkeit der demokratischen Staatlichkeit zum Thema gemacht.

Dabei bedarf es eines genauen Blicks, um nicht die Wehrpflichtfrage für Interessenpolitik und Ideologieproduktion zu instrumentalisieren. Das eine ist m.E. dann gegeben, wenn für die Beibehaltung der Wehrpflicht plädiert würde, um den Zivildienst als stützenden Pfeiler des Sozialstaats retten zu wollen. Die Wehrpflichtdebatte sollte von derartigen Überlegungen möglichst frei bleiben.

Andererseits kann über die Wehrpflicht als optionale Gemeinschaftsverpflichtung (Wehrdienst oder Ersatzdienst) gerade für die tolerante und pluralistische, sich aber selbstverpflichtende Demokratie der Bundesrepublik Deutschland geworben werden. Dafür könnten aber zweifellos auch andere fakultative Integrationsmodell stehen.

Es bliebe aber bei der Frage, ob denn die Freiwilligenarmee in ihrem Selbstverständnis und ihrer inneren Struktur noch den Bezug zur Gesamtgesellschaft behält und – noch wichtiger – von dort die entsprechend kritisch-affirmative Aufmerksamkeit finden würde.

Lassen sie mich bilanzieren:

Die Pro- und Contra-Wehrpflichtdebatte ist, wenn man genauer hinsieht eine, die seit Gründung die Bundeswehr und ihr Verhältnis zur Zivilgesellschaft begleitet. Natürlich stand die jeweilige Auseinandersetzung immer in einem sicherheits- und gesellschaftspolitischen Kontext. Es ist also für diese Gesellschaft und die von ihr getragene und gewollte Armee immer wieder nicht nur eine situativ bedingte, sondern für das Selbstverständnis und die Integrationsmechanismen dieser freiheitlich-pluralistischen Demokratie unabdingbare Diskussion.

Es hat der Reputation dieser Republik nach innen wie nach außen bisher absolut nicht geschadet, mit einer Wehrpflichtarmee in Erscheinung zu treten. Das hat sehr viel mit dem permanenten Wissens- und Akzeptanztransfer beider Seiten zu tun und ist insofern Ausdruck einer politischen Kultur eines integrativen Pluralismus. Es wird Sie deshalb nicht wundern, dass ich mich bei der Abwägung aller Argumente für die Auswahlwehrpflicht ausspreche, dabei jedoch immer die gesellschaftspolitischen wie weltpolitischen Herausforderungen im Blick habe.

Fussnoten