Wo stehen wir?
Der Vortragstitel, den man mir vorgeschlagen hat, spricht von "neuen Medien". 2010 ist das Internet kein "neues Medium" mehr. Schauen wir uns z.B. die 12- bis 19jährigen an, dann kann man sogar von einem sehr etablierten Medium sprechen. Das Internet ist auch nicht mehr nur ein Medium, sondern ein Ort, an dem man sich aufhält und mit anderen austauscht, ein Kulturraum, in dem Vergesellschaftung stattfindet. Das Netz ist dabei gar nicht mehr von der materiellen Welt zu trennen, sondern durchdringt den Alltag.
"Neu" ist, dass mit den sogenannten Web 2.0- oder Social-Media-Diensten eine besondere Kultur der Mediennutzung eine Verbreitung gefunden hat, die noch vor wenigen Jahren niemand vorhergesagt hätte. Dienste des Web 2.0 machen ernst mit dem Prosumenten, dem Nutzer, der nicht nur empfängt, sondern selber Inhalte veröffentlicht. Schauen Sie sich auf Facebook, YouTube, Twitter, Flickr, Geocaching, Delicious oder auch der Wikipedia um: Sie werden keine Inhalte finden, die Redakteure in einer Zentrale erstellt haben, sondern millionenfach Inhalte von den Nutzenden selber. Diese Websites werden von ihrer Community mit Leben gefüllt. Dabei geht es nicht nur um die Veröffentlichung von Inhalten, sondern immer auch um Kommunikation. Alle genannten Plattformen leben vom Austausch der Nutzer untereinander.
In der politischen Bildung suchen wir nach Wegen, wie Bürgerinnen und Bürger stärker an ihrer Gesellschaft teilhaben. Es geht uns um Auseinandersetzung und Engagement, Aktivierung und Partizipation, im Großen wie im Kleinen, kurz: um Beteiligung.
Wir brauchen weniger brave Untertanen oder zahme Schäflein, wir brauchen mehr aktive Bürgerinnen und Bürger, die das Gemeinwesen als ihre eigene Sache verstehen. Mehr Beteiligung schafft mehr Freiheit für den Einzelnen und fördert Legitimation, Zusammenhalt und Stabilität des Ganzen.
Wenn wir also von unserer Warte aus auf Internet und Politik schauen, dann interessieren wir uns besonders dafür, was das Internet für die Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger an gesellschaftlichen Fragen bedeutet. Teilweise beobachten wir im Netz ganz erstaunliche Phänomene: Da finden wir selbstorganisierte Gemeinschaften von ehrenamtlichen, hochengagierten Menschen, die sich über Grenzen wie formellen Status, Geschlecht, Alter und Geographie hinweg zusammenfinden. Die Ergebnisse ihrer Aktivitäten sind zum Teil atemberaubend. 73% aller Onliner nutzen die Wikipedia als Informationsquelle. Eine Millionen Menschen sind bei Facebook angemeldet – alleine in Berlin! Bei YouTube werden weltweit 24 Stunden Videomaterial neu eingestellt – pro Minute! Und wir sehen ungezählte Blogger, die ihre Meinung zu den Themen veröffentlichen, die ihnen wichtig sind – höchst motiviert von der Sache an sich und losgelöst davon, ob sie damit 1.000 oder 100.000 oder auch nur 10 Menschen erreichen.
Entsteht im Internet also eine neue Agora – ein Ort, an dem sich alle Individuen aktiv um das Gemeinwesen kümmern, an dem die Meinungsbildung nicht mehr von Massenmedien, sondern von bloggenden Bürgerinnen und Bürgern ausgeht, an dem Streit und Konsensfindung sich zu einer neuen Debattenkultur bilden?
Es empfiehlt sich, bei allen Zahlen und Berichten genau hinzuschauen. Auch heute noch ist der ganz überwiegende Teil der Onliner eher passiv – da macht es keinen Unterschied, ob man sich Jugendliche oder ältere Menschen anschaut. Viele Wikipedia-Leser wissen gar nicht, dass sie selber die Autoren des Artikels sein könnten, den sie gerade lesen. Das Niveau in den Kommentaren der meisten YouTube-Videos ist, freundlich gesagt, entwicklungsfähig. Der Anteil der aktiven Twitter-Nutzer an der deutschen Bevölkerung liegt im Promillebereich. 30% der Bevölkerung sind sogar noch ganz und gar offline.
