Lieber Herr Kreyes, lieber Herr Kemmelmeier, lieber Herr Wunsch, sehr geehrte Damen und Herren,
ich begrüße Sie sehr herzlich im Namen der Bundeszentrale für politische Bildung zum 66. Bundesweiten Gedenkstättenseminar.
Eine bis heute immer wieder gern genannte Kernthese historisch-politischer Bildung lautet: Demokratie ist zu erlernen, zu sichern und zu verteidigen, wenn man demokratisch mit Vergangenheit umgeht und dabei entdeckt, dass es viele „Vergangenheiten“ gibt. Die Teilhabe an der Erinnerungskultur eines Landes trägt ganz entscheidend zur demokratischen Teilhabe bei, denn mittels einer gemeinsamen Geschichte werden Zugehörigkeiten, aber auch Ausschlüsse produziert. Wessen Geschichten und Deutungen nicht vorkommen, der scheint nicht zum Gemeinwesen zu gehören.
Dabei sucht sich jede Generation ihren eigenen Zugang zur Geschichte. Erinnerung kann nicht „verordnet“ werden. Aus der Vergangenheit lassen sich nicht zwingend dieselben Orientierungen für unterschiedliche Generationen ableiten. Stattdessen gehören zu einer demokratischen Erinnerungskultur plurale Geschichtsbilder, die in einer immer diverseren Gesellschaft sicht- und hörbar sein sollten. Dabei geht es keineswegs um eine Vereinheitlichung von Geschichte. Vielmehr wissen wir von Hannah Arendt, dass eine gemeinsame Welt „überhaupt nur in der Vielfalt ihrer Perspektiven“ existiert.
Nun könnte man sagen: Die öffentlich sichtbare gesellschaftliche Vielfalt war nie so groß wie jetzt, nie hatten mehr Menschen die Möglichkeit zur politischen Partizipation und machen davon Gebrauch. Und die Heterogenität in unserer Gesellschaft wird in Zukunft noch sichtbarer werden. Doch das ruft unweigerlich auch Konflikte hervor. Denn mehr Teilhabe bedeutet gerade nicht, dass die Debatten ruhiger werden, ganz im Gegenteil: Je mehr Menschen sich einmischen, umso lauter wird es am Tisch. Die Handlungsfähigkeit unserer Demokratie hängt daher nicht zuletzt davon ab, wie wir gegensätzliche Windrichtungen miteinander vermitteln – ohne dass uns dabei das ganze Haus um die Ohren fliegt. Eines scheint jedenfalls sicher: Die Uhr des gesellschaftlichen Fortschritts lässt sich nicht langfristig zurückdrehen: Weder von Despoten wie Putin, die Geschichte politisch instrumentalisieren und als vermeintliche Legitimation von Angriffskriegen ins Feld führen – noch von Rechtspopulistinnen und Rechtspopulisten, die grundlegende Errungenschaften wie z.B. die Gleichstellung der Frau in Frage stellen. Auch daher – damit diese Ewiggestrigen nicht die Debatten bestimmen – müssen wir dazu in der Lage sein, vernünftig und demokratisch miteinander zu streiten.
Hier kommt die politische Bildung ins Spiel. Denn ein produktiver Umgang mit Konflikten fällt nicht vom Himmel. Sondern Menschen müssen dazu befähigt werden, auch diejenigen, die bislang von gesellschaftlichen Diskursen lange Zeit ausgeschlossen waren. Demokratie braucht Demokratinnen und Demokraten. Diese werden aber nicht einfach geboren. Demokratie muss vielmehr von Generation zu Generation neu erlernt werden. Aber während unstrittig ist, dass eine Demokratie Bürgerinnen und Bürger braucht, die politisch handeln, gibt es unterschiedliche Ansichten zu der Frage, wie viele aktiv handelnde Bürgerinnen und Bürger eine Demokratie braucht. Fest steht jedenfalls: Nicht jede und nicht jeder kann und will in gleichem Maße und auf gleiche Art und Weise politisch tätig sein. Die Freiheit, sich nicht einzumischen, ist aber nur dann eine, wenn man auch die Freiheit hat, sich einzumischen, um es frei nach Hannah Arendt zu formulieren.
