Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Bildung gerecht gestalten | Presse | bpb.de

Presse Pressemitteilungen Pressetexte 2024 Archiv Reden Archiv Pressekits Fotos | Logos | Banner Logos Virtuelle Hintergründe Thomas Krüger Jahresrückblicke Jahresberichte Auszeichnungen Pressekontakt

Bildung gerecht gestalten Eröffnungsrede zum Kongress "Chancen eröffnen - Begabungen fördern: Bildung gerecht gestalten" vom 19. - 20.05.2011 in Berlin

/ 9 Minuten zu lesen

Bildung ist ein Menschenrecht und Bildungsgerechtigkeit ein Ziel, das jeden Einzelnen, aber auch die Gesellschaft insgesamt betrifft und herausfordert. Die Politik muss mit Handlungsentschiedenheit ihre Anstrengungen verstärken, um allen die Chancen auf Bildung zu ermöglichen.

Sehr geehrter Herr Senator Professor Zöllner,
Sehr geehrter Herr Dr. Meyer-Guckel,
Sehr geehrter Herr Professor Baumert,
Sehr geehrte Frau Professor Knauer,
Sehr geehrte Frau Professor Thurn,
Sehr geehrte Damen und Herren,

"Chancen eröffnen – Begabungen fördern: Bildung gerecht gestalten", der Titel dieses Kongresses, den ich die Freude habe zusammen mit Herrn Dr. Meyer-Guckel als Vertreter unseres Kooperationspartners Bildung & Begabung zu eröffnen, ist Programm: Bildung ist ein Menschenrecht und Bildungsgerechtigkeit ein Ziel, das jeden Einzelnen, aber auch die Gesellschaft insgesamt betrifft und herausfordert.

Nach Immanuel Kant ist Bildung der Weg zur Erlangung von Mündigkeit, nach Wilhelm von Humboldt ist sie die Voraussetzung zur Entfaltung vollständiger Humanität. Bildung ist somit Bedingung für die innere und äußere Freiheit des Menschen. Sie schafft geistige Selbständigkeit, Urteilsvermögen und Wertebewusstsein. Bildung hilft uns, das zu entwickeln, was in jedem einzelnen von uns steckt, unsere Talente und Begabungen, unsere Interessen und Fähigkeiten.

Aber auch für die Gesellschaft sind Wissen, Kreativität und Einfallsreichtum der Bürgerinnen und Bürger die wichtigsten Ressourcen. Aus ihnen speist sich die Lebendigkeit und Stärke eines Gemeinwesens, sie sind Grundlage für den Zusammenhalt der Menschen in Freiheit, die Voraussetzung für Fortschritt und Wohlstand. Und sie sind ein wichtiges Fundament unserer Demokratie. Denn sie braucht den mündigen Bürger, der um Zusammenhänge weiß, der Urteilskraft besitzt und zur politischen Partizipation befähigt ist. Ohne Bildung gibt es keine Demokratie, ohne mündige und wissende Bürgerinnen und Bürger keine lebendige Gestaltungskraft für unser Gemeinwesen!

Spätestens seit der ersten PISA-Studie wissen wir, dass Bildungsarmut keineswegs ein Problem der wirtschaftlich abgehängten Welt ist. Bildungsarmut betrifft auch hier in Deutschland viele Menschen ganz direkt. Zwar hat es in den letzten zehn Jahren viele Reformen und auch manche Verbesserungen im Bildungsbereich gegeben. Doch was die Chancen für Jugendliche aus bereits sozial benachteiligten Elternhäusern betrifft, sind die Befunde nach wie vor bedrückend.

Fast jedes dritte Kind unter 18 Jahren wächst in unserem Land in sozialen, finanziellen oder kulturellen Risikolagen auf. Im Jahr 2008 lebten etwa 29 Prozent der 13,6 Millionen Kinder in mindestens einer Risikolage, seit 2000 sind nahezu gleichbleibend 3,5 Prozent der Kinder von allen drei Risikolagen gleichzeitig betroffen, so der Bildungsbericht 2010.

