Sehr geehrte Damen und Herren,
wenn man danach fragt, welche Bedeutung der politischen Bildung heute zukommt, sind verschiedene Dinge angesprochen. Erstens geht es darum, welche Bedeutung, welche Relevanz ihr im öffentlichen Raum beigemessen wird, was sie z.B. der Politik wert ist. Und hier ist die Antwort nicht einfach. Gewiss, dass Bildung ein Megathema ist, hat sich herumgesprochen. "Inzwischen gehört es," schreibt Ulrich Beck in seinem aktuellen Buch "Was zur Wahl steht" (2005), "selbst unter den Parteipolitikern zum Gemeinwohl und zum guten Ton, den Bildungsbereich von den sonst alle Bereiche demolierenden Einsparungen auszunehmen. "Denn, so Beck, handle es sich hier um "Investitionen in die Zukunft". Hoffen wir, dass dies wirklich so gesehen wird und dass die Sichtweise dann auch Bestand hat. Wenn ich die gegenwärtige Situation der außerschulischen politischen Bildung nehme, kann ich jedenfalls in der Bildungspolitik – sowohl auf der Bundes- wie der Landesebene – nicht immer dieses Bewusstsein von den Zukunftsaufgaben erkennen, zumindest dann nicht, wenn es um die konkrete Ausstattung (geschweige denn den Ausbau) dieses Bildungsbereiches geht.
Zweitens werden mit der Frage die gesellschaftlichen Verhältnisse angesprochen, wenn man so will: die objektive Bedeutung, die den betreffenden Bildungsbemühungen heute zukommt. Hier ist die Antwort einfach, die Schwierigkeiten stecken dann im Detail. Die Antwort lautet: Die Dringlichkeit politischer Bildungsarbeit hat inzwischen eine ganz andere Dimension erreicht als vor einem halben Jahrhundert, als in der jungen Bundesrepublik mit der Reeducation die Geburtsstunde der politischen Bildung war. Damals ging es darum, die neue Rolle des Staatsbürgers im demokratischen Gemeinwesen bekannt zu machen und mit Leben zu erfüllen. Diese Aufgabe bleibt uns erhalten – wie mit unschöner Regelmäßigkeit durch das Auftreten antidemokratischer Tendenzen dokumentiert wird –, doch es kommen weitere hinzu. Denn was macht heute die Rolle des Staatsbürgers und der Staatsbürgerin aus? Und was ist die Bezugsgröße Staat? Heute, das heißt ja: im zusammenwachsenden europäischen Staatengebilde, im Zeitalter der Globalisierung, vor den Notwendigkeiten von Global Governance oder anderen internationalen Optionen, angesichts der transnationalen Prozesse in Kultur oder Wirtschaft.
Mit diesen Stichworten ist ein ganzes Feld von Herausforderungen angesprochen, die auch das "European Year of Citizenship through Education", das "Europäische Jahr der Demokratieerziehung", im Blick hatte. Dieses Jahr, das jetzt seinem Ende zugeht, hatte der Europarat ausgerufen, womit er auch die Notwendigkeit demonstrierte, die bürgerschaftliche Rolle, die democratic citizenship, im supranationalen Kontext zu sehen. In Deutschland haben wir dieses europäische Engagement als eine Bestärkung der Anstrengungen erfahren, die die politische Bildung unternimmt. Die Bundeszentrale hat das aufgegriffen, in Kooperation mit den Trägern und anderen Institutionen, um der Bildungspraxis neue Impulse zu geben – von den bundesweiten Aktionstagen der politischen Bildung im Frühjahr (die in Zukunft regelmäßig stattfinden sollen) über die große Bonner Konferenz "Demokratie lernen und leben" bis zu den weiteren Zusammenkünften auf nationaler und internationaler Ebene, die für Ende 2005/Anfang 2006 geplant sind. Dabei wird sich die Bundeszentrale wieder aktiv beteiligen, damit die Anstöße und Anregungen eine nachhaltige Wirkung entfalten.
Lassen Sie mich aus den Diskussionen der nationalen Konferenz in Bonn drei Punkte nennen, an denen die neue, gewachsene Bedeutung deutlich wird. Einmal ging es um die Frage der Partizipation. Dass wir heute eine aktive Bürgerrolle brauchen, ist Konsens. Das ist ja auch ein Verdienst von Bundespräsident Gustav Heinemann, der mit den alten Vorstellungen eines Obrigkeitsstaates endgültig Schluss machte und sich selbstbewusste Bürger und Bürgerinnen wünschte, die sich einmischen, die gegebenenfalls den Betrieb stören. Hier müssen gerade im Blick auf Europa neue Anstrengungen unternommen werden – wie zuletzt der Verfassungsprozess in aller Deutlichkeit gezeigt hat. Europa muss als eine politische Gestaltungsaufgabe vermittelt werden, die man von unten beeinflussen kann, und darf nicht länger als eine Obrigkeit erfahren werden, die im fernen Brüssel oder Straßburg haust (und der man im Fall des Falles einen Denkzettel ausstellt).
