Sehr geehrter Herr Minister Dr. de Maizière, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,
ich begrüße Sie meinerseits sehr herzlich zur Fachtagung "Gesellschaftlicher Zusammenhalt im Fokus von Politik und politischer Bildung".
"Bildung ist Bedingung für die innere und äußere Freiheit des Menschen", heißt es im aktuellen Koalitionsvertrag. "Sie schafft geistige Selbständigkeit, Urteilsvermögen und Wertebewusstsein." Bildung ist Voraussetzung für umfassende Teilhabe des Einzelnen und damit Voraussetzung für gesellschaftlichen Zusammenhalt. Bildung ist Bürgerrecht.
Politische Bildung trägt damit, so darf ich also als Konsens voraussetzen, erheblich zur Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts bei – als stete Auseinandersetzung und als dynamischer Prozess. Für die politische Bildung ist der gesellschaftliche Zusammenhalt das zentrale Thema, die Befragung des Verhältnisses von Individuum, Staat und Gesellschaft, konstitutiv.
Es geht heute darum, Herausforderungen für die politische Bildung zu analysieren und zugleich zu zeigen, wie wir sie beantworten. Ich möchte kurz benennen, welche mir besonders am Herzen liegen. Konkrete Beispiele zu meinen Anmerkungen werden Sie im Laufe der Tagung kennenlernen.
In letzter Zeit wird verstärkt von einer "Krise der Demokratie" gesprochen. Gleich, ob man von Krise sprechen will oder nicht, einig ist man sich in der Diagnose, dass die Gestaltungsmacht der etablierten Parteien in den Augen der Bürgerinnen und Bürger schwindet. Die Globalisierung der Märkte, die Übertragung politischer Entscheidungen auf die transnationale Ebene und das Voranschreiten der elektronischen Kommunikation, verschärft durch die aktuelle Finanzkrise – viele Problemlagen scheinen die Möglichkeiten der nationalen Politik zu übersteigen.
Gleichzeitig werden viele Lebensbereiche in die private Verantwortung von Individuen oder in die Wirtschaftskraft von kommerziellen oder zivilgesellschaftlichen Organisationen gelegt – ob es die Altersversorgung ist, die Lösung von Umweltproblemen, der Erhalt von Arbeitsplätzen oder Theatern. Kein Wunder, dass "Fragen der Demokratie bei der Bewältigung des Lebensalltags den Leistungs- und Konsumanforderungen untergeordnet werden", wie Heike Walk (Zentrum Technik und Gesellschaft der TU Berlin) feststellt, und dass "dabei solidarische und Gerechtigkeitsideen in den Hintergrund treten, während Individualwerte an Bedeutung gewinnen."
Aber: Im Zuge einer wachsenden Individualisierung werden viele Lebensbereiche der Verantwortung des Einzelnen zugeschrieben, deren Ursachen und Bedingungen ebenso wie deren Beherrschbarkeit keineswegs beim Individuum liegen, sondern politische Aufgaben sind und bleiben. Das demokratische Bewusstsein des Einzelnen ist doch eigentlich recht intakt, wenn es auf Einfluss und Regelung auch solcher Bereiche pocht, die aus der politischen Verantwortung entlassen werden und sich dennoch als politikrelevant und regelungsbedürftig erweisen.
Es ist daher meines Erachtens mehr denn je Aufgabe der politischen Bildung, die politischen Implikationen sozialer, gesellschaftlicher und individueller Fragen deutlich zu machen. Sie muss Anknüpfungspunkte im Alltag der Menschen benennen und die Anstrengung unternehmen, das Politische im scheinbar Privaten, in sozialen Beziehungen, im Kulturellen oder in kommunikativen Communities aufzuzeigen. Nur eine solche "Entgrenzung" des Politischen bzw. der politischer Bildung kann diejenigen Themen und Anliegen, die aus dem Fokus politischer Gestaltbarkeit scheinbar ausgewandert sind, wieder ins Bewusstsein der Betroffenen und der Politik heben.
