Auschwitz bei Facebook. Anne Frank auf YouTube. Ein Tweet aus dem Holocaust Museum - Die Erinnerung an die Vergangenheit ist längst Teil der virtuellen Welt. Digitale Medien prägen somit heute nicht nur die gesellschaftliche Kommunikation. Sie beeinflussen auch zunehmend unser Verständnis der Vergangenheit, schaffen neue Formen des Erinnerns und der Vermittlung von Geschichte. Aber wie verändert sich die Erinnerungskultur im Zeitalter von Google und Facebook? Wie sieht die Zukunft der Erinnerung aus? Und was bedeutet dies für die politische Bildung?
Das Ende der unmittelbaren Erfahrungsgeschichte in Bezug auf den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg, aber auch die sich pluralisierenden Gesellschaften intensiviert die Frage nach der Zukunft der Erinnerung. Auf einer Konferenz zur den Perspektiven der politischen Bildung sagte Professor Knigge von der Gedenkstätte Buchenwald und Mittelbau-Dora vor kurzem, es bedarf einer "umfassenden begrifflichen und methodischen Weiterentwicklung historischen Lernens aus der Geschichte des extremen 20. Jahrhunderts, wenn die mit Erinnerung einmal gemeinten selbstkritischen, Geschichtsbewusstseinsbildenden, die Lebenspraxis orientierenden Impulse gewahrt, fortentwickelt und weitergeführt werden sollen." (Knigge, Geschichte, Bilder, Mythen. Was bleibt von der Erinnerung in der Zukunft? In Dokumentation der Klausurtagung 2020, 2010 S. 63) Zu dieser methodischen Weiterentwicklung zur Zukunft der Erinnerung soll diese Konferenz einen Beitrag leisten.
Mediennutzung
Heute sind laut der Shell Studie 2010 96% der Jugendlichen online (Shell Studie 2010 S. 101). Das bedeutet einen beinahe flächendeckenden Zugang zum Netz, unabhängig von der sozialen Herkunft. Fast alle der 12 bis 25-jährigen nutzen das Internet neben der Kommunikation inzwischen auch als Informationsquelle für Schule, Ausbildung oder Studium. Lediglich 3% gaben in der Studie an, das Internet nie für Recherchen zu nutzen (S. 104). Die digitale Welt und der Umgang mit ihr ist für Kinder und Jugendliche heute eine Selbstverständlichkeit, mit der sie heranwachsen.
Die Herausforderung in unserer Informationsgesellschaft besteht also nicht mehr darin, Zugang zu Daten und Fakten zu erhalten und sich Informationen zu beschaffen. Mithilfe von Suchmaschinen erhält man zu fast allen Themen in sekundenschnelle meist mehrere tausend Treffer. Nur wie geht man mit dieser Flut an Informationen um? Nach welchen Kriterien soll man Daten bewerten und einordnen? Die neue Herausforderung, vor der wir heute stehen, ist der richtige und kritische Umgang mit den zur Verfügung stehenden Informationen. Hier muss die politische Bildung reagieren. Sie muss Schülern und Studenten Antworten geben können auf die Fragen, wie Geschichtsrecherche im Zeitalter von Wikipedia aussieht und welche Geschichtskompetenzen wir zukünftig brauchen. Denn nur wer Information einschätzen, quellenkritisch hinterfragen und vermitteln kann, wird sich in einer digitalen Gesellschaft aktiv beteiligen und einbringen können.