Das Internet begünstigt die Bildung von Teilöffentlichkeiten, möglicherweise sogar die Spaltung in eine digitale Kommunikationselite und die digital abgehängten "Analogen". Social Media macht nicht aus jedem User einen Citoyen. Nicht jeder, der hinter einer politischen Forderung auf Facebook den "Gefällt mir"-Button geklickt hat, darf als politischer Aktivist gelten. Auch hat der Wandel, den das Internet mit sich bringt, an manchen Stellen gerade erst begonnen. Die Dinge ändern sich, noch während wir über sie sprechen. Wer sich erst einmal an ein iPhone oder ein anderes Smartphone gewöhnt hat, kann ahnen: Die mobile Internetnutzung wird unseren Umgang mit Raum und Zeit tiefgreifend verändern. Das Internet liegt dann wie eine Folie über der materiellen Welt, ergänzt sie mit Informationen und verbindet uns mit anderen Orten und anderen Zeiten. Es klingt ein bisschen wie Science-Fiction, aber es ist das, was einige Millionen Menschen bereits hier und heute erleben.
Eins bleibt festzuhalten: Social Media ist da und wird nicht wieder verschwinden. Die neuen Kulturen der Mediennutzung haben Ansprüche auf Seiten der Nutzenden geschaffen, die diese nicht einfach wieder vergessen werden. Das Netz birgt Herausforderungen und Chancen für die politische Bildung. Nicht zuletzt müssen wir aufpassen, dass wir nicht eine große Gruppe von interessierten und engagierten Menschen für die politische Bildung verlieren, wenn sie ins Netz abwandert.
Gesellschaftliche Partizipation online
Sehen wir uns an, wie Beteiligung im Netz aussehen kann. Wer sich verschiedene Beispiele anschaut, wird große qualitative Unterschiede finden. Insbesondere wenn man vergleicht, was sich Politik und Verwaltung unter "E-Democracy" vorstellen und was engagierte Netzbürger bereits praktizieren.
Netzbasierte Partizipation 1.0
"E-Government" oder "E-Democracy" – diese Begriffe kursieren schon seit einiger Zeit. Was die öffentliche Verwaltung darunter versteht, hat sich seit Beginn der Debatte kaum geändert. Zugespitzt formuliert: Bürgerinnen und Bürger dürfen und sollen sich beteiligen, wenn sie zur Beteiligung gerufen werden. Bei dieser "Partizipation 1.0" wird die Beteiligung von staatlichen Institutionen initiiert und der Bürger dazu gebeten.
Schon relativ häufig findet man formelle Beteiligungsverfahren im Rahmen von Planungsprozessen, z.B. im Planfeststellungsverfahren. An einigen Stellen wird auch mit informellen Verfahren gearbeitet. Hier geht es eher um Diskussion und Meinungsbildung im Vorfeld von Gesetzesvorhaben oder bei der Haushaltsplanung. Die Bürgerinnen und Bürger geraten dabei auch untereinander in den Dialog.
Bei diesen Formen der Partizipation 1.0 gibt es ein klares Oben und Unten, eine Trennung in Initiator und Mitmachende. Meist handelt es sich bei solchen Beteiligungsformen um die Digitalisierung von bewährten Partizipationsformaten. Häufig wird das Internet eingesetzt, um Kosten zu sparen. Allerdings ist auch der qualitative Mehrwert der Digitalisierung nicht zu verkennen: Die Hürden für Bürgerinnen und Bürger sinken, weil sie sich zeit- und ortsunabhängig ein Bild machen und eigene Standpunkte einbringen können. Wir kennen in Deutschland zum Beispiel Bürgerhaushalte, bei denen die Online-Beteiligung inzwischen eine wichtige Rolle spielt - eine Übersicht über die deutschen Bürgerhaushalte bekommt man übrigens auf der von der bpb mitinitiierten Plattform Externer Link: www.buergerhaushalt.org.