Herausforderungen wie die Globalisierung, Migration und soziale Verteilungsprozesse haben aber auch eine Sehnsucht nach allumfassenden Lösungen und gemeinsamen Identifikationsflächen hervorgebracht. Natürlich sind Konsens, Versöhnung, Integration und Inklusion gesellschaftlich anzustrebende Werte. Sie setzen jedoch den offenen, kontroversen Diskurs voraus, dem es um die besten politischen Lösungen geht. "Eine politische Grundhaltung", sagt die belgische Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe, "die von der Sehnsucht nach dem Konsens bestimmt wird, gerät nicht nur in die Gefahr, eigentlich politische Fragen auf der moralischen Ebene auszutragen. Sie versäumt es auch, den vorhandenen widerstreitigen Positionen legitime demokratische Ausdrucksformen zu bieten."
Ähnlich argumentiert der niederländische Politikwissenschaftler Paul Scheffer, wenn er kritisiert, dass wir interkulturelle Konflikte als einen Mangel an Integration begreifen. Das Gegenteil sei der Fall, meint er, die Vermeidung konflikthafter Auseinandersetzung werde oft als Toleranz missverstanden, keine Fragen zu stellen als Geste der Höflichkeit. In Wahrheit aber sei die Thematisierung von Unterschieden, das Austragen von Konflikten die beste Strategie, mit Vielfalt um zugehen.
Politische Bildung muss dazu beitragen, die Fähigkeit zur konstruktiven, politischen Auseinandersetzung zu stärken und dafür gegebenenfalls neue demokratische Streitformen und neue Formen der öffentlichen Auseinandersetzung anregen und moderieren. Die politische Bildung muss mitten rein ins Leben und die Menschen dabei unterstützen, Gestaltungsräume zu erkennen und wahrzunehmen. Dafür haben wir in den letzten Jahren einen Paradigmenwechsel vollzogen: Nicht mehr nur der Wissenstransfer steht im Mittelpunkt unserer Arbeit, sondern eine aktivierende politische Bildung, die vor Ort wirkt, Perspektiven erweitert, vernetzt und Aufmerksamkeit erregt, und deren Ziel die Partizipation und Handlungsfähigkeit aller Bürgerinnen und Bürger ist. Unser Projekt "Regionale Netzwerkarbeit mit bildungsfernen Zielgruppen" zielt in diese Richtung und wird Ihnen heute Nachmittag vorgestellt.
Damit bin ich bei einer weiteren Herausforderung für die politische Bildung – den Veränderungen der Kommunikationswege und damit einer tiefgreifenden Veränderung von Öffentlichkeit. Das Verhältnis von Privatem und Öffentlichem hat sich mit Verbreitung und im Umgang mit dem Internet drastisch verändert. Die so genannte "Öffentliche Meinung" wird nicht nur durch mediale Information und Inszenierung repräsentiert, sondern durch Grasswurzelbewegungen, Blogs, ad-hoc-Foren oder Vernetzungs-Kampagnen. Sie münden immer häufiger in realen politischen Aktionen, wie wir spätestens seit Internet-Petitionen wie gegen das "Zugangserschwerungsgesetz" sehen können. Oder jetzt im Vorfeld des Wahl des Bundespräsidenten. Kommunen nutzen das Internet für partizipative Prozesse wie für Entscheidungen zu Lärmschutzmaßnahmen oder zur Aufstellung ihrer Etats, Abgeordnete twittern mit ihren Wählern, Ministerinnen berichten über ihren Arbeitsalltag. Und natürlich ist das Netz auch eine Plattform für Mobbing und Bashing, für Machtpositionen ohne Legitimation, für antidemokratische Ideologien links- und rechtsextremer Akteure. Der virtuelle Raum ist vielfältig und lebendig, und er ist hochpolitisch.
