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Die Intervention von Kunst in der flexibilisierten Demokratie Kolloquium des Projektes "relations" in Halle/Saale

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In der entgrenzten und flexibilisierten demokratischen Gesellschaft des Turbokapitalismus ist, so sieht es auf den ersten Blick aus, das Kunstwerk und sein spiritus rector nicht mehr als eine bestenfalls überlesene Fußnote. Denn Kunst kann sich nicht eindeutig verstehen und verstehen lassen.

"Man macht sich keinen Begriff von dem Hunger nach Eindeutigkeit, der der höchste Affekt jedes Publikums ist. Eine Mitte, ein Führer, eine Losung. Je eindeutiger, desto grösser ist der Aktionsradius einer geistigen Manifestation, desto mehr Publikum strömt ihr zu. [...] Im Grunde hat das Publikum bei jedem Autor nur ein Ohr für das, - für jene Botschaft, die er auf seinem Sterbebette, mit brechendem Atem, noch Zeit und Kraft genug besässe ihm zu sagen." (W.Benjamin: "Der Weg zum Erfolg in dreizehn Thesen") Walter Benjamins lapidarer Hinweis auf die Einfalt des Publikums, das er bekanntlich an anderer Stelle differenzierter als "zerstreuten Examinator" bezeichnet, wirft heute die Frage nach der Rolle von Künstler, Kunstwerk und Publikum in der postfordistischen Gesellschaft auf.

Lassen sie mich deshalb einige Bemerkungen zur Bedeutung der Ökonomie für die Spielräume und Strukturen einer Bürgergesellschaft machen. In einem weiteren Schritt will ich danach fragen, wie sich Kunst in diesem Kontext verortet und entfallen kann. Abschließend will ich danach fragen, welcher ästhetischen Herausforderung sich Kunst im europäischen und internationalen Rahmen zu stellen hat.

In der entgrenzten und flexibilisierten demokratischen Gesellschaft des Turbokapitalismus ist, so sieht es auf den ersten Blick aus, das Kunstwerk und sein spiritus rector nicht mehr als eine bestenfalls überlesene Fußnote. Denn Kunst kann sich nicht eindeutig verstehen und verstehen lassen. Sonst wird sie zur Ramschware in Billigdiscountern.

Richard Sennett hat 1998 in "Corrosion of Character" (dt.: "Der flexible Mensch") beschrieben, wie sich der noch bei Adam Smith in seiner politischen Ökonomie begegnende Bedeutungszusammenhang von Flexibilität und Freiheit heute aufgelöst hat. Flexibilität ist unter die Vorherrschaft einer neuen ökonomischen Macht geraten, die den Menschen heute mit re-engineering, flexibler Spezialisierung und Neoliberalismus zu einem Wesen verwandelt, das sich von der Vergangenheit löst und das Vorausgehende entschieden verändert. Die Befreiung von den Fesseln der Vergangenheit hat sich aber schnell als Unterwerfung unter neue globalökonomische Kontroll- und Optimierungsmächte herausgestellt.

Richard Sennetts nüchterne, leicht pessimistische Analyse endet aber in der vorsichtigen Beschwörung eines zivilgesellschaftlichen Subjekts ("das gefährliche Pronomen wir"), das widerspricht und für eine Bürgergesellschaft steht, die in ihrer Gesamtheit nicht usurpiert werden kann. Denn die kapitalistische Marktwirtschaft, so "turborisiert" sie auch ist, impliziert den Freiheitsgedanken und ist auf ihn angewiesen. Insofern wird es ein konstituierendes Merkmal marktwirtschaftlich verfasster Demokratie bleiben, sich in einer Öffentlichkeit auszutauschen und das "Material" von Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit neu zu sortieren, um den jeweils gewünschten Rahmen zu setzen. Der Künstler aber auch die Bürgergesellschaft spielen hier ihre Rolle.