Ein Verfahren für einen etwas anderen und weitergehenden "Bürgerhaushalt" können wir derzeit in Großbritannien beobachten: Im Juni 2010 veröffentlichte die britische Regierung Coins – Combined Online Information System, eine riesige Datenbank, die die gesamten Ausgaben der Regierung mit Inhalt und Empfängern transparent macht – insgesamt 24 Mio. Einträge. Nun ist es an zivilgesellschaftlichen Organisationen und Journalisten, ein System zu entwickeln, wie diese Flut von Informationen gesichtet und bewertet werden kann.
Netzbasierte Partizipation 2.0
Partizipation 2.0 meint Beteiligung, die nicht von oben initiiert wird, sondern vom Bürger ausgeht. Die Parallelen zum Web 2.0 bedeuten: Jeder ist gleichzeitig Konsument und Produzent, jeder kann auch senden, initiieren, sich engagieren, einmischen und Gehör verschaffen, ohne dass er oder sie darauf wartet, gefragt zu werden. Das kann ganz unterschiedliche Formen und Größenordnungen annehmen.
Ein-Klick-Partizipation
Mit Twitter und Facebook verändern sich die kleinsten Bausteine der gesellschaftlichen Partizipation: die öffentliche oder halb-öffentliche Meinungsäußerung. Wenn ich heute auch nur 140 Zeichen twittere, so erreicht dies potentiell die ganze Welt, und es bleibt in der Regel im Internet auf Dauer dokumentiert.
Mit wenig Aufwand – oft mit einem Klick – kann ich mich auch formell einer politischen Forderung anschließen. Ein Beispiel sind Petitionen an den Deutschen Bundestag, die seit 2005 auch via Internet eingereicht und mitgezeichnet werden können. Als zivilgesellschaftliche Plattformen hat sich 2004 campact gegründet, nach dem US-Vorbild MoveOn. Die Plattform bündelt im Vorfeld politischer Entscheidungen für gezielte Kampagnen die Stimmen einzelner Bürgerinnen und Bürger.
Kampagnen
Erfahrene Akteure der Zivilgesellschaft können über das Internet "eine Welle machen", also die Aufmerksamkeit durch gezielte Aktionen auf einen bestimmten Sachverhalt lenken. Die Kampagne von Greenpeace gegen Nestlé lieferte 2010 ein Beispiel. Greenpeace veröffentlichte online ein Video, das die Werbung für den Schokoriegel "Kitkat" imitierte. Darin machte die Organisation mit drastischen Bildern darauf aufmerksam, dass Nestlé Palmöl verwendet, für dessen Produktion Regenwälder abgeholzt werden – und somit laut Greenpeace der Lebensraum von Orang Utans vernichtet wird. Aufmerksamkeit erregte diese Aktion vor allem, nachdem eine intensive Debatte auf der Facebook-Seite des Unternehmens Nestlé entbrannte. Facebook-Mitglieder, die sich im Netzwerk eigentlich als "Fans" von Kitkat registriert hatten, machten sich die Kritik von Greenpeace zu eigen und tauschten ihre Profilbilder gegen ein verfremdetes Kitkat-Logo. Tagelang waren die Nestlé-Seiten mit dem Schriftzug "Killer" statt "KitKat" gepflastert. Unter dem großen Druck der Öffentlichkeit gab das Unternehmen schließlich bekannt, zu anderen Lieferanten zu wechseln.
Dezentrale Netzwerke
Das Internet eignet sich ausgesprochen gut dazu, verstreute Akteure miteinander zu verbinden und schlagkräftige Netzwerke zu bilden. Ein lehrbuch-geeignetes Beispiel lieferte 2009 die Debatte um das Zugangserschwerungsgesetz, das zum Ziel hatte, den Aufruf von Kinderporno-Websites zu verhindern. Im Internet formierte sich eine Protestbewegung gegen das Gesetz, da dieses nach Meinung der Kritiker auch zu Zensurzwecken genutzt werden könnte. Die Kritiker-Bewegung organiserte sich selbst, ohne eine koordinierende Zentrale. Sie formierte sich als diffuses, aber schlagkräftiges Netzwerk alleine dadurch, dass die Einzelakteure aufeinander verlinkten und ein gemeinsam Schlagwort in allen ihren Veröffentlichungen verwendeten: #Zensursula.
