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Migration und kulturelle Identitäten Spanien und Deutschland im aktuellen europäischen Kontext

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Statement Thomas Krügers auf dem Symposion "Migration und kulturelle Identitäten: Spanien und Deutschland im aktuellen europäischen Kontext", veranstaltet vom Goethe-Institut Madrid und Instituto Cervantes Berlin am 27.04.07 in Madrid.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

einen ganz herzlicher Dank zunächst an Sie, Frau Keilholz-Rühle, für die Einladung nach Madrid. Ich komme gerade aus Lissabon, wo ich gestern eine große Konferenz der Bundeszentrale für politische Bildung mit dem thematischen Schwerpunkt auf der Neubestimmung politischer Bildung in den Einwanderungsgesellschaften Europas ("Citizenship Education in European Migration Societies") eröffnet habe, die wir u.a. mit tatkräftiger Unterstützung Ihres Kollegen Ronald Grätz vom Goethe-Institut Lissabon und mit vielen europäischen Partnern organisiert haben. Die Konferenz bringt unser europäisches Netzwerk NECE zusammen, das wir seit einigen Jahren aufbauen. Wir sind der festen Überzeugung, dass es notwendig und lohnend ist, an einer langfristigen Europäisierung der Themen, Formate und Strukturen politischer Bildung sowie einer Europäisierung von "citizenship education" zu arbeiten. Die große Resonanz auf unsere europäischen Netzwerkkonferenzen gerade auch bei jungen Leuten in Ost- und Südosteuropa zeigt, dass das Bedürfnis nach einem transnationalen Austausch wächst.

Ich muss aktuell also zwischen zwei hochkarätigen Konferenzen in Spanien und Portugal pendeln. Das ist nicht leicht, denn wer wird schon gern gezwungen, sich zwischen zwei so attraktiven Metropolen wie Lissabon und Madrid zu entscheiden. Aber es ist kein Zufall, dass sich Konferenzen und Symposien zum Thema Migration zur Zeit häufen. Das Thema hat sich in den letzten Jahren unaufhaltsam einen Platz unter den Topthemen der politischen Agenda in Europa erobert.

Alle zentralen Themen und Risiken des 21. Jahrhunderts – (ich nenne hier nur in Stichworten die realen und gefühlten Konflikte des Westens mit der 'islamischen Welt', der Verfall staatlicher Strukturen in vielen Teilen der Welt, die sozialen Folgen des Kolonialismus und einer gescheiterten Entkolonialisierung, nicht zuletzt auch wachsende ökologische Krisen und Risiken) – übersetzen sich für uns in Europa, aber auch für die USA, zunächst und vor allem in Wanderungsbewegungen bisher ungekannten Ausmaßes. Die Zahlen, die Frau Süssmuth gestern in Lissabon aus Ihrer Tätigkeit für die UN-Kommission für Migration berichtete, sind beeindruckend: Mehr als 200 Millionen Migranten sind nach Angaben der Vereinten Nationen weltweit unterwegs, davon knapp die Hälfte Frauen. 60% der Migranten halten sich in den reicheren Regionen der Welt auf, 40 % in den Entwicklungsländern. 34 % der Migranten gingen 2005 nach Europa, 23 % nach Nordamerika, 28 % nach Asien. Mit den Menschen wandern bekanntlich auch Hoffnungen und Ängste, kulturelle Werte und Normen.

Meine Damen und Herren, schon 1999 hat der japanische Philosoph Nakanishi TERUMASA das 21. Jahrhundert einmal als das "Jahrhundert der Identität" bezeichnet. Ein realistischer Blick auf die globalisierte Welt von heute zeigt, dass seine These auf fruchtbaren Boden zu fallen scheint. Aber: Drehen sich nicht längst auch hier viele Debatten etwa um Europa, um Einwanderung und Staatsbürgerschaft, um Identität und Identitätspolitik? Was auf den ersten Blick akademisch klingt, ist tatsächlich politisch höchst brisant – um nicht zu sagen explosiv. Grund genug auch für die politische Bildung, sich mit neuen Zugängen diesem Thema zu nähern.

