Sehr geehrte Damen und Herren,
verehrte Frau Frieling,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
ich wurde gebeten, heute eine Rede zu halten zum Thema „Zusammen in Vielfalt – zur Rolle der allgemeinen Weiterbildung in der Demokratiebildung". Ich habe diese Rede vorbereitet und wollte mit Ihnen über die Aufgaben und Herausforderungen allgemeiner Weiterbildung in der Demokratiebildung sprechen; darüber, was wir in den Zeiten der Polarisierung und der Pandemie gelernt haben und dazu aufrufen, stets mit Mut, Neugier und Optimismus neuen Herausforderungen begegnen. Dann kam der Krieg in der Ukraine.
Angesichts der dramatischen Ereignisse, die sich seit dem 24. Februar täglich ereignen, verehrte Damen und Herren, möchte ich hier zunächst kurz innehalten. Gegen unsere europäischen Mitbürgerinnen und Mitbürger wird Krieg geführt. Gegen unsere europäischen Werte wird Krieg geführt. Und dieser Krieg Wladimir Putins ist auch ein fundamentaler Angriff auf die Friedensordnung des europäischen Kontinents.
Wie Timothy Garton Ash vor zwei Wochen im britischen Guardian schrieb: „In solchen Momenten brauchen wir Mut und Entschlossenheit, aber auch Weisheit“. Wir als politische Bildnerinnen und Bildner haben die Aufgabe – heute, morgen und noch lange danach –, die Hintergründe zu analysieren, die Schicksale der Flüchtlinge zu thematisieren und immer wieder über die Region zu berichten. Auch dann, wenn das Nachrichtengeschehen sich irgendwann wieder einem anderen Thema zuwendet.
Vor diesem Hintergrund möchte ich auf das ursprüngliche Thema zurückkehren, heute stellt sich fast aktueller denn je die Frage: Wie kann das friedliche Zusammenleben in einer von Vielfalt geprägten Gesellschaft gelingen und welche Wertebasis setzt ein solches Zusammenleben voraus?
Diese Frage hat der Politikwissenschaftler Bassam Tibi vor rund 25 Jahren mit seiner vielfach missverstandenen Formel von der „Leitkultur“ zu beantworten versucht. Damit ging es ihm freilich nicht um eine „Operation Sauerkraut“ oder ein „Hegemonialkonzept gegenüber Minderheiten“, sondern vielmehr um „einen Konsens über Werte und Normen als eine Art innere Hausordnung“ für eine zunehmend plurale Gesellschaft. Diesen Konsens findet Tibi in den zentralen Werten der Aufklärung: Vorrang der Vernunft vor religiöser Offenbarung, universelle Geltung der Menschenrechte, säkular fundierte Demokratie, Pluralismus und Toleranz. Er bezeichnet diese Werte auch als „unerlässliche Klammer“ zwischen den in unserem Gemeinwesen lebenden Menschen.
Zugegeben: Der Begriff der „Leitkultur“ ist ebenso strittig wie auch die Frage, ob es eines solchen normativ „dichten“ Konzepts jenseits der vom Grundgesetz abgesteckten freiheitlich demokratischen Grundordnung überhaupt bedarf. Die von Tibi aufgeworfene Frage nach den Bedingungen für das friedliche Zusammenleben in unserer zunehmend pluralen Gesellschaft, können wir dennoch nicht ignorieren.
Von der Leitkultur zur Streitkultur
Vor ein paar Jahren schaltete sich der in Osnabrück lehrende Soziologe und Erziehungswissenschaftler Aladin El-Mafaalani in die Debatte ein. Er verwarf den Begriff der Leitkultur nicht, stellte ihn aber auf eine andere Grundlage, indem er einen gemeinsamen Reflexionsprozess einforderte. Seine implizite Antwort an Tibi lautete: Lasst uns gerne von Leitkultur reden, aber lasst uns dann unbedingt auch über Leitkultur reden, uns also gemeinsam darüber streiten, welche Werte wir tatsächlich als handlungsleitend betrachten wollen – und welche nicht. Er packte das in die prägnante These: „Die beste Leitkultur ist eine Streitkultur“. Darin steckt zugleich die treffende Feststellung, dass es gerade der Streit ist, der uns in einer pluralen demokratischen Gesellschaft verbindet und zusammenhält.