Netzbasierte Partizipation 3.0
Die genannten Beispiele sind häufig innovativ, aber sie gehen meist in Richtung Optimierung oder Ergänzung der bisherigen Ansätze von gesellschaftlicher Partizipation. Oft kreisen sie zudem um Themen, die für die Netz-Community relevant sind. Doch das Internet inspiriert Menschen auch dazu, sich ganz grundsätzliche Gedanken zur Demokratie zu machen. Auch mit diesen Ideen, nennen wir sie bis auf weiteres pauschal Partizipation 3.0, muss sich die politische Bildung beschäftigen. Schon jetzt wird diskutiert, ob die Netzgemeinschaft insgesamt sich als eine Macht etabliert, die den Staat und die öffentlichen Angelegenheiten kritisch begleitet und kontrolliert. Das Internet wäre dann die Fünfte Macht im Staat - oder je nach Zählweise die Sechste Macht, wenn man die etablierten Lobbyisten als Fünfte Macht hinzurechnet. In Ergänzung – oder nach einzelnen Meinungen sogar als Ersetzung – der Presse können Informationen auch von Bürgerinnen und Bürgern selber geprüft und eigene Positionen veröffentlicht werden.
An anderen Orten wird mit neuen Formen der demokratischen Entscheidungsfindung experimentiert – zum Beispiel bei der Piratenpartei. Unter Stichwörtern wie Delegated Voting, Liquid Feedback oder Liquid Democracy werden Formen zwischen direkter und repräsentativer Demokratie erprobt. Der Einsatz des Internets senkt die Hürden, die durch den Koordinationsaufwand solcher Verfahren entstehen.
Was ändert sich für die politische Bildung?
Vor welchen Aufgaben stehen wir? Was muss politische Bildung in den kommenden Jahren leisten? Ich möchte diesbezüglich vier Vorschläge in die Debatte einbringen, auf die wir gegebenenfalls in den nächsten Tagen noch zurück kommen können:
1. Förderung von Fertigkeiten neu denken!
Gerade im Zusammenhang mit Medien hat die politische Bildung immer schon das capacity building als ihre Aufgabe gesehen. Bürgerinnen, Bürger und ihre bürgergesellschaftlichen Institutionen sollen in die Lage versetzt werden, sich aktiv verschiedener Medien zu bedienen, um darüber ihre Interessen vertreten zu können.
Ein solches empowerment sind wir häufig als Schulung in der Bedienung von Kommunikationstechnologien angegangen. Dieser Ansatz greift zu kurz. Die Bedienung von Technik und das Veröffentlichen eigener Inhalte werden heute immer einfacher. Auch hier ist methodisches Know-How selbstverständlich weiterhin wichtig. Zusätzlich gibt es aber einen enormen Bedarf an Orientierungswissen: Wie kann ich mich selber kritisch informieren, konfrontiert mit unüberschaubar vielen Quellen? Wie kann ich meinen eigenen Standpunkt in die Welt bringen und einordnen, in Anbetracht des chaotischen Nebeneinanders unüberschaubar vieler anderer Positionen? Wie kann ich mich austauschen und vernetzen, angesichts der rasanten Geschwindigkeit und Unübersichtlichkeit? Dies sind Fragen, die Schülerinnen und Schüler genauso wie Erwachsene betreffen.
Philipp Müller von der Salzburg Business School schlägt vor: "Vielleicht braucht es eine Art Alphabetisierungskampagne, vielleicht sollten wir den Bürgern zeigen, wie sie die Neuen Medien sinnstiftend nutzen können – in ihrem und im Interesse der Allgemeinheit" ("Bürger machen Staat 2.0" – Externer Link: Interview mit Philipp Müller in Economy am 25.06.2010
Die politische Bildung darf sich nicht zurücklehnen und abwarten. Ansonsten droht uns eine (noch tiefere) Spaltung der Gesellschaft in eine Kommunikationselite und eine breite, vom digitalen Diskurs ausgeschlossene Schicht.