Ich möchte im Folgenden die spezifischen Herausforderungen und Bedingungen politischer Bildung in Deutschland skizzieren und unsere Arbeit zu diesem Thema an einigen Beispielen illustrieren. In einem zweiten Schritt stelle ich Ihnen einige Eckpunkte und offene Fragen der Debatten vor, die wir in Lissabon gegenwärtig führen. Ich beschränke mich auf notwendig knappe Thesen, um uns Zeit für die Diskussion zu lassen.

Welche Herausforderungen stellen sich politischer Bildung in den Zeiten der Einwanderung? Wie gehen wir etwa mit den Jugendlichen aus außereuropäischen Gesellschaften in unserer Mitte um, deren Gefühlslage als "zerrissen zwischen den Kulturen" beschrieben wird, die weder hier noch dort "Zuhause" sind, die einem tief empfundenen "sense of otherness", einem Gefühl der Entfremdung offensichtlich nicht entkommen können.

"Ich fühle mich als Fremder – egal, wo ich gerade bin, in der Türkei oder in Deutschland." sagt z.B. der achtzehnjährige Türke Öztürk in Berlin. "Ich bin in einem Loch zwischen zwei Kulturen." Die New York Times, der wir diese Aussagen entnommen haben, zitiert in ihrer Untersuchung vom November 2006 ähnliche Äußerungen von über 50 Jugendlichen aus Paris, Berlin, Amsterdam, London, Madrid und Rom. Identitätsfindung und Selbstbehauptung in diesen Städten wird – wie wir wissen – oft von hoher Arbeitslosigkeit, Bildungsferne und den Ängsten der Mehrheitsgesellschaft vor Terrorismus und Extremismus begleitet. Diese europaweite Problemanzeige zeigt, dass eine rein nationale Debatte längst nicht mehr in der Lage ist, Lösungen für die hier nur angedeuteten Problemlagen zu finden. Politische Bildung muss sich – wie so viele andere Einrichtungen auch – daher dringend einen neuen europäischen, postnationalen Rahmen schaffen. Das NECE-Netzwerk der bpb, das gerade in Lissabon tagt, ist genau hierfür ein Instrument.

Wichtig ist auch, Diskurs und Praxis national und lokal auf neue Füße zu stellen. Die Bundeszentrale für politische Bildung ist hier sehr aktiv. Ein Beispiel: Die politische Bildung in und mit Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus ist seit geraumer Zeit dabei, ihre gesamte Programmarbeit und didaktischen Ansätze im Hinblick auf den Umgang mit gemischt-ethnischen Gruppen zu überprüfen. Die Geschichte des Holocaust oder die Zurückweisung von neuem und altem Antisemitismus an eine multikulturelle Schülerschaft zu vermitteln, erfordert ein Umdenken der ganzen Disziplin der politischen Bildung. Das ist in vollem Gange, aber das ist natürlich noch nicht abgeschlossen.

In Deutschland war auch eine angemessene Problemwahrnehmung und pragmatische Debatte von Integrations- und und Einwanderungsfragen lange blockiert. Die oft ideologisch geführten Grabenkämpfe um Einwanderung und Integration sind aber zum Glück in der letzten Zeit verebbt. Mit dem neuen Zuwanderungsgesetz, das am 1. Januar 2005 nach langen Debatten in Kraft trat, wurde die staatsbürgerschaftliche Integration von Migranten neu aufgewertet. Aus "Migranten" sollen jetzt "Bürger" werden. Damit hat sich die staatliche Politik sowohl von der jahrelangen Leugnung der Migrationsrealitäten in Deutschland verabschiedet als auch von den Konzepten eines oberflächlich verstandenen "Multikulturalismus". An die Einwanderer werden nun Anforderungen gestellt, sich mit der neuen "Heimat" auseinanderzusetzen und in einem staatsbürgerschaftlichen (also durchaus auch kritischem) Sinne zu "identifizieren". Gleichzeitig entstehen neue Verpflichtungen des Staates und der Gesellschaft, ihre Institutionen, Diskurse und gesellschaftliche Ressourcen so zu gestalten, dass sie mit der neuen Vielfalt kompetent umgehen können, also einwanderungsfähig werden. Im Jahr 2006 wurden von der Bundesregierung mit den Initiativen zur Schaffung eines nationalen Integrationsprogramms und der Gründung der "Deutschen Islamkonferenz" diesbezüglich neue und wichtige Impulse gegeben.