Erinnerung im Netz – Umgang Zeitzeugen
Es stellt sich darüber hinaus eine weitere grundsätzliche Frage: Ist Erinnern im Internet angemessen? Was ist erlaubt? Wo werden Grenzen überschritten? Wer darf sie womöglich überschreiten, wenn ich an das viel gesehene und diskutierte YouTube-Video "I will survive" denke. Kann man im Internet sachgerecht etwas über Geschichte lernen? Auch der Umgang mit Quellen im allgemeinen und Zeitzeugen im besonderen wirft neue Fragen auf. Die letzten Augenzeugen der Shoah werden bald nicht mehr von ihren Erlebnissen berichten können. Schon heute können die Geschichten der "virtuellen" Zeitzeugen aus Interview-Datenbanken aufgerufen werden. Der Zeitzeuge "on demand" ist im Internet jederzeit verfügbar und lässt sich in Ausschnitten präsentieren. Was sagen uns diese "Stimmen im Netz"? Wie gehen wir mit diesen Beiträgen von Zeitzeugen und der Erinnerung an Holocaust-Opfer bei sozialen Netzwerken um? Darf man das und wie können auch hier authentische Quellen von fiktiven Beispielen unterschieden werden? Es sind viele Fragen, auf die vorläufige Antworten und neue Fragen gefunden werden müssen, die hier während der Konferenz diskutiert werden.
Veränderungen der Geschichtsbilder
Zwar sind wir uns einigermaßen einig, dass Medien Geschichtsbilder prägen, aber wir wissen nicht, welchen Einfluss sie tatsächlich haben. Hierzu fehlen einfach noch ausreichend empirische Daten. Daher sollten wir uns nicht zu Szenarien verleiten lassen, in denen allein das Internet Geschichtsbilder und Erinnerung prägen wird. Klassische Vermittlungsformen, wie Bücher, Archive, Museen und Gedenkstätten werden nicht vom Netz abgelöst, sondern im Grunde nur ergänzt. Ein Beispiel ist das Anne Frank House in Amsterdam. Die Gedenkstätte verzeichnet jährlich mehr als eine Million Besucher. Gleichzeitig haben 800.000 Internet-Nutzer die Webseite Anne Franks Hinterhaus besucht. Die durchschnittliche Verweildauer liegt bei 17 Minuten. Vor dem Hintergrund, dass die durchschnittliche Verweildauer auf einer Website laut Nielsen Media Research von Januar 2010 bei 1-2 Minuten liegt, ist dies ein Beleg für den Bedarf und die Akzeptanz solcher Angebote im Netz. Das Internet tritt somit als weiterer, ergänzender Zugang zur Geschichte neben die klassischen Vermittlungswege.
Pluralisierung der Geschichtsbilder
Vermittlung historischen Wissens ist fester Bestandteil der politischen Bildung. Doch die Rahmenbedingungen haben sich verändert. Neben dem Einfluss der Medien, führen die Globalisierung, der europäische Einigungsprozess und die Einwanderungsgesellschaften zu einer Pluralisierung der Geschichtsbilder. Gleichzeitig sind auch die Zugänge zur Geschichte vielfältiger geworden und an der Bildung von Geschichtsbildern sind heute mehr gesellschaftliche Akteure beteiligt. Auch das Internet trägt durch die Möglichkeit der Partizipation zu dieser Entwicklung bei. Dadurch wird Erinnerung nicht nur pluralistischer, sondern auch demokratischer und vor allem kommunikativer. Im Netz kann sich jeder an der Geschichtsschreibung beteiligen. Das Medium ermöglicht es, selbst aktiv zu werden und neue eigene Perspektiven zu veröffentlichen. Hier steckt neben den bereits genannten Risiken möglicherweise auch eine Chance, Geschichtsnarrativen, die in den öffentlichen Debatten kaum eine Rolle spielen, mehr Platz einzuräumen. So ließe sich Multiperspektivität durch aktive gesellschaftliche Teilhabe in der öffentlichen Erinnerungskultur verwirklichen.
