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Deutsche Türken – Türkische Deutsche? 50 Jahre Anwerbeabkommen zwischen der Türkei und Deutschland | Presse | bpb.de

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Deutsche Türken – Türkische Deutsche? 50 Jahre Anwerbeabkommen zwischen der Türkei und Deutschland Eröffnungsrede von Thomas Krüger anlässlich des Symposiums am 14.09.2011 in der Zeche Zollverein, Essen

/ 8 Minuten zu lesen

Am 30. Oktober 1961 wurde das Abkommen zwischen der Türkischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland zur damals noch zeitlich begrenzten Anwerbung von Arbeitskräften unterzeichnet. Die Bedeutung dieses Ereignisses war den meisten Menschen in Deutschland wohl kaum bewusst, denn die "Gastarbeiter": man sah sie kaum.

Sehr geehrte Frau Prof Süssmuth,
liebe Frau Springenberg-Eich,
sehr geehrter Herr Minister,
sehr geehrter Herr Vizepräsident Salam,
lieber Herr Uslucan,
meine sehr geehrten Damen und Herren,

auch ich möchte Sie sehr herzlich im Namen der Bundeszentrale für politische Bildung zu diesem Symposium, hier in der Zeche Zollverein in Essen, begrüßen. Ich danke unseren Partnern, vor allem dem Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung, für die ausgezeichnete Zusammenarbeit bei der Organisation dieser Veranstaltung.

Wer erinnert sich noch an den Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961? An die Nachrichten im Radio und die Bilder der Wochenschau? Wenn schon solche historischen Zäsuren im Gedächtnis verblassen und nur an Jahrestagen wie diesem durch Medien und politische Bildung wieder wach gerufen werden, mag die Rückbesinnung auf den 30. Oktober 1961 noch schwerer fallen: An diesem Tag wurde in Bad Godesberg das Abkommen zwischen der Türkischen Republik und der (damals noch) westdeutschen Bundesrepublik Deutschland zur damals noch zeitlich begrenzten Anwerbung von Arbeitskräften unterzeichnet. Die Bedeutung dieses Ereignisses war den meisten Menschen in Deutschland wohl kaum bewusst, denn die "Gastarbeiter": man sah sie kaum.

Und tatsächlich nahm man noch Mitte der 1960er Jahre die nach München und Stuttgart, nach Duisburg und Essen (und in viele andere Städte) eingereisten türkischen Männer und Frauen kaum wahr; es sei denn man lebte in der Nähe von Firmen wie Daimler Benz oder Siemens oder eben hier in unmittelbarer Nähe der Zechen des Ruhrpotts.

In der Regel sah man die türkischen Arbeiter nicht, die zwar "Gäste" genannt wurden, aber oft in Baracken lebten, oft auch in ungenutzten Versammlungshallen, in denen sonst Schützenfeste stattfanden oder in ehemaligen Flüchtlingslagern, wo zuvor Flüchtlinge aus der SBZ, der Sowjetischen Besatzungszone, wie man damals immer noch die DDR nannte, untergebracht waren.

Der Begriff des "Gastes" sprach für sich, da man im "Gastland" Deutschland einen vorübergehenden Aufenthalt zur Leistung von Arbeit vorsah. Auf der anderen Seite verbietet es ja die Gastfreundschaft, seinen Gast arbeiten zu lassen. Die Widersprüchlichkeit und Ironie dieses Begriffs wurde im Grunde nie erkannt geschweige denn problematisiert. Man war ja froh, den Begriff "Fremdarbeiter", mit seinen unseligen Erinnerungen an den Nationalsozialismus, mit dem Begriff des Gastarbeiters ersetzt zu haben.

Kam es dennoch zu Begegnungen, etwa wenn man als Deutscher nach dem Weg gefragt wurde, antworteten viele in einer Art Tarzan Deutsch: "Du gehen Bahnhof – da!" Dergleichen wird nicht gerade einladend gewirkt haben, hat aber seine ironische Umkehrung erfahren, wenn die Schüler heute mit sogenannter "Kanak Sprak" nach Hause kommen. Und noch waren die Vereinbarungen äußerst restriktiv: die erste Fassung des Anwerbeabkommens beschränkte den Aufenthalt auf zwei Jahre, man hielt am Rotationsprinzip (bis 1964) fest und untersagte jeden Familiennachzug.

Erst langsam rücken diese schwierigen Anfänge ins kollektive Gedächtnis der deutschen Gesellschaft, denn eins ist inzwischen vielen klar: der 30. Oktober 1961 war der Beginn eines neuen Kapitels deutsch-türkischer Geschichte, freilich ohne das bis heute die Debatten über Integration in Deutschland wesentlich reflektierter verlaufen würden.