2. Gesellschaftliche Relevanz von Partizipation herausstellen!
Für die Politik kann (netzbasierte) Partizipation eine Brücke zwischen direkter und repräsentativer Demokratie bilden. Sie kann helfen, das Verständnis für gesellschaftliche Sachverhalte zu verbessern. Sie kann die Qualität und die Legitimation von Entscheidungsprozessen erhöhen. Sie kann Transparenz schaffen und das Vertrauen in politische Prozesse und Institutionen stärken.
Gesellschaftliche Partizipation ist zu einer Zeit, in der das Vertrauen in die Demokratie und die Gestaltungsfähigkeit von Politik zurückgeht, noch wichtiger geworden. Gleichzeitig sind mit dem Internet die Möglichkeiten größer als je zuvor. Die politische Bildung muss es als ihre Aufgabe sehen, die Relevanz von gesellschaftlicher Beteiligung herauszustellen und als Lobbyist und Katalysator für mehr Bürgerbeteiligung zu wirken.
3. Plattformen für gesellschaftlichen Diskurs anbieten!
Der digital getriebene Wandel greift in weite Bereiche des beruflichen, des privaten und des öffentlichen Lebens ein. Eine aufgeklärte Gesellschaft darf nicht von der Technik getrieben werden. Das heißt: Social Media ist nicht ein neutrales Werkzeug für unsere Arbeit, sondern muss auch selber Gegenstand der kritischen Reflexion sein. Die Entscheidung, eigene Inhalte kommerziellen Unternehmen wie Facebook anzuvertrauen, ist nicht nur eine technische. Wir dürfen uns dabei auch nicht im Versuch aufreiben, alle neuen Entwicklungen mit tradierten Regeln und Verfahrensweisen fassen zu wollen. Das betrifft das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit, von Staat und Individuum, von Beteiligung und Ausschluss, um nur einige Stichworte zu nennen. Gesellschaftliche Veränderungen brauchen gesellschaftliche Debatten. Wer, wenn nicht die politische Bildung, sollte Plattformen für solche Debatten bieten? Die politische Bildung muss Diskurse anschieben, Akteure zusammenbringen und Auseinandersetzungen kultivieren.
4. Politische Bildung muss ins Netz!
All das können politische Bildner nur leisten, wenn sie das Internet verstehen. Sie müssen dafür nicht zur Speerspitze der digitalen Avantgarde werden. Aber politische Bildung muss ins Netz, muss die Möglichkeiten des Web 2.0 selber nutzen und die jahrelang praktizierte und erprobte Debattenkultur aus unzähligen Veranstaltungen auch im Netz praktizieren.
Vermittlungsformen der politischen Bildung
Nimmt man diese vier Vorschläge ernst, dann wird sich auch die Instrumenten-Batterie der Vermittlungsformen der politischen Bildung grundsätzlich ändern.
Publikationen
Nehmen wir zum Beispiel den Bereich der Publikationen. Bisher hieß Publizieren für die politische Bildung in der Regel: Informationsverbreitung. Wir sendeten, die Bürgerinnen und Bürger empfingen. Manchmal bekamen wir einen Brief oder eine E-Mail zurück. Mehr Partizipation bedeutet, dass Publizieren keine Einbahnstraße sein darf, sondern Rückkanäle vorsehen muss. Aus einer Website wird eine Plattform mit Ergänzungen, Widersprüchen, Diskussionen, Kritik und Unsinn. Es geht nicht mehr nur um Information, sondern um Austausch, Dialog, Gespräch.