Zum andern steht, was mit dem ersten Punkt einhergeht, das bürgerschaftliche Engagement auf der Agenda der Bildungsarbeit. Es geht nicht allein um die Teilhabe an staatlichen Entscheidungen, es geht um mehr: um die Frage nach der Zivilgesellschaft, nach den gesellschaftlichen Gegenkräften, die in einem Zeitalter der Ökonomisierung und Deregulierung den Desintegrationstendenzen entgegenarbeiten können. Der gesellschaftliche Zusammenhalt der Bundesrepublik beruhte in der Vergangenheit gerade auch auf dem Modell der Sozialen Marktwirtschaft, das eben das Soziale mit im Blick hatte und nicht nur den Shareholder Value. Heute, im Zeitalter der globalisierten Marktwirtschaft, wird das zunehmend in Frage gestellt. Wir kennen ja die gesellschaftlichen Spaltungstendenzen aus den Armuts- und Reichtumsberichten der letzten beiden Legislaturperioden.
Und schließlich möchte ich den Punkt Medienkompetenz nennen. Wir leben heute in einer Informations- oder Mediengesellschaft, in einer "Mediokratie", wie Thomas Meyer es formulierte. Informationen sind heute wirklich überall zu haben. Doch es zeigt sich, dass die Informationsfülle gerade zum Mittel der Desinformation werden kann. Und zu dieser Desinformation trägt wesentlich auch die Aufbereitung des politischen Materials nach Art der modernen Medienlogik bei. Wer nach Beispielen sucht, wird im aktuellen Wahlkampf sicher fündig werden. Politische Bildung erhält so fast den Status einer Gegenöffentlichkeit. Sie muss Bildungsprozesse initiieren und unterstützen angesichts einer verbreiteten Vorstellung, man sei schon über alles im Bilde – von der Frisur der Kanzlerkandidatin bis zu den neuesten Parteiskandalen.
Diese Stichworte mögen die Dringlichkeit der politischen Bildungsaufgabe verdeutlichen. Prof. Heinrich Oberreuter hat vor knapp einem Jahr auf dem Kongress "Abenteuer Bildung" in einer "Brandrede" die Politik eindringlich davor gewarnt, die öffentliche Verantwortung für diese Aufgabe zurückzufahren. Angesichts fortbestehender Defizite und der wachsenden Sympathie – gerade unter Jugendlichen – für autoritäre Ordnungsvorstellungen kehrten klassische Bildungsnotwendigkeiten zurück. Prof. Klaus Ahlheim hat jüngst in einem "Streitaufruf" daran erinnert, dass politische Bildung eine wichtige Kritikfunktion wahrnimmt, dass sie als demokratisches Korrektiv gebraucht wird. Sich einzumischen, sich bemerkbar zu machen, das sind aktuelle Erfordernisse. Und dass die Bildungsarbeit dafür im Prinzip gute Karten hat, haben die beiden großen Evaluationen der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung in den letzten Jahren gezeigt: Im außerschulischen Feld ist eine gewachsene Infrastruktur vorhanden, mit tragfähigen Kooperationen, mit kompetentem und innovationsfreudigem Personal – alles in allem, wie Prof. Achim Schröder zur Jugendevaluation schrieb, ein Plus für den deutschen Bildungsstandort; man könnte hier auch von einem "Exportmodell" für andere Länder sprechen.
Ich meine, wir haben in Deutschland gute Voraussetzungen, um diese auch vom Europarat noch einmal mit Nachdruck versehene Aufgabe in Angriff zu nehmen. Wichtig ist, und da sehe ich eine besondere Zuständigkeit der Bundeszentrale, dass wir in der Öffentlichkeit den Prozess des Experimentierens und der ständigen Weiterentwicklung herausstellen und dass wir die Aufmerksamkeit auf herausragende Beispiele, auf Best Practice, auf 'Spitzenprodukte' richten. Wenn wir das in einem breiteren Umfang verdeutlichen können, sehe ich gute Chancen dafür, dass politische Bildung den Auftrieb erhält, der sachlich nötig ist und der von vielen Verantwortlichen gefordert wird.