Politische Bildung muss sich sowohl an die wachsende Zahl von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Migrationshintergrund in den Schulen und Bildungsanstalten Deutschlands richten, als auch an die klassischen Multiplikatoren der Mehrheitsgesellschaft, die zu einem kompetenten und professionellen Umgang mit Konflikten, Reibungen und Spannungen befähigt werden müssen. Ein rein normativer, moralisierend-appellativer Diskurs ist nicht zielführend, ebenso wenig wie gutgemeinte interkulturelle Dialoge, die sich um sich selbst drehen und Konflikte umschiffen. Gefragt sind pragmatische und an den Problemfeldern ausgerichtete Beiträge und Handreichungen, die der politischen Brisanz interkultureller Konflikte nicht aus dem Weg gehen. Gleichzeitig müssen junge Migranten, insbesondere auch aus bildungsfernen Milieus, zur politischen Identifikation mit der deutschen Demokratie eingeladen und befähigt werden. Die besonderen Probleme dieser Zielgruppe, oft verdichtet in islamisch geprägten Wohnquartieren lebend, müssen zukünftig stärker durch innovative und lebensnahe Angebote politischer Bildung aufgegriffen werden.

Einige Beispiele aus unserer jüngsten Praxis zur Illustration: Seit 2001 haben wir uns des empfindlichen Themas Islam besonders angenommen. Unsere Didaktik-Abteilung hat für den Unterricht eine Loseblattsammlung zum Thema "Islam und politische Bildung" konzipiert, die umfassend Informationen über die islamische Welt und die Vielfalt islamischer Religionspraxis aufbereitet. Inzwischen umfasst dieses Kompendium über 1.000 Seiten. Hinzu kommen Formate wie unsere "Themenblätter im Unterricht" als Unterrichtsmaterial für Lehrer und Lehrerinnen. Bücher und unsere "Informationen zur politischen Bildung" mit einer Millionen-Auflage haben die Themen Migration und Integration kontinuierlich aufbereitet, ebenso wie Themendossiers auf unserer Website bpb.de. Das Webportal Quantara wurde von uns gemeinsam mit dem Außenministerium, dem Goethe Institut und der Deutschen Welle initiiert.

In einem zweijährigen Modellprojekt haben wir einen Leitfaden zum Thema "Kooperation von Polizeidienststellen mit Moscheevereinen" entwickelt, der inzwischen bundesweit zum Einsatz kommt. Seit 2004 bilden wir in Zusammenarbeit mit islamischen Dachverbänden türkische Imame fort, die in der Regel ohne ausreichende Deutsch- und Landeskenntnisse nach Deutschland entsandt werden. Inzwischen haben wir über 300 Imamen Kenntnisse über die sozialen und politischen Rahmenbedingungen ihrer Arbeit in Deutschland sowie über Ansprechpartner in ihrer Umgebung vermittelt.

Last but not least haben wir es nach durchaus harter Arbeit geschafft, dass auch migrantische bzw. muslimische Vereine wie die Türkische Gemeinde Deutschlands oder die Muslimische Akademie in Deutschlands als Träger der politischen Bildung anerkannt werden konnten.