Gleichzeitig heißt es auch, die "aufsuchende politische Bildung" um die Komponente Social Media weiter zu denken, also auch digital dorthin zu gehen, wo sich viele, vor allem jüngere Menschen aufhalten. Wenn die politische Bildung Facebook oder Twitter nutzt, dann bisher meist nur, um die Zielgruppe auf die eigene Website zu locken. Aber die Zielgruppe will meist gar nicht ge- oder verführt werden. Sie ist auf Facebook, weil sie dort Informationen und Austausch findet. Sie will dort diskutieren, wo sie gerade ist. Die Diskussion findet auf jeden Fall dort statt. Wir können nur entscheiden, ob wir uns mit unseren Methoden und Informationen in diesen Austausch einklinken oder ob die Diskussion ohne uns stattfindet.
Eine solche Dezentralisierung der eigenen Inhalte und Aktivitäten bedeutet auch, dass meine Inhalte möglicherweise von anderen weiterverbreitet werden. Ich muss mich entscheiden, was mir wichtiger ist: die volle Kontrolle über meine Inhalte oder die möglichst weite Verbreitung. Wenn ich mich für letzteres entscheide, muss ich z.B. meine Videos von anderen Websites einbetten lassen. Wenn ich möchte, dass meine Essays und Bücher weitergegeben werden und mit ihnen gearbeitet wird, dann muss ich sie unter eine freie Lizenz stellen, die dem Nutzer genau das erlaubt. Dann gebe ich meine Souveränität und die Kontrolle darüber auf, wer was mit diesen Inhalten macht und wo sie wie veröffentlicht werden.
Noch größer wird der Kontrollverlust, wenn ich nicht nur Rückkanäle etabliere und Inhalte freigebe, sondern auch Nutzerinnen und Nutzer selber auf meiner Plattform Inhalte generieren lasse. Mit solchen kollaborativen Projekten haben wir kaum Erfahrungen. Wir können viel von ad-hoc- und open-source-Prozessen lernen. Auch wenn wir redaktionelle Souveränität aufgeben, müssen wir nach neuen Mechanismen, Regeln, Sanktionen, Definitionen und Abgrenzungen für unsere Arbeit suchen. Die politische Bildung muss auch in dieser Hinsicht zunehmend Sortierungs- und Moderationsfunktionen übernehmen. An manchen Stellen wird sie sich als Community Manager erproben müssen, an anderen Stellen als Schiedsrichter und bisweilen als Kontrolleur.
Gleichzeitig kann politische Bildung auch Entschleunigungsangebote machen: Im rasanten Informations- und Kommunikationsstrom kann sie Angebote unterbreiten, die bewusst Konzentrationsinseln für einen Schwerpunkt setzen. In den ohrenbetäubenden Messehallen der letzten gamescom haben wir in diesem Sinne z.B. auf dem bpb-Stand Ohrenschützer aufgehängt um zu verdeutlichen: für manche Inhalte von uns braucht man einfach Zeit, Konzentration und Ruhe. Also: die eben geschilderten Veränderungen ersetzen nicht die bisherigen Aktivitäten und Aufgaben. Sie ergänzen sie.
Veranstaltungen
Auch auf unsere Veranstaltungen wird das Internet gravierende Auswirkungen haben – ob wir wollen oder nicht. Die allgegenwärtige Vernetzung überwindet Raum und Zeit. Bei einer Vortragsveranstaltung muss nur eine einzige Person Handy oder Laptop mit Videokamera und Internetzugang anschalten, und schon kann er oder sie die Veranstaltung nicht nur als Live-Video an die Weltöffentlichkeit senden, sondern gleichzeitig im Netz für die Zukunft archivieren. Oder jemand twittert Zitate aus einem Seminar. All das passiert schon heute und wird wohl auch auf absehbare Zeit so bleiben.
Wir brauchen in dieser Hinsicht Konventionen, wann und wie wir einen geschützten Raum definieren, dessen Öffentlichkeit eine gewisse Übersichtlichkeit hat, und wann das nicht geht. Bei vielen Veranstaltungen braucht es diesen bewussten Schutz nicht. Dann kann mit verhältnismäßig wenig Aufwand über einen Video-Livestream ein Vortrag oder eine Diskussion in die Welt gesendet werden und erreicht so Menschen, die nicht zum Veranstaltungsort kommen können oder wollen.