Formal gesehen, so Ottfried Höffe in seinem neuen Buch "Wirtschaftsbürger, Staatsbürger, Weltbürger", erfüllt die Bürgergesellschaft zwei Zwecke: Sie bricht das staatliche Monopol auf die öffentliche Sphäre auf und eröffnet einer partizipatorischen Demokratie einen ernsthaften Spielraum. Dabei akzeptiert die Bürgergesellschaft die vorhandenen Steuerungen und Steuerungsmittel einer Gesellschaft: die spontane und anonyme Steuerung von Märkten durch Geld und Reputation, die Steuerung einer politischen Rahmenordnung mit Herrschaftscharakter durch Gesetze und Machteinfluss und die Steuerung von Solidarität durch verabredete Erwartungen und informelle Sanktionen. Die Bürgergesellschaft will dem eine vierte Dimension hinzufügen. Sie strebt, wenn man so will, Gemeinwohl mit nichtgouvernementalen Mitteln an und entlehnt ihre Steuerungstechniken den anderen Steuerungsformen mit dem angestrebten Ziel, die Gesellschaft durch partizipative Demokratie zu ihrer eigentlichen Vollendung zu führen. Natürlich gibt es Streit darüber, wer nun eigentlich die Bürgergesellschaft ist und ob sie mengenmäßig nicht eher eine dürftige Veranstaltung ist.

Es geht aber im Kontext der Globalisierung, wie Anthony Giddens immer wieder betont, in jedem Fall um die Demokratisierung der Demokratie durch eine "dialogische Demokratie" mit ihrer sozialen Reflexivität. Diese "dialogische Demokratie" zielt letztlich auf die Förderung eines kulturellen Kosmopolitismus in seiner Verknüpfung von Autonomie und Solidarität. Sie muss dabei aber die Enttraditionalisierungen berücksichtigen, denen Gesellschaften in der Spätmoderne ausgesetzt sind.

Kulturelle Produktion hat ihren mehr oder weniger bedeutungsvollen Platz in diesem Spiel. Sie ist als spontane und autonome Sphäre radikal frei, welche Bezüge sie für sich herstellt und welche nicht. Ihre Relevanz für eine demokratische Öffentlichkeit, in diesem Sinne also auch für das Benjaminsche Publikum, bestimmt sie damit entscheidend selbst mit.

Es wäre sicher töricht, daraus im Umkehrschluss einer politischen Instrumentalisierung von Kunst das Wort zu reden. Kunst ist nicht Waffe, um ein bekanntes Theorem des sozialistischen Realismus zu bemühen. Vor allem ist sie es nicht, wenn sie es nicht zulässt. Kunst wird aber in ihren Bezügen, die sie herstellt, doch wohl heute auch politisch sein dürfen oder als solche verstanden werden dürfen.

Hier beginnen die Fragen an die "relations"-Projekte. Sie finden alle in sogenannten postkommunistischen Ländern statt. Sie operieren alle mit mehr oder weniger dezidierten Gegenbildern, Interventionen und Re-arrangements. Bei allen weiteren Feststellungen bewegt man sich jedoch schon auf dünnem Eis. Deshalb möchte ich ein paar Fragen stellen:

Überwiegen in Ihrem künstlerischen Selbstverständnis die politisch-historischen Bezüge zu Ihrem eigenen oder einem bestimmten anderen Land? Welchen Stellenwert hat für Sie das Publikum als Teil der Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft in Ihrem Land, in Europa? Gibt es so etwas wie einen proeuropäischen Code in Ihrem zeitgenössischen Schaffen? Wenn ja, an welchen europäischen Vorstellungen und Werten machen sie das für sich fest?

Die politisch, ökonomisch und medial unterstützten globalen Uniformitäten - gerade auch in der Europäischen Union und seiner potentiellen Teilhaber – bedürfen im Interesse einer Öffentlichkeit, einer Bürgergesellschaft Ihrer freien Interventionen. Europa lebt von seiner Diversität. Und die wird gerade nicht durch den europäischen Binnenmarkt oder das sicherheitspolitische Paradigma von Schengen gesichert. Europa braucht eine Agenda von Kultur und Bildung, um sich seiner selbst bewusst zu werden.