Lassen Sie mich abschließend betonen: Die Bundeszentrale für politische Bildung ist wie viele andere Bundesbehörden noch weit von einer wirklichen interkulturellen Öffnung entfernt. Das zeigt sich u.a. an der nach wie vor viel zu geringen Quote von Mitarbeitern mit Migrationshintergrund in unserem höheren Dienst. Aber wir haben in den letzten 5 – 6 Jahren einige wichtige Schritte gemacht, um das Thema innerhalb unseres Hauses und für unsere Zielgruppen zu einem selbstverständlichen, dauerhaften Schwerpunkt und damit tatsächlich zum "Normalfall Migration" zu machen, wie der Titel unseres Panels lautet.

Ich schließe wie angekündigt mit drei kurzen Beobachtungen und offenen Fragen ab, die uns in den nächsten Jahren weiter beschäftigen werden.

1. Die Krisen und Konflikte um die Integration von Einwanderern in Frankreich, Großbritannien, England, Spanien oder Italien, auf die kein europäisches Land bisher eine wirklich überzeugende Antwort gefunden hat. Die allgemeine Verunsicherung ist nichts Ungewöhnliches, sie ist ein unvermeidbarer und normaler Begleitumstand in den Zeiten der Globalisierung. Dennoch: unübersehbar sind die populistischen und xenophoben Strömungen in West- und in Osteuropa, die das Rad der Geschichte wieder zurückdrehen wollen. Die "Nation" als politische Einheit und nicht als ethnisch-homogene Zwangsveranstaltung zu begreifen, ist längst nicht überall selbstverständlich. Einwanderer als Bürger, unabhängig von Hautfarbe, Herkunft und Religion mit allen Rechten aber auch Pflichten zu akzeptieren, scheint mir ein wichtiger, eigentlich selbstverständlicher Ansatz zu sein, der auch in Deutschland langsam zu greifen scheint. Wir müssen es einfach schaffen, die "Andersheit der Anderen" – die "otherness of others" – langfristig zu reduzieren anstatt sie, wie bisher, zu konservieren.

2. Auch jenseits der europäischen Grenzen scheint noch kein überzeugendes Modell einer Balance von Integration und Einwanderung gefunden worden zu sein. Auch in den USA, die eine über 200-jährige "Erfahrung" als Einwanderungsgesellschaft aufweisen, sind Spannungen zum Thema Identität und Einwanderung unverkennbar, die mit der Hispanisierung in Teilen des Landes zu tun haben und mit der riesigen Zahl von über 11 Millionen illegalen Immigranten und den Ängsten nach dem 11. September.

3. Europa und die USA sind mitten in einem globalen Wettbewerb um ein Integrations- und Zuwanderungsmodell, das die Mobilität einer Welt verarbeiten hilft, die – geben wir es zu – längst unsere Vorstellungskraft übersteigt. Dabei stellen sich ganz neue und ungewohnte Fragen. Könnte etwa die in Amerika patriotisch erhöhte und überhöhte "visibility of citizenship", um ein Stichwort von Francis Fukuyama aufzugreifen, eine Antwort auf die neuen Herausforderungen im Umgang mit Einwanderern sein, gar ein Vorbild für Europa? Welche Konsequenzen hätte das für eine postethnisch und europäisch orientierte politische Bildung? Wie können wir in der politischen Bildung Einwanderern ein neues Gefühl von Zugehörigkeit zu einer postethnisch verstandenen Nation geben, deren Bindungen und Verantwortung für Geschichte und Orte nicht ausgeschaltet werden sollte, sondern, so der Vorschlag Fukuyamas, den neuen Bürgern so zugänglich wie möglich gemacht werden sollte. Mit anderen Worten: Der Dialog um Europas Geschichte des 20. Jahrhunderts und die Lehren aus den europäischen geschichtlichen Katastrophen muss heute mit den Einwanderern neu geführt werden. Dies sind einige der offenen Fragen, die wir noch bis morgen in Lissabon erörtern wollen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

- Es gilt das gesprochene Wort -

Fussnoten