Sehr geehrter Herr Minister Schäuble,
sehr geehrte Damen und Herren,
vor etwa zwei Jahren, im Dezember 2006, hatte die Bundeszentrale für politische Bildung zu ihrer ersten internationalen Konferenz zur Holocaustforschung nach Berlin eingeladen. Unvergessen für alle, die damals dabei sein konnten, war der Vortrag von Raul Hilberg, einem der Pioniere der Holocaustforschung: emotional bewegend und in der Analyse bestechend. Es war sein letzter großer Auftritt in Europa vor seinem Tod im August 2007. Besonders eindrücklich in Erinnerung geblieben ist mir Raul Hilbergs Einschätzung, dass wir trotz jahrzehntelanger und sehr spezialisierter Forschungen bis heute erst einen kleinen Teil über den Holocaust wissen. Sein Hinweis ist daher sowohl für die Wissenschaft als auch für die politische Bildung Aufforderung und Vermächtnis zugleich, uns auch zukünftig mit dem größten zivilisatorischen Bruch in der Weltgeschichte auseinanderzusetzen.
Bereits während der letzten Konferenz wurde an die Bundeszentrale für politische Bildung der Wunsch herangetragen, kontinuierlich eine Veranstaltung zur Holocaust-Forschung für Wissenschaftler und politische Bildner durchzuführen, da ein solches Forum in Deutschland bisher nicht existiert. Wir haben diese Anregung aufgegriffen und werden in regelmäßigen Abständen dieses Forum schaffen. Der heutige Internationale Holocaust- Gedenktag ist daher Anlass für uns, hier in Berlin die zweite internationale Konferenz zur Holocaustforschung durchzuführen. Im Blickpunkt dieses mal: Die Täter!
An dieser Stelle möchte ich dem Royal Holloway College der Universität London sowie dem Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen, vertreten durch Frau Prof. Katie Normington und Prof. Claus Leggewie, danken, die diese Konferenz in Kooperation mit der Bundeszentrale für politische Bildung durchführen. Ein besonderer Dank gilt Prof. Harald Welzer und Prof. Peter Longerich, die als Initiatoren und anerkannte Experten das Projekt von Beginn an begleitet haben.
Ich freue mich sehr, dass es uns gelungen ist, renommierte Expertinnen und Experten aus den USA, Israel, Großbritannien, Schweden, Polen, der Ukraine und Deutschland zu gewinnen, um mit Ihnen, meine Damen und Herren, in den kommenden zwei Tagen die neuesten Erkenntnisse der Täterforschung und deren Transfer in die politische Bildungspraxis zu diskutieren.
Meinen Dank möchte ich insbesondere all jenen Referentinnen und Referenten aussprechen, die eine weite Anreise auf sich genommen haben, um an dieser wichtigen Veranstaltung teilzunehmen.
Die Internationalität der Konferenz macht deutlich, dass es längst keine rein nationalen Erinnerungskulturen mehr gibt. Erinnerung werden wir immer stärker in einem europäischen und einem globalen Kontext verstehen müssen, ohne dabei jedoch die spezifisch nationale Perspektive und die damit einhergehende Verantwortung zu vergessen.
Sie werden sich vielleicht fragen, weshalb wir ausgerechnet den Blick auf die Täter als Gegenstand dieser Konferenz gewählt haben. Erlauben Sie mir, mit Raul Hilberg zu antworten, der vor einigen Jahren in einem Interview auf die Frage, warum er neben der Opfer- auch die Täterperspektive zum Gegenstand seiner Forschung gemacht habe, antwortete: "...weil nur der Täter, nicht das Opfer wusste, was am nächsten Tag geschehen würde. Die Täter waren ausschlaggebend. Man kann nicht mit der Reaktion anfangen."
