Schülerprogramm, 29.09.2011, Quadriga Hochschule Berlin
Sehr geehrte Frau Plehwe, sehr geehrter Herr Professor Voss, sehr verehrter Herr Prof. Dr. Korte, liebe Schülerinnen und Schüler, meine sehr verehrten Damen und Herren,
"Demokratie ist bekanntlich das beste politische System, weil man es ungestraft beschimpfen kann", fand der israelische Satiriker Ephraim Kishon. Demokratie lebt von Diskussion, vom Mitreden und Mitmachen, mitunter auch vom Streiten. Sie ist keine Selbstverständlichkeit, wir müssen sie uns immer wieder neu erarbeiten. Das ist nicht immer einfach und bequem schon gar nicht. Und erarbeiten heißt: Probleme offen zu benennen, gemeinsam über Lösungen zu diskutieren, ja zu streiten, andere Meinungen zu akzeptieren und stets bereit zu sein, fair ausgehandelte Kompromisse einzugehen. Demokratie lebt gerade von solchen Spielräumen und vom kommunikativen Miteinander. Sie ist nicht starr, sondern höchst dynamisch, weil sie Lebendigkeit zulässt und von der fair geführten Auseinandersetzung lebt.
Sekunde mal, werden jetzt vielleicht einige von Ihnen denken: Die Politiker sind doch völlig abgehoben, sorgen sich nur um sich selbst und scheren sich nach der Wahl nicht mehr um ihre Versprechen. Ist das etwa Demokratie? Die Politik und ihre Akteure haben zurzeit wirklich kein gutes Image, viele sprechen gar von einer "Krise der Demokratie". Die Shell Jugendstudie 2010 zeigt, dass Jugendliche zwar großes Vertrauen in Polizei, Justiz und Menschenrechts- und Umweltschutzgruppen haben, aber nicht in Regierungen, Kirchen und Parteien. Es scheint, als seien die Politiker mit der Globalisierung und ihren wirtschaftlichen Folgen, den neuen internationalen Konflikten und mit all den Problemen im Sozial-, Gesundheits- oder Bildungssystem überfordert.
Um ehrlich zu sein: Ich finde die weit verbreitete Politikerschelte etwas überzogen. Aber wenn es denn so ist, dass man – gerade als junger und vielleicht deshalb auch ungeduldiger Mensch – mit der Performance unserer Politikerinnen und Politiker nicht zufrieden ist: Wie wäre es denn einmal mit eigenem Engagement? Also selbst einmal die Ärmel hochkrempeln, den Grips hochfahren und politisch mitmischen? Sicherlich: Demokratie lebt von Wahlen und von der Hoffnung, alles werde besser, auch von der offenen Kritik an den politischen Verantwortlichen. Sie lebt aber auch von den Akteuren, also von Menschen, die etwas tun, etwas selbstverantwortlich gestalten wollen. Und das können auch junge Leute – und unsere Demokratie bietet hierfür mehr Möglichkeiten, als man vielleicht annimmt: Mitgestalten beginnt nicht erst im Bundestag oder in den Landtagen, sondern schon im familiären Umfeld: im Freundeskreis, im Sportverein, auch und gerade in der Schule und natürlich in dem Viertel, in dem man lebt.
Veränderungen und Verbesserungen hängen heute mehr denn je von jedem einzelnen von uns ab, und wer nicht aus den Puschen kommt, ist selbst Schuld. Wer selbst nichts tut, kann nicht mehr nur anderen die Verantwortung für alle Probleme geben. Aber umgekehrt muss sich auch die Politik für neue Formen der Bürgerbeteiligung öffnen: Sie sollten es begrüßen, dass Bürgerinnen und Bürger sich stärker und direkter als bisher in politische Entscheidungsprozesse einmischen können und sich über die neuen Medien auch tatsächlich zu Wort melden. Und Sie, meine Damen und Herren, sollten von diesen Möglichkeiten Gebrauch machen, und zwar reichlich. Wer in Zeiten von facebook, Twitter & Co Entscheidungen treffen will, die von den Menschen akzeptiert werden, muss ihnen zuerst einmal zuhören und sie verstehen wollen. Sagen Sie ihnen, was Sache ist!
