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Welchen Stein Du hebst... | Presse | bpb.de

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Welchen Stein Du hebst... Rede von Thomas Krüger anlässlich des Internationalen Symposiums "Welchen Stein Du hebst..." - Filmische Erinnerung an den Holocaust, am 03.12.2009

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Das Ereignis des Holocaust vermittelt sich immer stärker über Bilder, die von dem Ereignis ausgehen und die sich – ob als Sprachbild, Film, Fotografie oder Museumsästhetik – in unser kollektives Gedächtnis einsenken. In den letzten Jahren ist dabei die Dominanz des Films für unsere Vorstellungen des Holocaust immer offensichtlicher geworden.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

"Was vom Holocaust erinnert wird", so schrieb der amerikanische Literatur- und Kulturwissenschaftler James E. Young vor mehr als anderthalb Jahrzehnten, "hängt davon ab, wie es erinnert wird." In der Tat: Unser Wissen über den Mord an den europäischen Juden durch die Nazis hat bis heute viele verschiedene Formen erhalten. Am Beginn standen die von den Alliierten befreiten Lager und andere Orte des Geschehens, die Aufzeichnungen, Briefe und Tagebücher der Opfer und die mündlich oder schriftlich überlieferten erschütternden Berichte und Erinnerungen der Überlebenden und Zeitzeugen, etwa Eugen Kogons "Der SS-Staat" oder das Tagebuch der Anne Frank. Zu den Dokumenten traten historische, soziologische und literarische Deutungen des Holocaust hinzu. Und neben den nach und nach anhebenden wissenschaftlichen Nachforschungen aus den Archiven trat das erinnerungstheoretische Nachdenken über Formen und Funktionen unseres Eingedenkens angesichts eines "Zivilisationsbruchs" (so die bekannte, an Hannah Arendt anschließende Formulierung des Historikers Dan Diner), dessen Ausmaß in immer neuen Wellen in unser Bewusstsein trat.

"Es zeigte", so drückte es etwa der Publizist Gustav Seibt aus, "was im Extremfall möglich ist; es führte den Menschen vor, dass sie von einem Moment auf den anderen fabrikmäßig in brennbare Materie (...) zu verwandeln waren, ohne dass die menschliche Natur dagegen revoltiert hätte. So wurden die Bilder von Auschwitz nicht nur die Quelle eines namenlosen Grauens, mit dem jeder Mensch, der nach 1945 zur Welt kam, irgendwann konfrontiert wurde, sondern darüber hinaus das Motiv einer kaum zu widerlegenden Verzweiflung an der Humanität."

Der Gedanke, dass jeder von uns einen Moment erlebt hat, in welchem er erstmals dieser Bilder gewahr wird, ist meiner Meinung nach für das heute beginnende Symposion wie für die vorangegangene Film-Reihe mit ihren so unterschiedlichen Dokumentar-, Spiel- und Kurzfilmen elementar. Das Geschehene vermittelt sich immer stärker über solche Bilder, die von dem Ereignis ausgehen und die sich – ob als Sprachbild, Film, Fotografie oder Museums- und Denkmalsästhetik – in unser kollektives Gedächtnis eingesenkt haben. In den letzten Jahren ist dabei die Dominanz des Films für unsere Vorstellungen des Holocaust immer offensichtlicher geworden. Schon in der Dichtung von Paul Celan, dessen Zeile "Welchen der Steine du hebst..." der Veranstaltung den Titel gegeben habt, finden sich eine Fülle solcher sprachmächtiger Bilder, etwa die sich mehrfach wiederholenden Verse der "Todesfuge" vom "Grab in den Lüften" oder die Bezeichnung des Todes als einem "Meister aus Deutschland".