Bis zum Anwerbestopp 1973 machten sich mehr als 700.000 Männer und Frauen auf die weite Reise nach Deutschland, um hier ihr Glück zu versuchen. Über 2 Millionen Menschen bewarben sich um eine Arbeitsaufnahme, trotz der erniedrigenden fast militärisch anmutenden Musterungsprozesse gab es schon 1964 lange Wartelisten in den Anwerbeämtern in Istanbul. Heute stellen die ehemaligen "Gastarbeiter" mit ihren Kindern und Kindeskindern einen Großteil der rund 2,6 Millionen Türkeistämmigen in Deutschland.

Sprechen wir pauschal von Türkeistämmigen, müssen wir aber auch die Vielfalt der "türkischen Zuwanderung" seit 1961 erwähnen. Frei nach Max Frisch sollte es heißen: "Wir riefen Arbeitskräfte. Und es kamen ganz verschiedene Menschen." Es kamen Männer und Frauen, Dörfler und Städter, Gelernte und Ungelernte, Sunniten, Aleviten und Jesiden, Griechen und Armenier, Kurden und Türken, und nach dem Militärputsch 1980 auch viele Intellektuelle und politisch Verfolgte. Und vergessen wir nicht die vielen Ärzte, Akademiker und Studierenden, die sich in den Zug nach Almanya setzen, ohne zu wissen, ob sie bleiben würden. Sie wollten etwas ausprobieren im fernen Norden, um dann irgendwann einmal in die Heimat zurückzukehren.

Was dachten und fühlten diese Menschen, wovon träumten, was erhofften sie sich? Wie wurden sie empfangen, was hielt sie in Deutschland oder was schreckte sie ab und trieb sie zurück in die Türkei? Und wie können wir, meine Damen und Herren, angemessen den Beitrag dieser ersten Generation für das heutige viel pluralere Deutschland würdigen?

Die Bundeszentrale für politische Bildung hat dieser Generation ein Buch gewidmet: Unter dem Titel "Auf Zeit. Für immer." haben wir mit den Herausgeberinnen Jeannette Goddar und Dorte Huneke Erinnerungen und Porträts von türkischstämmigen Zuwanderern der ersten Gastarbeitergeneration dokumentiert, um an die vielfältige, spannende aber eben bis heute nicht angemessen gewürdigte Geschichte der türkischen Migration seit 1961 zu erinnern.

Damit wollen wir einen Gegenpol zu dem Negativimage setzen, das ehemalige Gastarbeiter heute in Deutschland oft noch haben. Und vieles ist noch nicht erzählt: Etwa dass jeder vierte (!) Gastarbeiter eine Frau, also eine Gastarbeiterin, war, und dass jeder dritte für die Arbeit am Fließband eigentlich überqualifiziert war. Im Oktober werden wir das Buch auf der Frankfurter Buchmesse vorstellen. Bestellbar ist es ab dann auch auf www.bpb.de. Ich hoffe, ich habe Sie neugierig gemacht.

Und wir werden mit weiteren Veranstaltungen an die wechselvolle Geschichte der Gastarbeiter in Deutschland erinnern: Am 31. Oktober, dem 50. Jahrestag der Unterzeichnung des Anwerbeabkommens werden wir gemeinsam mit dem Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland, vielen besser bekannt als DOMID, eine große Ausstellung im Schlüterhof des Deutschen Historischen Museums in Berlin eröffnen. Die Ausstellung wird später auch in Düsseldorf und Köln gezeigt werden. Hier werden vor allem visuelle Dokumente und Aufzeichnungen, aber auch viele Artefakte aus dem Alltag der Gastarbeiter in den letzten 50 Jahren zu sehen sein. Eine kleine Auswahl aus der wirklich sehenswerten DOMID-Sammlung (sie umfasst inzwischen fast 70.000 Dokumente und Exponate) ist auch hier in Essen während unserer Veranstaltung zu sehen.

In Stuttgart organisieren wir im November gemeinsam mit dem Deutsch-Türkischen Forum eine Veranstaltung über Chancen und Potentiale im deutsch- türkischen Zusammenleben. Ein Online-Dossier wird vor allem für die im Internet Recherchierenden Material bereitstellen und die wissenschaftliche Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), Beilage zur Wochenzeitschrift "Das Parlament", nimmt sich dem Thema an. Unsere Initiativen und Veranstaltungen, meine Damen und Herren, sind aber nur der Startschuss für eine weitere Öffnung der politischen Bildung für die Themen und Bedürfnisse einer Einwanderungsgesellschaft.

Lange war auch die Bundeszentrale für politische Bildung, 1952 gegründet im Zeichen erster eigener Anstrengungen der Deutschen zur Demokratieerziehung, die an die Stelle der amerikanischen "Re-Education" treten sollte, schlicht blind und taub, wenn es um die Ansprache und Einbeziehung der Einwanderer und ihrer Kinder ging. Erst im Jahr 2001, ich war gerade ein halbes Jahr im Amt, wurde unser Erlass geändert, der bis dahin feststellte, dass politische Bildung nur "im deutschen Volk" stattzufinden habe. Seit dieser Zeit durchläuft die Bundeszentrale für politische Bildung einen Prozess der "interkulturellen Öffnung", der kein starres Drehbuch hat, sondern immer wieder neue Impulse aufnimmt.