Aufgrund dieser wichtigen Zielstellung wird eines ganz deutlich: Wir müssen möglichst vielen Menschen Angebote historischer wie politischer Bildung machen – unabhängig von ihrem Alter und unabhängig von ihrem formalen Bildungshintergrund. Die Ermöglichung politischer Teilhabe für alle bildet seit jeher den Ausgangspunkt politischer Bildung. In ihrer normativen Bedeutung als gesellschaftliche Aufgabe kann Inklusion nicht auf einzelne gesellschaftliche Gruppen oder Institutionen beschränkt bleiben. Dies wäre nämlich eine illegitime Schließung, also eine Exklusion. Ich bin dabei fest davon überzeugt, dass wir aus der Geschichte lernen können. Nicht unmittelbar vielleicht, nicht „eins-zu-eins“ – aber ohne Bewusstsein für das, was war, ist das, was ist, nicht zu verstehen. So kommt mir das Drama „Requiem for a Nun“ in den Sinn, in dem der amerikanische Schriftsteller William Faulkner seinen Protagonisten sagen lässt: „The past is never dead. It’s not even past.“ Denn nicht selten sagt die Art und Weise der Beschäftigung mit der Historie mehr über die Gegenwart aus als über tatsächlich Gewesenes. Die Vermittlung von historischem Wissen ist in der politischen Bildung kein Selbstzweck. Sie soll vielmehr in die Lage versetzen, die gegenwärtige Welt um uns herum besser zu verstehen.
In einer Gesellschaft, in der Wandel das Beständige ist, stehen daher auch die Gedenkstättenarbeit und das historische Lernen immer wieder vor neuen Aufgaben. Während es dabei früher vor allem um die Etablierung oder Sicherung der Erinnerungsorte – oftmals gegen auch staatliche Widerstände – ging, stehen heute vermehrt Diskussionen um die Entwicklung und Weiterentwicklung von didaktischen und methodischen Bildungskonzepten im Mittelpunkt. Gedenkstätten als dezentrale Orte im Umfeld des alltäglichen Lebens, in denen, um ein Zitat von Volkhard Knigge aufzugreifen, „Erinnerung und Gedenken einerseits und historisches Wissen andererseits unabdingbar aufeinander verwiesen sind“, können einen Anlass zur Erfahrung von Geschichte bieten. Dies ist ihre Stärke. Dafür benötigen sie jedoch kluge Vermittlungskonzepte, die auf Partizipation setzen, die Fragen und Perspektiven der Adressatinnen und Adressaten in den Mittelpunkt stellen und plurale Geschichtsbilder integrieren. Ein solches Lernen vor und mit dem Ort, das die Bedeutung von Geschichte für heute und im Alltag erlebbar macht und die Handlungsspielräume jedes Einzelnen in den Blick nimmt, hat großes Lernpotenzial.
Dabei müssen wir uns auch um das Interesse derjenigen bemühen, die wir bislang noch nicht erreichen, sei es beispielsweise, weil sie neben Arbeits- und Familienzeit nur wenig zeitliche Ressourcen dafür haben; sei es, weil sie schlechte Erfahrungen mit formaler Bildung gemacht haben; sei es, weil sie es sich aufgrund eines geringen Selbstwertgefühls nicht zutrauen, an Bildungsangeboten teilzunehmen. Statt sich in defizitorientieren Zielgruppenzuschreibungen zu verlieren, gilt es dabei jedoch vor allem, noch häufiger als bisher die Perspektive zu wechseln und sich selbstkritisch die Frage zu stellen: Welche Interessen, Lebenswirklichkeiten, Perspektiven und Bedarfe haben wir bislang nicht ausreichend berücksichtigt und wie können wir hierfür passende Angebote entwickeln? Was ist grundsätzlich unser Anspruch in Bezug auf Diversität, Partizipation und Inklusion? Wie werden wir diesem Anspruch gerecht? Wo werden Exklusionsmechanismen wirksam und wie können diese abgebaut werden? Oder um es mit Bernd Overwien zu sagen, einer Stimme aus der Politikdidaktik: „Emanzipatorisch ist politische Bildung dann, wenn sie die angedeuteten Strukturen mit thematisiert, so subtil und komplex sie auch sein mögen.“
Das diesjährige Gedenkstättenseminar gibt uns allen nach zwei Jahren Pandemie-bedingter Pause endlich wieder die Möglichkeit, mit den zahlreichen hier versammelten Expertinnen und Experten aus Gedenkstättenpraxis und Wissenschaft dazu in den Austausch zu treten.
Bevor ich damit nun an den ersten von diesen, nämlich Florian Kemmelmeier übergebe, möchte ich mich noch bei Menschen bedanken, ohne die diese Konferenz nicht möglich gewesen wäre. Mein Dank gilt Thomas Lutz vom Gedenkstättenreferat der Stiftung Topographie des Terrors und Thomas Kreyes und Stefan Wunsch von der Akademie Vogelsang IP sowie dem gesamten Organisationsteam, insbesondere Eva Krane und Michaela Illner, die hier gemeinsam trotz der langwierigen und uns weiterhin auf zahlreiche Proben stellende Pandemie ein außergewöhnliches Programm auf die Beine gestellt haben. Stellvertretend für das Team der bpb möchte ich mich bei Anja Fredebeul-Krein, Thomas Blau, Hanna Liever, Florian Zabransky und Frederik Schetter bedanken.
Ich wünsche Ihnen spannende Seminar-Tage, anregende Diskussionen und vielfältige Impulse für die Arbeit.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!