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"Geteilte Heimat – Paylaşılan Yurt. 50 Jahre Migration aus der Türkei" | Presse | bpb.de

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"Geteilte Heimat – Paylaşılan Yurt. 50 Jahre Migration aus der Türkei" Rede von Thomas Krüger zur Ausstellungseröffnung "Geteilte Heimat – Paylaşılan Yurt. 50 Jahre Migration aus der Türkei", 31.10.2011, Deutsches Historisches Museum, Berlin

/ 7 Minuten zu lesen

Am 30. Oktober 1961 wurde das Anwerbeabkommen mit der Türkischen Republik abgeschlossen. Wie können wir angemessen den Beitrag dieser ersten Generation würdigen?

Sehr geehrter Herr Minister Bozdağ,
sehr geehrter Herr Koch,
sehr geehrter Herr Bayraktar,
meine sehr geehrten Damen und Herren,

auch ich möchte Sie sehr herzlich im Namen der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb zur Eröffnung der Ausstellung "Geteilte Heimat" hier im Schlüterhof in der Einwanderungsstadt par excellence, nämlich Berlin, begrüßen. "Geteilte Heimat": dieser Ausstellungstitel lässt bewusst verschiedene Interpretationen zu. Er bezieht uns Deutsche mit ein, die seit über 50 Jahren dabei sind, ihre "Heimat" mit vielen anderen Einwanderern zu teilen; und er bezieht sich natürlich auf die über 2 Millionen türkischstämmigen Mitbürgerinnen und Mitbürger hier in Deutschland, die sich immer wieder neu mit dem Problem oder aber auch der Chance auseinanderzusetzen, nicht nur eine "Heimat" zu haben. Diese vielen unterschiedlichen Erfahrungen zu teilen und mitzuteilen, das ist die Aufgabe dieser großartigen Ausstellung.

Wer erinnert sich noch an den Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961? An die Nachrichten im Radio und die Bilder der Wochenschau? Wenn schon solche historischen Zäsuren im Gedächtnis verblassen, mag die Rückbesinnung auf den 30. Oktober 1961 noch schwerer fallen: An diesem Tag wurde in Bad Godesberg das Abkommen zwischen der Türkischen Republik und der (damals noch) westdeutschen Bundesrepublik Deutschland zur zeitlich begrenzten Anwerbung von Arbeitskräften unterzeichnet. Die Bedeutung dieses Ereignisses war den meisten Menschen in Deutschland wohl kaum bewusst, denn die "Gastarbeiter" sah man kaum.

Und tatsächlich wurden noch Mitte der 1960er Jahre die nach München und Stuttgart, nach Duisburg und Essen (und in viele andere Städte) eingereisten türkischen Männer und Frauen kaum wahrgenommen, es sei denn in der Nähe von Firmen wie Daimler-Benz oder Siemens. In der Regel sah man die türkischen Arbeiter nicht, die zwar "Gäste" genannt wurden, aber in Baracken lebten, oft auch in ungenutzten Versammlungshallen, in denen sonst Schützenfeste stattfanden oder in ehemaligen Flüchtlingslagern, wo zuvor Flüchtlinge aus der SBZ, der Sowjetischen Besatzungszone, wie man damals die DDR nannte, untergebracht waren.

Der Begriff des "Gastes" sprach für sich, da man im Gastland Deutschland einen vorübergehenden Aufenthalt zur Leistung von Arbeit vorsah. Auf der anderen Seite verbietet es ja die Gastfreundschaft, seinen Gast arbeiten zu lassen. Die Widersprüchlichkeit und Ironie dieses Begriffs wurde im Grunde nie erkannt. Man war ja froh, den Begriff 'Fremdarbeiter', mit seinen unseligen Erinnerungen an den Nationalsozialismus, ersetzt zu haben. Immerhin aber erkannte schon 1964 der SPIEGEL in einer Reportage über die abgesonderten Werksunterkünfte: "Die Gastarbeiter finden meist keinen Zugang zum bundesbürgerlichen Lebensstil. Sie sind eher Ghetto-Bewohner als Gäste."

Kam es dennoch zu Begegnungen, etwa wenn Deutsche nach dem Weg gefragt wurden , antworteten viele in einer Art Tarzan-Deutsch: "Du gehen Bahnhof – da!" Dergleichen muss nicht gerade einladend gewirkt haben... Und noch waren die Vereinbarungen äußerst restriktiv: Die erste Fassung des Anwerbeabkommens beschränkte den Aufenthalt auf zwei Jahre, man hielt am Rotationsprinzip (bis 1964) fest und untersagte jeden Familiennachzug.