Ihr Wissen, Ihre Kreativität und Ihr Einfallsreichtum sind eine wichtige Voraussetzung unserer Demokratie. Denn sie braucht mündige Bürger, die Zusammenhänge kennen, Urteilskraft besitzen und zur politischen Partizipation geeignet sind. Und wenn Sie mir an dieser Stelle eine persönliche Bemerkung gestatten: Ich weiß, was es heißt, ohne das Recht auf Mitbestimmung zu leben. Ich habe die ersten dreißig Jahre meines Lebens in der DDR verbracht. Wählen gehen hieß damals "falten gehen", weil es völlig egal war, was man ankreuzte. Die so genannten Wahlen waren ein schlechter Scherz und wer eine eigene Meinung hatte, war ein Klassenfeind, der bekämpft werden musste.
Aus der Vergangenheit zurück in die Gegenwart: In Nordafrika und im Nahen Osten haben viele Menschen ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um ihre Länder in demokratische Gemeinwesen zu wandeln, um sich aus der Unterdrückung zu befreien und mündige Bürger zu werden. Und plötzlich waren die jahrzehntelang unbesiegbaren Diktatoren machtlos: Im Januar floh der tunesische Präsident Ben Ali ins Ausland, einen Monat später zwangen die Ägypter Präsident Mubarak zum Rücktritt. In Syrien gehen Demonstranten seit Monaten tagtäglich trotz Lebensgefahr auf die Straße und fordern ihr Recht auf Mitbestimmung ein. Nicht zu vergessen sind die Hunderttausend Menschen im Iran, die schon 2009 auf die Straße gingen und Reformen forderten. Unterdrückte Völker haben sich zu Bewegungen zusammengeschlossen und sind für ein demokratisches System eingetreten.
Diese Demokratiebewegungen mussten sich aber erst einmal finden. Demokratie ist schließlich eine Staatsform, die nicht auf Alleinherrschern basiert, die niemandem Rechenschaft schulden, sondern auf gleichberechtigten Individuen, die frei kommunizieren und sich zusammenschließen dürfen. Diese im Grunde genommen alten Kernrechte einer Demokratie haben ihre moderne Ausgestaltung gefunden in den sogenannten sozialen Netzwerken. Es gibt heute kaum schnellere Kanäle der Kommunikation als facebook, Twitter & Co. Informationen konnten rasend schnell verbreitet werden und die Demokratiebewegungen sich viel schneller organisieren. Internet und Web 2.0 verbinden Akteure der Zivilgesellschaft miteinander, um schlagkräftige Netzwerke zu bilden. Diese internationalen Entwicklungen zeigen: Demokratie ist die Staatsform der Zukunft, Demokratie ist modern, Demokratie ist aktuell.
Das zeigen uns genauso Ereignisse wie Stuttgart 21 oder die Proteste in Spanien, Großbritannien, Israel und aktuell in Griechenland. Dieser Protest in parlamentarischen Demokratien zeigt, dass Bürgerinnen und Bürger auch den Politikerinnen und Politikern sagen wollen, was ihrer Meinung nach Sache ist. Sie fordern ein Mehr an Mitbestimmung – und das so unmittelbar wie möglich. Unsere parlamentarische Demokratie wird damit aber auch auf den Prüfstand gestellt. Von den Bürgerinnen und Bürgern selbst. Sie wollen aktiver in politische Prozesse und Entscheidungen eingebunden werden, als das bisher der Fall war. Mit seinen Partizipationsmöglichkeiten kann das Netz heute die Brücke von direkter zu repräsentativer Demokratie schlagen. Das Internet bietet uns die Möglichkeiten neuer demokratischer Beteiligungsformen, es erleichtert die direkte Teilhabe enorm. Es mindert die Hemmschwelle zur gesellschaftlichen Partizipation – zur Teilhabe am politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Leben und zu dessen Mitgestaltung.
Aber wie weit soll und kann diese Einbindung von Bürgerinnen und Bürgern gehen? Wie realistisch ist das überhaupt: Gesetzesentscheid z.B. durch Bürgergremien? Per Mausklick? Von daheim? Unter welchen Voraussetzungen würden die Politiker dabei wichtige Entscheidungen in Bürgerhand geben? Oder sind das dann Scheinlegitimiationen für Lobbygruppen und starke Bürgerbewegungen? Nicht alle sind heute in der digitalen Welt so eingebunden, als dass für alle die Chance auf Mitbestimmung bestehen würde. Auch wenn bald fast jeder Haushalt über einen eigenen Internetanschluss verfügt. Was, wenn man dadurch nur eine "Diktatur der Aktiven" begünstigt?