Die Visualisierungen der Dokumentar- und Spielfilme seit Alain Resnais "Nacht und Nebel" aus dem Jahr 1955 – für die deutsche Fassung hatte Celan den Text von Jean Cayrol übertragen – über den amerikanischen Fernseh-Mehrteiler "Holocaust" (1978) bis hin zu Claude Lanzmanns "Shoah" (1985) oder Steven Spielbergs "Schindlers Liste" (1993) waren stets Resonanzraum für Fragen der deutschen Nachkriegsgesellschaft: Im Rückblick können wir heute, anhand der jeweiligen Themenwahl der filmischen Erinnerungen aber auch aufgrund ihrer gewählten Perspektive, ihrer ästhetischen Mittel und ihrer jeweils vertretenen Botschaft "die zweite Geschichte des Nationalsozialismus" (Peter Reichel), nämlich diejenige seiner Rezeption, seiner Verarbeitung und intellektuellen Durchdringung, ablesen. Das Spektrum der Filme, die die Filmreihe dieser Veranstaltung zur Aufführung brachte und gerade nicht nur die von mir erwähnten bekanntesten Beispiele zeigte, ist ein außerordentlich beredter Ausdruck der Vielfalt, der Differenziertheit und des hohen Reflexionsgrades, mit dem das Genre Film dem Thema gerecht zu werden versuchte.

Die Bundeszentrale für politische Bildung versteht es seit vielen Jahren als eine ihrer zentralen Aufgaben, das Ereignis des Holocaust umfassend und auf dem Stand der Forschung in die Öffentlichkeit hinein zu vermitteln. So richtete die bpb etwa vor drei Jahren – ebenfalls hier in Berlin – eine internationale Konferenz aus, an der noch Raul Hilberg teilnehmen konnte, ein Überlebender der Shoah und einer der bedeutendsten Pioniere der Holocaustforschung: es war ein bewegendes Erlebnis, seinen bestechenden Analysen zuzuhören. Es war sein letzter großer Auftritt in Europa vor seinem Tod im August 2007. Besonders eindrücklich in Erinnerung geblieben ist mir seine Bemerkung, dass wir trotz jahrzehntelanger und sehr spezialisierter Forschungen bis heute erst einen kleinen Teil über den Holocaust wissen. Sein Hinweis ist daher sowohl für die Wissenschaft als auch für die politische Bildung Aufforderung und Vermächtnis zugleich. Anfang diesen Jahres führte die Bundeszentrale für politische Bildung zusammen mit dem Royal Holloway College der Universität London und dem Kulturwissenschaftlichen Institut Essen eine Folgekonferenz durch, die sich mit aktuellen Entwicklungen in der Täterforschung beschäftigte.

Aus diesen Veranstaltungen heraus entwickelte sich in der Bundeszentrale für politische Bildung der Wunsch, eine regelmäßige Veranstaltung zur Holocaust-Forschung und zum Thema, wie Völkermord und Verbrechen in der sich wandelnden Gegenwart erinnert werden, durchzuführen. Eine dritte internationale Tagung wird in diesem Sinne am 27. Januar 2011 wieder hier in Berlin stattfinden. Unsere Beteiligung an dieser Filmreihe und diesem Symposium ist ein weiterer Ausdruck davon, Foren zu unterstützen, die dem Austausch zwischen Fachwissenschaft, politischer Bildung und politisch-historisch interessierter Öffentlichkeit dienen.

Ich möchte mich an dieser Stelle bei den Organisatorinnen und Partnern sehr herzlich bedanken, besonders bei der Projektleiterin, Frau Dr. Claudia Bruns, Juniorprofessorin für Wissensgeschichte und Genderstudies an der Humboldt Universität, bei der Kuratorin Asal Dardan für ihren unermüdlichen Einsatz bei der Ausarbeitung des Konzepts und an der Organisation der Veranstaltung, sowie bei Günter Saathoff, dem Vorstand der Stiftung "Erinnerung – Verantwortung – Zukunft" ohne deren großzügige Unterstützung die gesamte Veranstaltungsreihe nicht hätte stattfinden können.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
Der Geschichtsphilosoph Paul Ricoeur prägte vor einigen Jahren mit Bezug auf den Holocaust den Begriff "Verletztes Gedächtnis" – die Filme dieser Reihe haben es uns in den letzten Tagen ermöglicht, über Zeiten, Räume und Sprachen hinweg durch den Einblick in die Besonderheiten der filmischen Erinnerung an die Schrecken von Verfolgung und Vernichtung etwas von dieser Verletztheit vermittelt zu bekommen. Das ist auch für unsere Tagung heute und in den kommenden beiden Tagen eine gute Voraussetzung für Vorträge, Diskussionen und Austausch.

Vielen Dank.

- Es gilt das gesprochene Wort -

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