Erst langsam rücken diese schwierigen Anfänge ins kollektive Gedächtnis der deutschen Gesellschaft, denn eins ist inzwischen vielen klar: der 30. Oktober 1961 war der Beginn eines neuen Kapitels deutsch- türkischer Geschichte, ohne das bis heute die Debatten über Integration in Deutschland anders verlaufen würden.

Bis zum Anwerbestopp 1973 machten sich mehr als 700.000 Männer und Frauen auf die weite Reise nach Deutschland, um hier ihr Glück zu versuchen. Über 2 Millionen Menschen bewarben sich um eine Arbeitsaufnahme, trotz der erniedrigenden fast militärisch anmutenden Musterungsprozesse gab es schon 1964 lange Wartelisten in den Anwerbeämtern in Istanbul. Heute stellen die ehemaligen 'Gastarbeiter' mit ihren Kindern und Kindeskindern einen Großteil der rund 2,6 Millionen Türkeistämmigen in Deutschland.

Sprechen wir pauschal von Türkeistämmigen, müssen wir aber auch die Vielfalt der "türkischen Zuwanderung" seit 1961 erwähnen. Frei nach dem Leitgedanken von MAX FRISCH, sollte es heißen: "Wir riefen Arbeitskräfte. Und es kamen ganz verschiedene Menschen."

Es kamen Männer und Frauen, Dörfler und Städter, Gelernte und Ungelernte, Sunniten, Aleviten und Jesiden, Griechen und Armenier, Kurden und Türken, und nach dem Militärputsch 1980 viele Intellektuelle und politisch Verfolgte.

Und vergessen wir nicht die vielen Ärzte, Akademiker und Studierenden, die sich in den Zug nach Almanya setzen, ohne zu wissen, ob sie bleiben würden. Sie wollten etwas ausprobieren im fernen Norden, um dann irgendwann einmal in die Heimat zurückzukehren. Was dachten und fühlten diese Menschen, wovon träumten, was erhofften sie sich? Wie wurden sie empfangen, was schreckte und was hielt sie in Deutschland oder trieb sie zurück in die Türkei? Und wie können wir, meine Damen und Herren, angemessen den Beitrag dieser ersten Generation würdigen?

Die Bundeszentrale für politische Bildung hat dieser Generation ein Buch gewidmet: Unter dem Titel 'Auf Zeit. Für immer.' haben wir mit den Herausgeberinnen Jeanette Goddar und Doris Huneke Erinnerungen und Porträts von türkischstämmigen Zuwanderern der ersten Gastarbeitergeneration dokumentiert, um an die vielfältige, spannende, aber eben bis heute nicht angemessen gewürdigte Geschichte der türkischen Migration seit 1961 zu erinnern.

Damit wollen wir einen Gegenpol zu dem Negativimage setzen, das ehemalige Gastarbeiter heute in Deutschland oft noch haben. Und vieles ist noch nicht erzählt: etwas dass jeder vierte (!) Gastarbeiter eine Frau war, und dass jeder dritte für die Arbeit am Fliessband eigentlich überqualifiziert war. Das Buch können Sie hier einsehen und natürlich auch bei uns für 4 € erwerben. Ich hoffe, ich habe Sie neugierig gemacht.

Die heutige Ausstellung, die ja auch in Düsseldorf und Köln, möglicherweise auch in Istanbul zu sehen sein wird, ist zweifellos ein Höhepunkt unserer Aktivitäten. Ich freue mich, dass die viel zu selten gezeigten Schätze der europaweit einzigartigen DOMID Sammlung (sie umfasst inzwischen fast 70.000 Dokumente und Exponate) jetzt die gebührende Aufmerksamkeit bekommen.

Der 50. Jahrestag wäre auch – so meine Anregung – genau der richtige Zeitpunkt, um die vielen Initiativen zur Errichtung eines Migrationsmuseums in Deutschland noch einmal zu bündeln und einen entscheidenden Schritt nach vorn zu gehen.

Unsere Initiativen und Veranstaltungen, meine Damen und Herren, sind aber nur der Startschuss für eine weitere Öffnung der politischen Bildung für die Themen und Bedürfnisse einer Einwanderungsgesellschaft. Lange war auch die Bundeszentrale für politische Bildung, 1952 gegründet im Zeichen erster eigener Anstrengungen der Deutschen zur Demokratieerziehung, die an die Stelle der amerikanischen ‚Re-Education´ treten sollte, in gewisser Weise blind und taub, wenn es um die Ansprache und Einbeziehung der Einwanderer und ihrer Kinder ging.