Diesen Fragen muss sich die politische Bildung stellen. Sie muss sich mit ihnen auseinandersetzen, indem sie z.B. den gesellschaftlichen Diskurs darüber anstößt und in Gang behält. Denn es wird bei aller Freude über die Möglichkeiten, die das Netz bietet und für die Zukunft bereithält, auch und ganz wesentlich darum gehen, diejenigen einzubeziehen, die aus unterschiedlichen Gründen von den Möglichkeiten der Nutzung digitaler Medien zur eigenen Bildung und Information ausgeschlossen sind: Es darf keine Spaltung der Gesellschaft in eine Kommunikationselite und eine vom digitalen Diskurs ausgeschlossene Schicht geben. Es kommt darauf an, die richtigen Zugänge zu schaffen, und die Leute dort abzuholen, wo sie stehen.
Bei Jugendlichen, die in die digitale Welt hineinwachsen, sind es nunmal die Neuen Medien. Hier kann netzbasierte politische Bildung für Jugendliche ansetzen. Mit Online-Tools und -Informationsangeboten verbessert sie das Verstehen gesellschaftlicher und politischer Sachverhalte, regt das Interesse an, motiviert und steigert Qualität und Legitimation von Entscheidungsprozessen. Damit schafft sie Transparenz und vor allem: Vertrauen – das oft vermisste Vertrauen der jungen Bürgerinnen und Bürger in politische Prozesse und Institutionen.
Dem nimmt sich die Bundeszentrale für politische Bildung mit zahlreichen Angeboten an. Die Stärkung des politischen Verständnisses von Jugendlichen ist eine ihrer zentralen Aufgaben. In den Peer-to-Peer-Programmen team GLOBAL und Young European Professionals bilden wir junge Leute zu Teamern aus. Als solche können sie selbst aktiv werden: Workshops leiten, Planspiele und weitere Aktionen für andere Jugendliche planen.
Die bpb will aktivieren und motivieren, und das tut sie, indem sie anregt, sich mit Politik auseinanderzusetzen: damit, was sich Jugendliche von der Politik wünschen und wo sie sich selbst im deutschen Parteiensystem wiederfinden. Sie ahnen jetzt vermutlich bereits auf welches bpb-Angebot ich hinaus will: Den Wahl-O-Mat. Vielleicht wissen Sie aber noch nicht genau, wer eigentlich dahinter steht. Unser Wahl-Tool wird von einer Redaktion betreut, die aus Jugendlichen besteht. Unterstützt werden sie dabei von einem Team aus Politikwissenschaftlern, Pädagogen und Statistikern. Die Jugendlichen analysieren die Internetseiten von Parteien und formulieren auf deren Basis die Thesen, denen die User des Wahl-O-Mat per Klick zustimmen, nicht zustimmen oder sich der These gegenüber neutral erklären können. Damit lädt der Wahl-O-Mat ein, sich mit den Parteien auseinanderzusetzen. Er ist eine spielerische Wahlhilfe, die vor allem Jugendliche sehr anspricht. Ein Wahl-Tool von und für Jugendliche. Für Wahlen zum Abgeordnetenhaus in Berlin am 18. September 2011 verbuchte der Wahl-O-Mat diesmal einen absoluten Nutzerrekord mit einer halbe Millionen Nutzungen – mehr als drei Mal so viel, wie zur letzten Abgeordnetenhauswahl. Hinzu kamen 27.000 Downloads der kostenlosen Wahl-O-Mat-App im Apple Store und Android Market. Das zeigt das ungebrochene Interesse an demokratischer Mitbestimmung.