Für uns heißt das, die Palette unserer Angebote systematisch und permanent so zu gestalten, dass sie auch Einwanderer und vor allem die stetig steigende Zahl von Jugendlichen aus Einwandererfamilien in den deutschen Schulen und Bildungsstätten erreichen. Vor allem aber wollen wir unsere politischen Bildungsangebote GEMEINSAM mit jungen Menschen aus Einwandererfamilien gestalten, denn nichts funktioniert besser und ist effektiver als politische Bildung mit eigenem aktiven Handeln zu verbinden.

Diese Erfahrung machen wir unter anderem in einem Modellprojekt, das wir gemeinsam mit der Robert Bosch Stiftung seit 2 Jahren organisieren. In diesem Projekt haben wir ein neues Format politischer Bildung erprobt: junge Abiturienten und Studierende, darunter viele türkischstämmige, arbeiten als "peer educators" mit Hauptschülern und Gesamtschülern, die oft pauschal in die Kategorie "Pisa Risikogruppe" eingestuft werden. In den Gesprächsgruppen können sie an die Lebenswirklichkeit der Jugendlichen anknüpfen, ihr Selbstbewusstsein stärken und die politische Bildung auch mit Alltagsthemen verknüpfen. Fragen zu Ausbildung, Identität, Ausgrenzung, Gewalt, Umwelt oder Integration, aber auch zu den Umbrüchen in ihren Herkunftsländern sind für diese Jugendliche höchst relevant. Zugleich sind sie politisch.

Eine Einwanderungsgesellschaft ist immer politisch, sie wird durch viele oft nur schwer zu steuernde Prozesse unter Druck gesetzt und muss daher lernen, so betont der holländische Soziologe Paul Scheffer, auch mit Konflikten umzugehen. Ein Blick über unsere Grenzen auch in unsere eigene Gesellschaft zeigt, dass Ressentiments und Pauschalisierungen in der Einwanderungsdebatte immer eine Gefahr darstellen. Wie schrecklich dies aus dem Ruder laufen kann, hat uns der 22. Juli in Norwegen gezeigt. Politische Bildung darf sich aber gerade deshalb vor diesen Widersprüchen und Konflikten nicht drücken, sondern muss sie aufgreifen und den sachlichen Umgang mit Kontroversen (und damit auch das Aushalten von Ambiguität) immer wieder neu einüben und einfordern.

Lassen Sie mich zum Schluss auf ein wunderbares Beispiel verweisen, wie man mit Ambiguität umgehen und sie darstellen kann:

In dem Film "Almanya – Willkommen in Deutschland", den viele kennen und zu dem die bpb ein Filmheft für den schulischen Gebrauch erstellt hat, (die Regisseurinnen werden später noch hier über ihren Film berichten) wird gezeigt, wie der sechsjährige Cenk Yilmaz wieder einmal übrig bleibt, als sich zwei Klassenkameraden die Spieler für ihre Fußballmannschaften aussuchen. Der deutsche Mitschüler wählt ihn nicht aus, weil er angeblich kein Deutscher ist. Der türkische Mitschüler wählt ihn nicht aus, weil er angeblich kein Türke ist.

Das Beispiel ist voll aus dem Leben gegriffen und hat – wenn man so will – eine aktuelle Umsetzung erfahren, wenn Özil sich für die deutsche und Sahin für die türkische Nationalmannschaft entscheidet.

Kein Wunder also, dass Cenk traurig und verwirrt ist. Deshalb sucht er Rat bei seiner Familie und fragt: Wer oder was bin ich denn eigentlich?

Sein türkischer Großvater ist überzeugt, dass Cenk Türke sei. Die deutsche Mutter aber meint, er sei Deutscher. Seine Cousine hingegen sagt, er sei beides. Beides? Das geht doch nicht, ruft Cenk. Daraufhin erzählt ihm seine Cousine die Geschichte der Familie Yilmaz. Cenk beginnt zu verstehen, dass die Frage nach der Identität gar nicht so leicht zu beantworten ist. Jedenfalls reicht der Ort der Geburt nicht aus.

Ob es uns gelingen wird, die nächsten 50 Jahre des deutsch-türkischen Zusammenlebens unter anderem auch im Sinne dieses schönen, ernsten und doch humorvollen Films zu gestalten?

Ich glaube, dies ist unser aller Anstrengungen wert und ich hoffe und wünsche, dass unser Symposium heute mit seinen Ideen und Anregungen dazu beitragen werden.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

- Es gilt das gesprochene Wort -

Fussnoten