Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gäste,
Zwischenzeit, Zäsur, Zeitenwende – vielfach werden diese und ähnliche Begriffe aktuell verwendet, um unsere Gegenwart zu charakterisieren. Deutlich wird daran jedoch vor allem, dass diese Gegenwart schwer an konkreten Merkmalen festzumachen ist. Altes, bisher Gültiges wird zwar infrage gestellt und herausgefordert. Es zeichnen sich Paradigmenwechsel ab, sei es hinsichtlich der Überzeugungskraft der Demokratie als Lebensform, der Art und Weise unseres Arbeitens und Wirtschaftens, dem Verständnis von Kategorien wie Fakt, Fiktion, Wissen und Meinen. Und auch hinsichtlich der Wirkmächtigkeit gesellschaftlicher Dominanzverhältnisse ist einiges in Bewegung. Gleichzeitig hat das Neue noch keine ganz klare Kontur. Noch ist nicht abzusehen, wie und wohin beschrittene Pfade überhaupt verlassen werden können. Auf den Punkt bringt das der Politikwissenschaftler Philip Manow, wenn er schreibt: „Unsere Zeiten sind vielleicht nur darin neu, dass in ihnen immer etwas zu Ende geht, aber nichts Neues an seine Stelle tritt: das Zeitalter der großen Erzählungen oder das der Ideologien, die Geschichte, die Moderne, der Liberalismus, die Wahrheit usw.“
Für politische Bildung stellt es eine zentrale Aufgabe dar, mit dieser radikalen Offenheit als Gesellschaft umgehen zu lernen. Dem ist mit starren Kategorien nicht beizukommen. Es braucht vielmehr eine interdisziplinäre Verschränkung, neue Kooperationsformen, Kollaborationen und Allianzen. Auch mit den darstellenden und performativen Künsten. Denn im Theater wird über die prinzipielle Offenheit, über die Kontingenz menschlicher Handlungen Pluralität zugänglich – ein zentraler Ausgangspunkt von Demokratie. Und der Politikwissenschaftler und Pionier der Friedensforschung Ekkehart Krippendorff betonte, dass „die geistig-ethische Bildung, die Schärfung der moralischen Urteilskraft und die Sensibilisierung für Unrecht und Ungerechtigkeit in dieser Welt sich zum geringsten Teil über verbale Argumente vollziehen, sondern mit größerer Effektivität und Tiefenwirkung auf dem Felde der Ästhetik, welches eben auch die Sprache der Dichtung, der Literatur und damit auch des Dramas, also des Theaters ist.“
Festzustehen scheint jedenfalls, dass derzeit nichts Geringeres als die Bedingungen unseres Zusammenlebens selbst infrage stehen, die Bedingungen einer guten Zukunft. Wir stecken mitten in der Aushandlung. Dabei ist unsere Utopiefähigkeit, das menschliche Vertrauen und die Hoffnung darin, dass eine gute Zukunft eine Chance zur Realisierung hat, enorm herausgefordert. Angesichts der nicht endenden Pandemie, der Rückkehr des Kriegs nach Europa und auch angesichts der Klimakrise mit ihren vermeidbaren katastrophalen Auswirkungen – die jedoch wie es scheint nicht vermieden werden. Die spätmoderne Orientierungslosigkeit erstreckt sich dabei nicht nur auf das Individuum. Unsere Gemeinschaften ebenso wie die Gesellschaft als Ganzes, die kulturellen Grundlagen unseres Zusammenlebens und das politische System – kurz „die“ Demokratie in ihren vielfältigen Spielarten – bleiben nicht verschont.
So herausgefordert die Fortschrittshoffnung aktuell ist: Entscheidend wird sein, nicht bei Zustandsbeschreibung und Krisendiagnosen stehen zu bleiben. Für politische Bildung jedenfalls geht es neben Urteils- und Kritikfähigkeit eben immer auch um Handlungs- und Utopiefähigkeit, um die Befähigung zur Teilhabe und Mitgestaltung der demokratischen Gemeinschaft entlang der eigenen Interessenlagen und Werthaltungen. Ein belastbarer Zukunftsentwurf kann, so Sabine Hark, nur aus einer Haltung erwachsen, die sich in einem Denken mit der Welt äußert statt über sie. Gerade im Anthropozän. Es geht um ein „horizontales Denken, auf Augenhöhe mit den je anderen“. Hark zufolge ist das nur als machtsensible, demokratische Lebensweise möglich, die auf Praxen der Sorge gründet im Sinne einer caring democracy
Gerade hinsichtlich der Gestaltung solcher Transformationsprozesse kommt Kultur im Allgemeinen und Theater im Speziellen eine zentrale Rolle zu. Jonas Zipf betonte dazu kürzlich das spezifische Transformationspotenzial des Theaters: Das Erzählen von Geschichten. Zum einen als utopische Gelingensgeschichten, zum anderen als Mittel der Inklusion. Friedrich von Borries plädiert statt für (Gelingens-)Geschichten eher für das Schaffen von Erfahrungsräumen zur spekulativen Imagination von Zukunft, in denen gelebte Empirie und keine fiktive Geschichte erfahrbar ist. Zumindest temporäres Potential für Veränderung entsteht ihm zufolge erst mit dem Widerfahren eines Erlebnisses, sobald ich einen Erfahrungsraum betrete, statt die Geschichte von jemand anderem zu hören. Bildende Kunst, Design, Architektur ermöglichen physische Räume, in denen sich das (Kunst-)Erleben durch Ko-Präsenz ereignet
Mögliche Antworten auf die im Motto des diesjährigen Stückemarkts gestellte Frage „Was ist (uns) die Zukunft wert?“ verweisen zunächst auf unsere Gegenwart, auf unser gegenwärtiges, orientierungsloses Verhältnis zur Welt, die uns eben nicht als etwas anderes nur gegenübersteht, sondern deren Teil wir sind. Sie bergen aber ebenso Anregungen für eine andere Zukunft. Ich freue mich darüber – ganz unabhängig davon, wer den von der Bundeszentrale für politische Bildung geförderten Werkauftrag in diesem Jahr erhalten wird – dass so vielfältige Impulse hierzu beim Stückemarkt versammelt sind und wünsche Ihnen anregende, kritische und sorgevolle Augenblicke.
Herzlichen Dank.