Über einen Chat oder eine Twitterwall kann zusätzlich ein Rückkanal aufgebaut werden, mit dem sich interessierte Menschen von anderen Orten aus in die Diskussion einbringen können. Bei neuen Veranstaltungsformaten, die in der Netzwelt beliebt sind, kann die politische Bildung schon eigene Erfahrungen vorweisen. Offene Formate wie barcamps kennen wir bereits. Auch ad-hoc-Angebote aus aktuellen Anlässen sind uns nicht fremd. Hier können politische Bildung und die Netzwelt viel voneinander lernen.
Organisation, Rahmenbedingungen
Auch vor den Rahmenbedingungen, unter denen die politische Bildung arbeitet, wird der Wandel nicht haltmachen. Wie können wir innovative Akteure und Aktivitäten fördern, auf die die etablierten Förderrichtlinien nicht zutreffen? Wie messen wir Resonanz, wenn eine Veranstaltung gleichzeitig in einem Seminarraum und im Netz stattfindet? Wie gehen wir mit der Internationalisierung um, die im (zumindest deutschsprachigen) Netz unvermeidlich ist? Was machen wir, wenn Seminarpläne nicht eingehalten werden können, wenn die Partizipation der Teilnehmer so groß wird, dass sie alle Planungen überwinden? Wie gehen wir damit um, wenn die Grenze zwischen politischer Bildung und politischer Aktion aufweicht? Es geht nicht mehr nur darum, unsere Zielgruppen ernst zu nehmen und mit ihnen und für sie Angebote zu entwickeln. Es geht darum, dass wir uns den Nutzenden radikal zur Verfügung stellen, dass wir uns für sie öffnen, dass wir kollaborieren. Es geht um die Einbeziehung der Nutzenden in die Wissens- und Bildungsproduktionen. Jetzt bricht die Nutzerzeit an.
Fazit
Mut zum Kontrollverlust
Die politische Bildung muss die neuen Möglichkeiten auf ihre eigenen Formate übertragen, sowohl was Veranstaltungen und Publikationen als auch was die eigene Organisation betrifft. Wir brauchen Mut zu einem Experiment mit offenem Ausgang. Eine zentrale Aufgabe der politischen Bildung ist es, neue Formen der demokratischen Teilhabe und Auseinandersetzung anzuregen, zu moderieren und auch selber zu erproben. Uns steht eine Öffnung bevor – eine Öffnung ins Ungewisse, ins Offene. Das verlangt zunächst ein ausgeprägtes und kooperativ bestimmtes Selbstbewusstsein für unsere Aufgaben.
Wenn politische Bildung sich selbst, Partizipation und das Internet ernst nehmen will, dann muss sie mobiler werden. Die Rolle der klassischen Bildungsstätte erweitert sich: Die politische Bildung muss mit einem Stand- und einem Spielbein agieren. Auch weiterhin braucht es den geschützten Raum und die Gelegenheit zum Rückzug, um sich intensiv und konzentriert mit einem Thema beschäftigen zu können. Aber die politische Bildung muss auch mitten rein ins Leben! Und das Leben spielt sich nun mal inzwischen für mehr Menschen auf Facebook ab statt, pardon, in einem Seminarraum oder dem Rathaus.
Niemand verspricht uns, dass das leicht wird. Mit mehr Partizipation, mehr Transparenz und mehr Experiment geht ein deutlicher Kontrollverlust einher. Wir werden mehr aushalten müssen und brauchen ein dickes Fell. Vieles wird neu sein, und an vielen Stellen wird die Unordnung sichtbar werden, in der wir leben.
Wenn Sie Inhalte bei YouTube veröffentlichen, dann stehen Ihre Videos zur Politik neben Porno und Propaganda. Wenn alle ihre Meinung dazu sagen können, dann hört sich das mitunter ungemütlich an. Schauen Sie sich einmal die Kommentare an, die Nutzer z.B. unter den YouTube-Videos der Landeszentrale für politische Bildung in NRW hinterlassen. So sieht Meinungsvielfalt aus, wie sie in unseren Seminaren sicher bisweilen gedacht, aber selten geäußert wird. Aber bis heute sind die Videos der Landeszentrale 130.000 mal angeklickt worden. Vermutlich von Menschen, die wir mit unseren traditionellen Formaten selten erreichen.