Bildungsbenachteiligung trifft insbesondere Jugendliche mit Migrationshintergrund. Sie erreichen immer noch schlechtere Schulabschlüsse als ihre deutschen Altersgenossen, auch wenn sie in den vergangenen Jahren etwas aufgeholt haben. Nach dem Integrationsbericht der Bundesregierung 2010 haben 2007 10 Prozent der 15- bis 19-jährigen Migrantenkinder die Schule ohne einen Abschluss verlassen, 2008 waren es sogar 13,3 Prozent. Aber auch bei den gleichaltrigen deutschen Jugendlichen ist die Zahl der Schulabbrecher deutlich angestiegen, von 5,4 Prozent im Jahr 2007 auf 7 Prozent im Jahr 2008. Die Probleme haben also nicht in erster Linie einen migrationsspezifischen Hintergrund, sondern einen sozialen. Dies ist aus vielen Gründen ein schlechter Befund für die Einzelnen aber auch für die Gesellschaft insgesamt. Den Jugendlichen werden Lebenschancen verbaut, Fähigkeiten und Talente verkümmern. Wer nicht in ein selbstverantwortetes Arbeitsleben findet, läuft immer Gefahr, auf staatliche Hilfen angewiesen zu bleiben. Auf Dauer kann eine demokratische Gesellschaft sich nicht leisten, einer wachsenden Bevölkerungsgruppe die Teilhabe an Bildung und damit an Wohlstand vorzuenthalten. Denn Ausgrenzung führt bei den einen zum Rückzug, bei anderen zu Widerstand gegen diese Ungerechtigkeit, in jedem Fall aber zu kritischer Distanz gegenüber der Gesellschaft und dem politischen System, auf das diese sich gründet.

Das Vertrauen darauf, dass das staatliche Bildungssystem hier gegensteuern kann, scheint nicht sehr verbreitet. Wie die Allensbach-Studie zur Schul- und Bildungspolitik in Deutschland vom März diesen Jahres zeigt, ist die Erwartung an Lehrerinnen und Lehrer sehr groß, neben der Allgemeinbildung auch soziale Fähigkeiten und Werte zu vermitteln. Die gezielte Förderung von Kindern nach ihren Begabungen wird neben einer verbreiteten allgemeinen Kritik von drei Vierteln aller Lehrerinnen und Lehrer als sehr wichtig beurteilt. Allerdings sehen nur 24 Prozent von ihnen das in der eigenen Schule auch umgesetzt. Gleiches gilt für spezielle Förderkurse für benachteiligte Kinder: der Großteil der Lehrer sieht sie als wichtig an, aber nur 36 Prozent der Befragten findet sie in ihren eigenen Schulen vor. Auch in Bezug auf die Durchlässigkeit wird dem Schulsystem kein gutes Zeugnis ausgestellt. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung hat Zweifel an der Durchlässigkeit des Schulsystems insgesamt. 60 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer an Hauptschulen schätzen die Chancen ihrer Schülerinnen und Schüler sogar noch schwieriger ein als in früheren Jahren.
Die Politik muss sich mit noch größerem Engagement, mit Handlungsentschiedenheit diesen Befunden stellen und die Anstrengungen verstärken, um allen die Chancen auf Bildung zu ermöglichen.

Denn es ist keine Frage: Talente und Begabungen besitzt jeder und jede, der Hauptschüler wie die Gymnasiastin. Jeder kann etwas. Doch jeder braucht auch die Chance, seine Fähigkeiten kennenzulernen, sie zu entwickeln und zu entfalten. Der Sozialwissenschaftler und Bildungsforscher Rainer Geißler spricht deshalb präzisierend von meritokratischer Bildungsgerechtigkeit. Veränderte Schulstrukturen machen nicht automatisch aus jedem Hauptschüler einen Gymnasiasten. Es geht darum, das eigene Potential auszuschöpfen.

Die Bildungswege in Deutschland hängen aber noch immer in vielen Fällen eng mit der sozialen Herkunft zusammen. Und weil die bestmögliche Förderung der Kinder und Jugendlichen sowohl für die individuelle Wahrnehmung von Lebenschancen, für Anerkennung und berufliches Fortkommen, aber auch für die Entwicklung unseres Landes so entscheidend ist, müssen sich Lernerfolge von der sozialen Herkunft emanzipieren. Unsere Gesellschaft sollte ihr Aufstiegsversprechen, das sie mit Bildung verbindet, halten! Gelingt dies nicht, wird unter Umständen auch der demokratische Anspruch unseres Gemeinwesens beschädigt, dessen Grundprinzip eben die Teilhabe aller an Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ist. Die Exklusionsforschung weist heute schon darauf hin, dass eher die Bildungserfolgreichen politische Teilhabe praktizieren. Da darf man sich nicht wundern, wenn in Hamburg das Bildungsbürgertum eine Abstimmung mit sich selbst darüber durchführt, ob die Selektion im Schulsystem beibehalten werden soll.

