Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gäste des 6. Festivals "Politik im Freien Theater",
"Sehnsucht" lautet das diesjährige Motto der Theater-Triennale, die nach 17 Jahren und vielen Gastgeberstädten wie Dresden, Stuttgart oder Hamburg nun, fast volljährig, auch die Bundeshauptstadt Berlin erreicht hat. Gerade in den Straßen von Berlin manifestieren sich Sehnsüchte. Mit 2433 Demonstrationen allein im vergangenen Jahr ist Berlin deutschlandweit führend und damit Marktführer im Bereich öffentlicher Artikulation von politischen Sehnsüchten nach einer anderen und in den Augen der Demonstranten immer auch besseren Welt. Sie treibt die Sehnsucht nach Gestalten, Verändern und Verbessern von Gegenwart und dem Stellen von Weichen für die Zukunft, also nach politischer Betätigung. Die Straße wird bei diesen Demonstrationen zu Bühne und Podium für die Artikulation politischer Forderungen. Das alte griechische Prinzip der Agora, des demokratischen Versammlungs- und Diskussionsplatzes, der jenseits der Straße nur medienvermittelt stattfindet, findet hier ihren adäquaten Ausdruck. Braucht man angesichts dieser zahlreichen politischen Open-Air-Performances überhaupt noch politisches Theater? Welches Verhältnis nimmt das Theater und ganz besonders das freie Theater als Teil dieser Agora ein? Hat das Theater als Medium des Politischen womöglich ausgedient und wenn nicht, wo liegt seine politische Relevanz? Oder knapp berlinerisch formuliert: Wat soll det allet eijentlich?
Das Festival "Politik im Freien Theater" versucht Antworten auf diese Fragen zu formulieren, auch wenn die meisten dieser Antworten vor allem auch neue Fragen, Denkanstöße oder Widersprüche provozieren. Gleichzeitig sind es diese Fragen, die den Kern des Selbstverständnisses gerade der freien Theaterszene bedeuten. Ursprünglich in klarer Opposition zu den sogenannten etablierten Staats- und Stadttheatern gegründet, hat sich dieser Gegensatz mehr und mehr verflüchtigt. Die Freie Szene ist heutzutage vielmehr ein wichtiges Element der deutschsprachigen Theaterszene, die sich ihrer Stärken bewusst ist und diese gekonnt und mit viel Verve einsetzt.
Welche Sehnsüchte in Bezug auf Theater, in Bezug auf das Politische, das sie vermitteln wollen, haben die Freien Theatermacher eigentlich? Sicher die Sehnsucht nach einem Theater als relevanter Ort für die Gesellschaft, als Ort der öffentlich ausgetragenen Diskurse und Diskussionen. Statt aber neue Utopien zu kreieren, legt die Freie Szene – jenseits von Tagespolitik aber erstaunlicherweise immer topaktuell – beständig und zielsicher den Finger in die Wunde.
Sie befindet sich damit in guter Tradition. Peter Brook schrieb einst: "Heute ist es schwer, sich auszumalen, wie ein vitales und notwendiges Theater anders als im Missklang der Gesellschaft existieren könnte – da es nicht versucht die angenommenen Werte zu feiern, sondern in Frage zu stellen." Theater, und das gilt besonders für die Freie Szene, gibt sich eben nicht zufrieden mit der Gegenwart, sondern ist vor allem einer ihrer schärfsten Kritiker. Diese bleibt Waffe und Chance des Theaters im politischen Diskurs. Damit verbunden ist auch immer eine Formulierung von inhaltlichen und ästhetischen Alternativen. Wo die Politik widersprüchliche Kompromisse produziert, formuliert das Theater diese Widersprüche laut, stellt sie schonungslos dar und fordert zur Stellungnahme auf. Und das ist auch gut so. Während die Demonstranten die Straße zum Verkünden ihrer Positionen und Meinungen an die Allgemeinheit nutzen, sucht das Freie Theater vielmehr die Übersetzung und versucht die Ergebnisse dieser Suche in seiner ganz eigenen ästhetischen Sprache auf die Bühne zu bringen. Dabei ignorieren die Freien schon mal die Anforderungen der Konsum- und Mediengesellschaft nach kleinen verdaulichen Häppchen und wirkt sperrig, unbequem und ungewohnt. Erst diese ästhetische Verfremdung der Politik, zeigt, was sonst im Rahmen medial vermittelter Wahrnehmung oft unter den Tisch fällt oder wegdiskutiert wird. Genau darin liegt die Funktion des Politischen im Freien Theater, das in seiner Arbeit auch immer wieder Grenzen überschreitet und die klassischen Theater- und somit Zuschauerräume verlässt und sich zu neuen Ufern und Plätzen aufmacht, wie auch die zahlreichen Stadtinterventionen dieses Festivals zeigen, die jene Grenze zwischen Theater und Demonstration verschwimmen lassen.