Es ist wichtig, den direkten Draht zu den jungen Bürgerinnen und Bürgern – auch zu den Jüngsten – zu halten: Auf der Internetseite hanisauland.de sprechen wir schon die ganz junge Zielgruppe mit Comics und einfachen, unterhaltsamen Erklärungen politischer Zusammenhänge an. Die Sicherheit von Kindern im Netz sollte dabei natürlich immer garantiert sein. Es ist eine Kernaufgabe von politischen Bildnern Orientierung, Handwerkszeug, Diskussion und Reflexion für die ersten Wege von Userinnen und Usern zu bieten. Medienkompetenz ist das Stichwort. Wir wollen mit umfassenden Online-Informationsangeboten über die Inhalte von Online-Computerspielen, von Angeboten der Netzkultur aufklären und vor schädlichen Inhalten schützen. Digitale Angebote, durch die Demokratie greifbar wird, sind gerade für die junge Zielgruppe am ansprechendsten: Die Umfrage-Software GrafStat ist bis heute beliebtes Angebot für Schülerinnen und Schüler. Sie werden so selbst als Wahl- und Sozialforscher und -forscherinnen aktiv und überprüfen in Befragungen selbst formulierte Thesen. Entwickelt wurde das Angebot zur Bundestagswahl 2009. Es ist aber auch heute noch gefragtes Unterrichtstool. Schülerinnen und Schüler lernen so spielerisch Politik kennen – und das ist, was wir wollen. Demokratie soll Spaß machen und nicht ein fernes Konstrukt sein.
Unsere Demokratie basiert auch auf dem Wissen unserer Geschichte. Warum leben wir heute in unserem Land eigentlich demokratisch zusammen? Und zu welchen Zeiten haben unsere Großeltern und Eltern eigentlich gelebt? Dass unsere Geschichte die Basis für das Jetzt und Hier ist, das macht sie so spannend. Für Jugendliche wird sie aber erst so richtig interessant, wenn man sie entsprechend vermittelt. Es braucht dafür die Sprache und die Welt von Jugendlichen. In dem Kurzfilm "Und jetzt?!" z.B. führen Jugendliche aus so genannten Problemvierteln mit Unterstützung des MTV-Moderators Markus Kavka durch die deutsche Geschichte seit 1919. Sie geben Hintergrundwissen zu den wichtigen historischen Daten. Dabei wurde eine Filmsprache genutzt, die Erwachsene eher irritiert: schnelle Schnitte, grelle Bilder und laute Musik. Die Jugendliche kommen damit aber bestens klar, weil es ihre Sprache ist.
Das Modellprojekt "Jugend, Religion,Demokratie – Politische Bildung mit Jugendlichen in der Einwanderungsgesellschaft" ist ein Projekt für Partizipation von Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Die Robert Bosch Stiftung und die bpb haben hierbei neue Wege bei der Entwicklung von Methoden und Formaten für die politische Bildung mit Jugendlichen mit Migrationshintergrund, insbesondere auch in bildungsbenachteiligten Milieus, beschritten. Das Ergebnis ist ein bundesweites Kompetenznetzwerk mit jungen Multiplikatoren und Multiplikatorinnen mit Migrationshintergrund. Und morgen wird es mit dem Preis "Deutschland – Land der Ideen" ausgezeichnet:
Mit diesem Peer-to-Peer-Ansatz setzt die bpb darauf, Jugendliche von Jugendlichen zur politischen Partizipation anzuregen. Auf diese Weise setzt sich das Ur-Verständnis von Demokratie eher durch: Das jeder etwas verändern kann! Wir können Jugendlichen helfen, Visionen zu entwickeln und sie dann selbst machen lassen. Wir bieten ihnen den Handlungsspielraum, in dem sie sich dann frei bewegen können. In einer solch lebendigen Demokratie bleiben Jugendliche das, was sie sind: nämlich junge Leute. Sie können sich mit dem eigenen Engagement identifizieren und sollen sich herausgefordert fühlen. Dieses Gefühl müssen wir in den Jugendlichen wecken: Das Gefühl, in der Demokratie etwas für das Leben zu gewinnen.
"Keine Demokratie ohne Demokraten – keine Demokratie ohne Dich!" Das Motto dieses Symposiums unterschreibe ich als Präsident der bpb. Und freue mich auf das heutige Programm, das mit den Vortragsthemen zeigt: Demokratie ist eben keine Selbstverständlichkeit, sie geht uns alle etwas an – Politik und Bürger, Alt und Jung, online und offline. Laden wir gemeinsam den Akku auf für eine "Demokratie Reloaded".
In diesem Sinne wünsche ich uns jetzt viel Spaß mit dem Auftritt von "Hip Hop macht Schule".
- Es gilt das gesprochene Wort -