Gute Bildung muss früh beginnen. Das Bewusstsein dafür, dass Kindertagesstätten Bildungschancen verstärken, ist gestiegen. Die Bildungsbeteiligung der 4- bis 5-Jährigen liegt seit 2008 bei über 95 Prozent. In den Kindertagesstätten werden vielfältige Anstrengungen unternommen, um die ersten Schritte zur gemeinsamen Erkundung der Welt fördernd zu unterstützen und zu begleiten. Wir werden auf diesem Kongress von verschiedenen Modellen hören, wie bereits bei den Jüngsten Neugier angeregt, wie Fähigkeiten sichtbar und Talente entwickelt werden, die eine gute Grundlage für den weiteren Bildungsweg sind.

Entscheidend für den Bildungserfolg ist die Unterstützung und Förderung der Kinder durch die Eltern. Aber viele Elten sind heute unsicher, wie sie ihrer Elternrolle in diesem Bereich gerecht werden können. Der Großteil der Eltern ist davon überzeugt, dass ihnen für den Bildungserfolg eine entscheidende Rolle zukommt. So sehen sie sich selbst großem Druck ausgesetzt, keine Chance bei der optimalen Förderung ihres Kindes auszulassen. 75 Prozent der Eltern bewerten den Schulabschluss ihres Kindes als sehr wichtig. Fast 40 Prozent der Eltern helfen darum auch ihren Kindern bei den täglichen Hausaufgaben. Doch ein Fünftel der Kinder werden von ihren Eltern kaum gefördert. Dies trifft vor allem für Eltern in den sozial schwächeren Milieus zu. Hier hat die Gesellschaft ohne Frage eine große Verantwortung. Die Verbesserung der Vereinbarkeit von Erwerbs- und Familienarbeit ist ein wichtiger Aspekt, ein anderer ist die Frage, welche konkrete Unterstützung gerade den Eltern zukommen muss, die mit den Ansprüchen an sogenannte "gute Elternschaft" völlig überfordert sind. Wir werden auf diesem Kongress über die Elternrolle in der Bildung sprechen und ich bin sicher, dass es zu lebhaften Diskussionen kommen wird.

Wie die erwähnte Allensbach Umfrage zeigt, wünschen sich heute 64 Prozent der Eltern von Schulkindern die Ganztagsschule. Von ihr erhoffen sie sich einerseits eine Entlastung, andererseits auch eine bessere Förderung der Kinder. Ganztagsschulen gibt es inzwischen in allen Bundesländern, die ideologischen Vorbehalte, die lange Jahre die Diskussion um die Einführung der Ganztagsschule geprägt haben, scheinen weitestgehend verschwunden. Das Investitionsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung" hat hier offenbar dazu beigetragen, dass der Anteil der Ganztagsschulen an den insgesamt ca. 42.000 Schulen in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat. Fast jede zweite Schule des Primarbereichs und des Sekundarbereichs I arbeitet inzwischen als Ganztagsbetrieb, vornehmlich in offener Form. Und etwa ein Viertel der Schülerinnen und Schüler nutzen diese Angebote der Ganztagsschulen. Es wird abzuwarten sein, ob hier auch eine neue Lernkultur sichtbar wird, von der Impulse für eine bessere Bildungsqualität ausgehen können. Eine bessere individuelle Förderung jedes einzelnen Kindes steht aber im Fokus und die Angebote, die es in vielen Schulen gibt, sind eindrucksvoll – neben den klassischen schulischen Lernangeboten gibt es eine Vielzahl an kulturellen, sportlichen und musischen Angeboten. Ich selbst bin besonders von den Kulturschulen beeindruckt, die sich der künstlerischen Förderung und Vermittlung widmen. Gleichwohl gibt es noch einen großen Bedarf an Verbesserungen. Darüber wird während des Kongresses zu sprechen sein, wobei hier nicht allein die Forderung nach mehr finanziellen Mitteln im Vordergrund stehen sollte. Angesichts der sehr unterschiedlichen Umsetzung in den Bundesländern wird zu fragen sein, ob allgemein verbindliche Standards vereinbart werden können. Es wird auch zu diskutieren sein, welche pädagogischen Konzepte notwendig sind, um im Schulalltag mehr Bildungsgerechtigkeit zu ermöglichen.