Giddens Modell der "dialogischen Demokratie" ruft geradezu nach den integrierbaren Gegenbildern, nach den Abweichungen, an denen sich das solidarische Potential von demokratischen Gesellschaften im Allgemeinen und einer europäischen Öffentlichkeit im Besonderen abarbeiten kann. Diese Interventionen können freilich auch mit der Schattenseite dieser Weltgesellschaft zu tun bekommen. Rechtspopulistische "Eindeutigkeit" wird die Ambiguität des Spontanen, Autonomen, Anonymen immer auch attackieren und zu verdrängen suchen.

Ich gebe zu, dass mich der ungeheuerliche Anspruch von "relations" in diesem Kontext inspiriert: Die synchrone Zeitgenossenschaft europäischer Kunst ist Realität. Das zeigen Ihre beeindruckenden Projekte. Sie bildet sich jedoch nicht hinreichend in der westeuropäischen Öffentlichkeit und erst recht nicht im Kunstmarkt ab. Öffentlichkeiten sind leider viel zu beharrlich, vorurteilsbeladen und hegemonial verfasst und Märkte haben eben auch etwas dümmliches an sich. Der Erfolg von "relations" wird nicht nur von der Überzeugungskraft Ihrer Arbeiten abhängen, sondern auch davon, ob es gelingt, Wirkungen in den europäischen Öffentlichkeiten und dem Kunstmarkt zu erzeugen. Insofern kommt dem Vermittlungsaspekt von "relations" eine enorme Bedeutung zu. "relations" lokalisiert die Projekte nicht vordergründig in einer Topografie mittel- und osteuropäischer Kunst. Vielmehr geht es um einen durch Verdichtung, Verknüpfung und Vernetzung betriebenen Versuch, das europäische Bewusstsein von der Diversität zeitgenössischen kreativen Schaffens zu erweitern.

Kunst, die sich dem Öffentlichen stellt und stellen will, muss sich auf das Publikum einlassen. Und dieses Publikum kann man vielleicht noch in Ansätzen kalkulieren, aber vollständig berechnen und steuern kann man es nicht. Das Publikum – darauf haben einige postmoderne Medientheoretiker oft genug verwiesen – ist nicht so tumb, wie aufgeklärte Künstler und Journalisten oft genug noch meinen. Gerade die soziologischen Untersuchungen von Rezipienten bestimmter Kunstgenres haben gezeigt, dass sich das Publikum nicht selten als kritischer, zuweilen auch als unkritischer Experte erweist, und damit eben auch im Benjaminschen Sinne "Examinator" ist. Als besondere Form des Publikums gehören da natürlich auch die Kunstvermittler dazu, die ihre Rolle kapitalisiert haben und nicht selten sogar einen ansehnlichen Gewinn daraus ziehen.

Für den Künstler zieht das keineswegs zwangsläufig ein postmodernes "anything goes" nach sich frei nach dem Motto: Hauptsache ein Publikum ist da, applaudiert, schimpft oder zahlt. Im Gegenteil: Zeitgenössische Kunst in der "flexibilisierten Demokratie" muss authentisch sein. Sie muss in ihrer Haltung, mit ihrer jeweiligen Diktion interpretierbar und rezipierbar bleiben. Sie muss sich von der Realität absetzen, neue Realitäten schaffen und intervenierende Gegenbilder schaffen.

So stellt sich schließlich durchaus auch eine politisch-ästhetische Frage. Wer heute mit Gegenbildern, mit Interventionen, mit Einwürfen und Fragen arbeitet, operiert quasi auch mit einer "Ästhetik des Widerstands". Peter Weiss, dessen gleichnamiges großes Romanbuch diese Fragen an und in der Geschichte des 20.Jahrhunderts entwickelt, und sozialgeschichtliche Fragen aufwirft, die man sich heute aus vielerlei Gründen nicht mehr stellt oder einfach vergisst, sie zu stellen, sollte vor diesem Hintergrund neu gelesen werden. Er notiert noch vor seinem ersten Band: "Hier ist die Rede von einer Ästhetik, die nicht nur künstlerische Kategorien umfassen will, sondern versucht, die geistigen Erkenntnisprozesse mit sozialen und politischen Einsichten zu verbinden – Kämpfende Ästhetik."

Fussnoten