Für die Praxis politischer Bildung bedeutet dies, dass auch die Auseinandersetzung mit den Tätern unabdingbar ist, um eine umfassende Analyse des Holocaust zu gewährleisten. Nur der gleichzeitige Blick auf Opfer und Täter macht es möglich, sich der Frage nach dem "Warum" anzunähern und die Lehren aus der Geschichte den nachfolgenden Generationen zu vermitteln.
Dabei muss sich unser Augenmerk vor allem auf jene Prozesse und Strukturen richten, die es erlaubt haben, dass Menschen innerhalb kürzester Zeit ausgegrenzt, als Minderheit definiert, entrechtet, verfolgt und schließlich vernichtet wurden. Wir müssen wissen und verstehen lernen, welche politischen, sozialen, ökonomischen und moralischen Koordinaten solche Prozesse begünstigen und Menschen zu Tätern werden lassen. Damit wir Ausgrenzungen von Minderheiten in der Gegenwart erkennen und der Umdefinition unseres moralischen Wertesystems und der Aushöhlung demokratischer Prinzipien entgegenwirken können. Politischer Bildung muss es gelingen, Menschen die Erkenntnis zu vermitteln, dass es selbst in repressiven Situationen außer untätigem Zuschauen oder aktivem Mitmachen immer auch alternative Handlungsmöglichkeiten gibt.
Dabei muss ich an die "Allee der Gerechten" in Yad Vashem denken, der nationalen Holocaust-Gedenkstätte Israels in Jerusalem, die bezeugt, dass es auch in in der Zeit des Nationalsozialismus Menschen gab, die ihren jüdischen Mitbürgern geholfen und ihnen nicht selten das Leben gerettet haben.
Meine Damen und Herren, Sie werden in den kommenden zwei Tagen Gelegenheit haben, verschiedenste Aspekte der Holocaust-Täterforschung aus interdisziplinären Blickwinkeln, von der Historiographie, der Sozialpsychologie bis hin zur Philosophie kennen zu lernen. Um Gemeinsamkeiten und Differenzen von Täterprofilen analysieren zu können, erschien es uns wichtig, exemplarisch zwei vergleichende Betrachtungen zu Genoziden in Kambodscha und Ex-Jugoslawien zu unternehmen.
Wie der Transfer von der Wissenschaft in die politische Bildung gelingen kann, möchten wir in diversen Workshops diskutieren, in denen auch konkrete Praxisbeispiele präsentiert werden. Diese beschäftigen sich u.a. mit den Aktionsfeldern Schule und außerschulische politische Bildung.
Eine besondere Aufmerksamkeit müssen wir in diesem Zusammenhang auf die speziellen Herausforderungen richten, denen sich politische Bildung in einer Migrationsgesellschaft stellen muss. Hier gilt es, bisher unbekannte Wege zu gehen und neue Methoden auszuprobieren, um auch Menschen mit Migrationshintergrund anzusprechen und adäquate Vermittlungsformen für die Arbeit in religiös, national oder ethnisch gemischten Gruppen zu finden.
Neue Formen der Auseinandersetzung mit dem Holocaust werden seit einigen Jahren auch immer wieder im Film und in der Kunst gesucht, manchmal durchaus gewagt und nicht immer unumstritten. Welche Zugänge Kunst auf diesem oft schmalen Grad zwischen moralischer Verpflichtung und künstlerischer Freiheit eröffnen kann, möchten wir in einem abschließenden Panel diskutieren.
Ich möchte Sie alle sehr herzlich einladen und ermutigen, den Dialog mit anderen Teilnehmenden zu suchen, die großartige Gelegenheit zum "Networking" zwischen Wissenschaft und politischer Bildung intensiv zu nutzen und für Ihre eigene Tätigkeit fruchtbar zu machen.
Bei Spiegel Online bedanke ich mich für die Begleitung der Konferenz als bewährter Medienpartner.
Ich wünsche uns für die kommenden Tage spannende und ertragreiche Diskussionen.
- Es gilt das gesprochene Wort -