Ein großes Problem für viele Jugendliche, die die Hauptschulen besuchen, ist der Übergang in das Berufsleben. Auch wer seinen Schulabschluss geschafft hat, kann ja keineswegs gewiss sein, den gewünschten Ausbildungsplatz zu finden. Der Übergang in die berufliche Bildung ist für viele junge Menschen nach wie vor unsicher - für Jugendliche mit Migrationshintergrund noch problematischer als für deutsche. Von den deutschen Jugendlichen ohne Hauptschulabschuss gelangen derzeit (Integrationsbericht 2010) drei Viertel nur in das Übergangssystem zwischen Schule und Beruf, mit Hauptschulabschluss ist es etwa die Hälfte. Bei den ausländischen Jugendlichen ohne Abschluss sind es 88 Prozent, mit Abschluss 67 Prozent. Dieser Befund ist problematisch. Schon unter demografischen Gesichtspunkten kann es sich unsere Gesellschaft nicht leisten, viele tausend Jugendliche nicht in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Und wie sollen diese Jugendliche, die offenbar nicht gebraucht werden, Zuversicht für ihre Zukunft gewinnen und Verantwortung in der Gesellschaft übernehmen? Wir werden darüber diskutieren, welche Wege beschritten werden können, um gerade sozial benachteiligten Jugendlichen den Einstieg in das Berufsleben zu eröffnen. Es gibt vielfältige Ansätze, die vermutlich nicht zuletzt auch ein Umdenken bei den Unternehmen notwendig machen.

Neben der Schule spielen auch die vielfältigen außerschulischen Lernorte eine wichtige Rolle im Bildungsalltag der Kinder und Jugendlichen. Hier können sie ihre vielfältigen Talente und Fähigkeiten zum Ausdruck bringen, erleben, was in ihnen steckt. Sie lernen spielerisch, erkundend und mit Spaß. Die Chancen des informellen Lernens nicht zuletzt für die Persönlichkeitsbildung der Jugendlichen können nicht hoch genug eingeschätzt werden. Bildungsbenachteiligte Kinder und Jugendliche, die beim formellen Lernen oftmals vor allem Scheitern und Versagen erleben, machen Selbstwerterfahrungen, finden Anerkennung und Ermutigung. Dass für erfolgreiche Angebote erhebliche Anstrengungen von Gruppenleiterinnen und Gruppenleitern unternommen werden müssen, steht außer Frage. Wir werden bei diesem Kongress etwas über die Bedeutung der Lernumgebung für den Bildungserfolg hören und die Chancen diskutieren, die sich aus diesen Bildungserfahrungen für das schulische formelle Lernen ergeben.

Wie kann mehr Bildungsgerechtigkeit geschaffen werden? Indem Chancen eröffnet werden, Begabungen gefördert und – ganz allgemein - Bildung gerecht gestaltet wird. Um Gerechtigkeit zu erreichen, braucht es harte Arbeit: intellektuelle Arbeit und taktische Arbeit. In Afrika gibt es das Sprichwort: Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen. In der Tat! Und dies gilt keineswegs nur dort – auch bei uns braucht es viele Dörfer und Städte, ja die Talente und Anstrengungen der ganzen Gesellschaft, um das Projekt Bildungsgerechtigkeit voranzubringen. Wir alle müssen unseren Beitrag dazu leisten, denjenigen, die bislang oftmals von den Chancen und Möglichkeiten unseres Landes ausgeschlossen sind, den Weg in die Mitte der Gesellschaft zu ebnen.

In diesem Sinne wünsche ich uns allen für diesen Kongress lebhafte Diskussionen, interessante Begegnungen und anregende Impulse für die Arbeit, die vor uns liegt.

- Es gilt das gesprochene Wort -

Fussnoten