Die jüngsten "14 Thesen zur Netzpolitik" des Bundesministers des Innern, Ihre Thesen, lieber Herr de Maizière, tragen dieser Entwicklung Rechnung. Sie dokumentieren, dass die Politik in Bezug auf das Internet auf der Höhe der Diskussion angekommen ist. Sie markieren aber auch die Herausforderungen für die politische Bildung. Denn es ist ihre Aufgabe, die möglichen und tatsächlichen Folgen für unsere Demokratie – von der Teilhabe an der politischen Willensbildung im Internet bis hin zu netzpolitischen Entscheidungen – fördernd wie kritisch zu begleiten. Netzpolitik ist ein Thema, das "heiß" diskutiert wird, und das die politische Bildung gemäß ihrem Kontroversitätsgebot genauso plural aufnehmen muss. Die bpb stellt sich dieser Aufgabe, morgen am sog. Runden Tisch mit den von uns geförderten Trägern der politischen Bildung werden wir dieses Thema ebenfalls behandeln.
Die politische Bildung muss rein ins Netz. Es ist schnell, interessant und für seine Nutzer leicht zugänglich. Es kann auf individuelle Informations- und Kommunikationsbedürfnisse eingehen und ebenso dem Interesse nach Austausch entgegenkommen. Es ermöglicht Kontakt über geografische und soziale Grenzen hinweg und schafft gemeinsame Arbeitsräume, manchmal zwischen äußerst unterschiedlichen Akteuren.
Aber der virtuelle Raum ist auch exklusiv. Bereits jetzt gibt es einen Generationen- und Kulturkonflikt zwischen den "digital natives", der Generation, die einen selbstverständlichen Zugang zu neuen Informations- und Kommunikationstechniken hat, und dem "nicht-netzaffinen" Rest der Bevölkerung, der qua Alter oder sozialer Herkunft davon ausgenommen ist. Wenn das Internet Mittel einer Demokratisierung von Öffentlichkeit sein soll, muss politische Bildung dafür Kompetenzen fördern. Damit sind sowohl die Fähigkeiten gemeint, an dieser Öffentlichkeit teilzuhaben und sie für eigene politische Interessen zu nutzen, als auch die Fähigkeit zur kritischen Distanz und richtigen Einschätzung ihrer legitimen Reichweiten.
Alle bisher von mir genannten Punkte weisen einmal mehr auf die Frage, was ein politisch gebildeter Mensch wissen und können sollte. Die Europäisierung der Bildungsforschung und der Bildungspolitik haben zu Debatten geführt, die bildungstheoretische und didaktische Ansätze der politischen Bildung in Deutschland unmittelbar betreffen. Es ist eine dringliche Aufgabe, allgemeine und spezifische Kompetenzdefinitionen für die politische Bildung zu finden, Möglichkeiten der Wirkungsforschung auszuloten, Modelle der Zertifizierung zu diskutieren und das Verhältnis von formaler und nicht-formaler politischer Bildung zu klären. Hier besteht für die politische Bildung die Chance, ihren handlungsorientierten Ansatz, ihre aktivierende Funktion deutlich zu machen. Die Entwicklung verlangt jedoch auch, dass sich die schulische wie außerschulische politische Bildung deutlicher positioniert und dies nicht nur im deutschen Kontext, sondern im Verbund mit internationalen, vor allem mit europäischen Partnern tut, die ebenfalls für eine "active democratic citizenship" eintreten.
Damit komme ich zu meiner letzten Anmerkung: Alle Herausforderungen, die ich genannt habe, kann die politische Bildung nicht allein aufnehmen und in ihrer Praxis beantworten. Sie braucht eine bessere Flankierung durch die Wissenschaft, vor allem die empirische Forschung. Eine wissenschaftlich gestützte Debatte schützt vor unzulässiger Vereinfachung und Ideologisierung, führt langfristig zu nachhaltigeren Modellen und verhilft uns in den oft stürmischen Debatten um mehr und bessere Bildung – auch gegenüber der Politik – zu einer gesicherteren Position.
Gesellschaftlicher Zusammenhalt lebt vom Streit um die besten Lösungen. Unternehmen mit einer ausgebildeten Konfliktkultur sind stabiler und produktiver. Lassen Sie uns als "konfliktfreudiges, lernendes Unternehmen politischer Bildung" gute Beispiele präsentieren und miteinander in den Dialog treten. Ich wünsche Ihnen und uns eine interessante Tagung.
- Es gilt das gesprochene Wort -