Erst im Jahr 2000 wurde unser Erlass geändert, der bis dahin feststellte dass politische Bildung 'im deutschen Volk' stattzufinden habe. Seit dieser Zeit durchläuft die Bundeszentrale für politische Bildung einen Prozess der ‚interkulturellen Öffnung´, der kein starres Drehbuch hat, sondern immer wieder neue Impulse aufnimmt.

Für uns heißt das, die Palette unserer Angebote systematisch und permanent so zugestalten, dass sie auch Einwanderer und vor allem die steig steigende Zahl von Jugendlichen aus Einwandererfamilien in den deutschen schulen und Bildungsstätten erreichen. Vor allem aber wollen wir unsere politischen Bildungsangebote GEMEINSAM mit jungen Menschen aus Einwandererfamilien gestalten, denn nichts funktioniert besser und ist effektiver als politische Bildung mit eigenem Handeln zu verbinden.

Diese Erfahrung machen wir unter anderem in einem Modellprojekt, das wir gemeinsam mit der Robert Bosch Stiftung seit 2 Jahren organisieren. In diesem Projekt haben wir ein neues Format politischer Bildung erprobt: junge Abiturienten und Studierende, darunter viele türkischstämmige, arbeiten als 'peer educators' mit Hauptschülern und Gesamtschülern, die oft pauschal in die Kategorie 'Pisa Risikogruppe' eingestuft werden. In den Gesprächsgruppen können sie an die Lebenswirklichkeit der Jugendlichen anknüpfen, ihr Selbstbewusstsein stärken und die politische Bildung auch mit Alltagsthemen verknüpfen. Fragen zu Ausbildung, Identität, Ausgrenzung, Gewalt, Umwelt oder Integration, aber auch zu den Umbrüchen in ihren Herkunftsländern sind für diese Jugendliche höchst relevant. Zugleich sind sie politisch.

Eine Einwanderungsgesellschaft ist immer politisch, sie wird durch viele oft nur schwer zu steuernde Prozesse unter Druck gesetzt und muss daher lernen, so betont der holländische Soziologe Paul Scheffer, auch mit Konflikten umzugehen. Ein Blick über unsere Grenzen aber auch in unsere eigene Gesellschaft zeigt, dass Ressentiments und Pauschalisierungen in der Einwanderungsdebatte immer eine Gefahr darstellen. Wie schrecklich dies aus dem Ruder laufen kann, hat uns der 22. Juli in Norwegen gezeigt.

Politische Bildung darf sich aber gerade deshalb vor diesen Widersprüchen und Konflikten nicht drücken, sondern muss sie aufgreifen und den sachlichen Umgang mit Kontroversen (und damit auch das Aushalten von Offenheit) immer wieder neu einüben und einfordern. Lassen Sie mich zum Schluss auf ein wunderbares Beispiel verweisen, wie man mit Offenheit und damit auch mit dem Thema unserer Ausstellung umgehen kann: In dem Film "Almanya – Willkommen in Deutschland", den viele kennen, wird gezeigt, wie der sechsjährige Cenk Yilmaz wieder einmal übrig bleibt, als sich zwei Klassenkameraden die Spieler für ihre Fußballmannschaften aussuchen. Der deutsche Mitschüler wählt ihn nicht aus, weil er angeblich kein Deutscher ist. Der türkische Mitschüler wählt ihn nicht aus, weil er angeblich kein Türke ist.

Kein Wunder also, dass Cenk traurig und verwirrt ist. Deshalb sucht er Rat bei seiner Familie und fragt: Wer oder was bin ich denn eigentlich?

Sein türkischer Großvater ist überzeugt, dass Cenk Türke sei. Die deutsche Mutter aber meint, er sei Deutscher. Seine Cousine hingegen sagt, er sei beides. Beides? Das geht doch nicht, ruft Cenk. Daraufhin erzählt ihm seine Cousine die Geschichte der Familie Yilmaz. Cenk beginnt zu verstehen, dass die Frage nach der Identität gar nicht so leicht zu beantworten ist. Jedenfalls reicht der Ort der Geburt nicht aus.

Ob es uns gelingen wird, die nächsten 50 Jahre des deutsch-türkischen Zusammenlebens unter anderem auch im Sinne dieses schönen, ernsten und doch humorvollen Films zu gestalten?

Ich glaube, dies ist unser aller Anstrengungen wert und ich hoffe und wünsche, dass diese Ausstellung und die vielen anderen Aktivitäten von DOMID und seinen Partnern dazu beitragen werden.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

- Es gilt das gesprochene Wort -

Fussnoten