Das Festival "Politik im Freien Theater" hat sich dabei im Laufe der Jahre zu einem der wichtigsten Theatertreffen in der Freien Szene gemausert, dass es nun ausgerechnet in Berlin, der Heimstatt des Theatertreffens Station macht, ist da nur folgerichtig. Dennoch wird es sich hier nicht festsetzen. Die Karawane wird weiterziehen. Die thematische Bandbreite der Freien Theater – das zeigt auch dieses Festival wieder deutlich – ist dabei breit gesteckt. Von Funktionsmechanismen internationaler Finanzmärkte über theatrale Beschreibungen von Flüchtlings- und Migrantenbefragungen bis hin zu der Frage der Identität des Künstlers in Kulturmarkt und –politik reichen die Themen, die auf diesem Festival gezeigt werden. Auch zeitlose Topoi wie Heimat und die damit verbundene Frage nach dem Menschen in der modernen oder postmodernen Welt stehen nach wie vor auf der Agenda der politisch-theatralen Auseinandersetzung. Und das ist nur ein kleiner Ausschnitt der Programmpunkte des diesjährigen Festivals und sie alle können für den Zuschauer nur Anstoß sein, sich selbst zu beteiligen, ins Gespräch zu kommen, am Diskurs teilzunehmen. Möglichkeiten gibt es genug. Während des Festivals öffnet sich auch der virtuelle Diskurscontainer, in dem ebenfalls Künstlerinnen und Künstler versuchen Antworten zu geben auf die zahlreichen Fragen des Spannungsfeldes Theater und Politik.
Ein besonderer Dank für das Gelingen dieses Festivals ist an dieser Stelle den beteiligten Spielstätten auszusprechen. Erst durch die Kooperation des HAU [Mathias Lilienthal], der Sophiensaele [Amelie Deuflhard], dem Theater unter dem Dach [Liesel Dechant] und dem Theaterdiscounter [Georg Scharegg], der das Festivalzentrum beherbergt, wurde es möglich den 18 eingeladenen Gruppen und den zahlreichen weiteren Künstlern ein zeitweiliges Zuhause zu bieten und Berlin zum Ort dieser besonderen Werkschau der Freien Szene zu machen. Großen Dank hierfür auch an die Kuratorin Sabrina Zwach und Festivalleiterin Odette Enayati, die sich zusammen über die letzten Jahre hinweg für dieses Festival stark gemacht und seine künstlerische Linie durch die Entwicklung neuer Formate und Programmstrukturen bestimmt haben.
Im Anschluss an die Aufführung von "Die Polizey" möchte ich Sie außerdem herzlich zum Konzert von Zdob si Zdub hier im HAU und der anschließenden Eröffnungsparty mit der Band TempEau und DJ Stachy aka Stacy_g. im Festivalzentrum im Theaterdiscounter einladen. Für Shuttle-Busse ist natürlich gesorgt.
Nun aber zum Ende des rein sprachlichen Diskurses, hin zur diskursiven Praxis. Den Anfang macht ein Stück, das auf den ersten Blick alles andere als modern daherkommt. Schiller, der heute seinen 246. Geburtstag feiern würde, hat mit seinem fragmentarisch geblieben Text "Die Polizey" Fragen aufgeworfen, die gerade heute in Zeiten allgemeiner Ausdehnung des staatlichen Sicherheitsapparates im Windschatten des globalen Krieges gegen den Terror wieder hochaktuell sind. Fragen um Wahrheit, Schuld und Gesetz. Fragen um Opfer, Täter und Moral. Ich verspreche Ihnen nicht, dass das Theaterhaus Jena auf all diese Komplexe in seiner Inszenierung, zu der sich nach meinen Einlassungen hier der Vorhang heben wird, Antworten findet. Aber darum geht es ja auch nicht vorrangig. Die Kunst liegt vielmehr darin die richtigen Fragen zu stellen. In diesem Sinne heißt es nun: "Bühne frei für das Theaterhaus Jena und seine Polizey."