Zukunft der Erinnerung
Jede Generation sucht sich Ihren Zugang zur Geschichte. Und wir sollten deshalb Erinnerung nicht ausschließlich vergangenheitsbezogen denken. Sie lässt sich auch nicht einfach 1:1 auf die nächste Generation übertragen, sondern die jungen Menschen müssen sich die historischen Quellen zur Geschichte selbst erarbeiten und bewerten. Erinnerung der Zukunft muss mehr als Betroffenheit auslösen, statt dessen sollte historisches Lernen zukunftsgerichtete Handlungsoptionen deutlich machen. Hier kann das Medium Internet eine Chance und Ressource für handlungsorientiertes Lernen darstellen, indem die Nutzenden in die Wissens- und Bildungsproduktionen einbezogen werden. Um eine Zivilgeschichte der Zukunft zu entfalten und mitzugestalten, bedarf es einer "Suche nach Zukunft in der Vergangenheit" (Knigge, Geschichte, Bilder, Mythen. Was bleibt von der Erinnerung in der Zukunft? In Dokumentation der Klausurtagung 2020, 2010 S. 64)
Chancen durch das Netz
Das Internet bedeutet vor allem Kommunikation und Vernetzung. Das größte soziale Netzwerk Facebook verzeichnet mehr als 500 Millionen Accounts weltweit (Facebook.com am 8.4.2011). In Deutschland sind es laut ARD ZDF Onlinestudie 2010 mehr als 10 Millionen, jeder fünfzigste also. Soziale Netzwerke können die Basis für neue Lernformate sein, wie beispielsweise kollaborative Geschichtsarbeit die Kooperationen zwischen Klassen, Schulen, Institutionen und Archiven ermöglicht. Geschichtsprojekte lassen sich kostengünstig publizieren und einer breiten, globalen Öffentlichkeit zugänglich machen, wie die Webseite www.lernen-aus-der-geschichte.de sehr gut zeigt. Internationale Projekte zwischen Schulen und Institutionen lassen sich vernetzen, der Austausch kann gefördert werden, Projekte und Ergebnisse lassen sich einfach präsentieren. So wird eine neue Art der Vernetzung zwischen Ländern und Generationen möglich. Denn das Internet wird nicht ausschließlich von den Jungen, sondern zunehmend auch von den Älteren genutzt. (Fast die Hälfte der über 50 Jährigen nutzt das Internet täglich, Initiative D 21 (n) Onliner Atlas 2010)
Entwicklung medialer Bildungsangebote im Netz
Vor allem durch die rapide Verbreitung von mobilen Endgeräten und dem zunehmenden Anteil der so genannten Smartphones – denn bereits jedes 5te Handy ist inzwischen ein Smartphone – lassen sich nicht nur zu fast allen Themen Informationen abrufen, sondern dies auch zunehmend unabhängig von Ort und Zeit. Man muss also davon ausgehen, dass auch die medialen Bildungsangebote für Handys zunehmen werden, sich schnell verbreiten und weiterentwickeln werden. Die bpb unterstützt und entwickelt diesen Prozess mit ihren Partnern in der historischen, politischen und kulturellen Bildung.
Ausblick
Die Entwicklung im Netz schreitet rasant voran, Social Media ist da und wird nicht wieder verschwinden, gleichzeitig steht die Entwicklung von entsprechenden Bildungskonzepten noch am Anfang. Das Netz birgt Herausforderungen und Chancen für die politische Bildung. Daher möchte die bpb mit dieser Konferenz eine Plattform schaffen, um über die Möglichkeiten und Grenzen des Lernens im Netz zu diskutieren, die Entwicklung neuer Formate begleiten und sowohl den internationalen als auch den interdisziplinären Austausch weiterhin nachhaltig fördern.
Wir brauchen Mut zu einem Experiment mit offenem Ausgang. Eine zentrale Aufgabe der politischen Bildung ist es, neue Formen der demokratischen Teilhabe und Auseinandersetzung anzuregen, zu moderieren und auch selber zu erproben. Uns steht – ganz im Hölderlinschen Sinne – eine Öffnung bevor. Eine Öffnung ins Ungewisse, wenn man das Glas als halbleer definiert, ins Offene, wenn es optimistischer als halbvoll gesehen wird.
- Es gilt das gesprochene Wort -