Besinnung auf unsere Kompetenzen als politische Bildung
Kernbereiche und Kernkompetenzen
Das Internet, insbesondere mit den Möglichkeiten des Web 2.0, eröffnet uns neue Möglichkeiten. Die Schwellen für Beteiligung sind dramatisch gesunken – die technischen Schwellen. Wir haben keinen Anlass zur Euphorie. Die technischen Rahmenbedingungen schaffen nicht automatisch mehr Teilhabe und mehr Demokratie. Um sich in der Netzwelt zurechtzufinden, braucht es mehr denn je Angebote in Sachen Orientierung, Handwerkszeug, Diskussion, Reflexion. Das alles sind zentrale Themen politischer Bildung. Auch und gerade in Zeiten, wo die technische Entwicklung uns täglich neue Werkzeuge anbietet, muss die politische Bildung sich auf ihre Kernkompetenzen besinnen: Sie muss nüchtern abwägen und auswählen, mit welchen Werkzeugen und über welche Kanäle sie welche Angebote macht. Sie muss kritisch prüfen, ob sie mit ihrer Arbeit erfolgreich ist, was sie verbessern kann, wie sie die Nutzenden schon in der Themen- und Formatauswahl teilhaben lässt.
Internet und Präsenz
Alle genannten Beispiele für Partizipation haben eines gemeinsam: Sie haben früher oder später den Sprung in die materielle Welt unternommen. Erfolgreiche Initiativen wurden früher oder später auch von den Massenmedien aufgenommen. Aus der Netzgemeinde wird auch immer wieder Protest auf die Straße getragen. So findet morgen in Berlin die Demonstration "Freiheit statt Angst" statt. Sie hat ihre Ursprünge in der Netzwelt und wird seit 2006 jährlich veranstaltet, zuletzt mit Zigtausend Menschen und einem Bündnis von 167 Organisationen.
"Erst reisen die Daten, dann reisen die Menschen", ist ein beliebter Ausspruch in der Netzwelt. Auch für den Bildungsbereich muss gelten: Das Internet unterstützt und verändert unsere Arbeit. Aber nach wie vor braucht es auch die direkte Auseinandersetzung, das Treffen von Angesicht zu Angesicht. Internet und materielle Welt sind kein Entweder-Oder. Ein Blog oder ein Diskussionsforum kann eine gute Ergänzung zu einem Seminar bilden, aber es kann das Seminar nicht ersetzen.
Beidseitige Annäherung
Die Annäherung der politischen Bildung und der Netzwelt ist keine Einbahnstraße. An vielen Stellen kann das Netz von unseren Erfahrungen profitieren. Mit unserem Grundverständnis, wie es z.B. im Beutelsbacher Konsens festgehalten ist, sind wir auch im Web 2.0 gut aufgestellt. Das beginnt beim Handwerkszeug in Sachen Moderation, geht über die Grundsätze, wie kontroverse Themen zu behandeln sind, und endet noch nicht bei der Durchführung nutzerorientierter Veranstaltungsformate.
Mehr Kontrollverlust wagen!
Wenn man die Politik der politischen Bildung gegenüberstellt, so steht letztere noch vergleichsweise komfortabel da. Ihre Reputation in der Gesellschaft ist gut. Dennoch muss sie sich den gleichen Herausforderungen stellen. Ansonsten droht die politische Bildung, nicht nur die politikfernen Schichten nicht zu erreichen, sondern auch die "digitale Avantgarde" zu verlieren. Was der bereits zitierte Philipp Müller für die Politik sagt, gilt genau so für die politische Bildung: "Wenn die Institution nicht mitmachen will, dann machen es die Bürger eben allein."
Wir dürfen die Chancen des Web 2.0 nicht vergeben. "Mehr Kontrollverlust wagen!" könnte eine Maxime für die politische Bildung sein, die Partizipation auch für ihre eigene Arbeit ernst nimmt.
- Es gilt das gesprochene Wort -