Und nach Streit brauchen wir in der Tat nicht lange zu suchen. Denn wohl nie zuvor waren die gesellschaftlichen Herausforderungen größer als heute: Das zeigt, neben den aktuellen Ereignissen im Krieg gegen die Ukraine, ein kurzer Blick in den gerade veröffentlichen IPCC-Sachstandsbericht zum Klimawandel, der einmal mehr aufzeigt, dass wir dringend handeln müssen. Denn bei jeder weiteren Verzögerung für Maßnahmen werde sich „das Fenster der Gelegenheit schließen, eine lebenswerte und nachhaltige Zukunft für alle zu sichern“. Welche Maßnahmen aber die richtigen sind, ist ja schon bei uns in Deutschland hoch umstritten. Und da ist noch nicht einmal eingepreist, dass der Klimawandel sich nicht für Landes- und Diskursgrenzen interessiert. Dass die Herausforderungen riesig sind, zeigt auch ein Fingerzeig auf den Mega-Trend Digitalisierung, der die ganze Arbeitswelt auf den Kopf stellt, die Demokratie insgesamt wie auch das einzelne Individuum herausfordert und somit nach gesellschaftlicher Gestaltung wie auch nach Souveränität im Umgang mit den neuen Technologien verlangt. Und zu den gesellschaftlichen Herausforderungen zählen natürlich auch eine wachsende ökonomische Ungleichheit, ein parlamentarisch verankerter Rechtspopulismus und eine Zunahme an politischer Gewalt, die sich neuerdings auch inmitten Europas wieder unverblümt in Form eines Angriffskrieges zeigt.
Nie zuvor waren die Herausforderungen und damit auch die Anlässe zum Streit größer als heute. Und nie zuvor war die öffentlich sichtbare gesellschaftliche Vielfalt so groß wie jetzt, nie hatten mehr Menschen die Möglichkeit zur politischen Teilhabe und machen davon Gebrauch: das gilt gleichermaßen für Migrantinnen und Migranten wie auch für Frauen und Menschen aus der LGBTI-Community, das gilt für Menschen mit Beeinträchtigungen wie auch für religiöse und ethnische Minderheiten. Wir erleben gerade eine Öffnung nach innen. Und die Heterogenität in unserer Gesellschaft wird in Zukunft noch sichtbarer werden.
Das ruft unweigerlich Konflikte hervor. Denn mehr Teilhabe bedeutet gerade nicht, dass die Debatten ruhiger werden, ganz im Gegenteil: „Wo Integration gelingt, wird mehr ausgehandelt und damit auch mehr gestritten“, stellt Aladin El-Mafaalani treffend fest. Je mehr Menschen sich einmischen, umso lauter wird es am Tisch, diese Erfahrung haben wir in Deutschland ja auch nach der Wende gemacht. Dabei geht es nie nur um Anerkennung und Respekt, sondern immer auch um die Frage nach gesellschaftlicher Macht und Einfluss und dem damit verbundenen Zugang zu Ressourcen – das gilt für die Ostdeutschen wie für alle anderen zuvor marginalisierten und von den Diskursen ausgeschlossenen Gruppen.
Diese berechtigten Forderungen nach Mitsprache treffen aber auch auf eine große Verunsicherung in Teilen der Gesellschaft. Denn die zunehmende Pluralisierung stellt für viele keinen Segen, sondern eine Zumutung, ja sogar ein Schreckensszenario dar. Das erzeugt einen „Gegenwind“ in den Debatten, den vor allem diejenigen spüren, die bislang von ihnen ausgeschlossen waren. Der gesellschaftliche Frieden und die Handlungsfähigkeit unserer Demokratie hängen daher nicht zuletzt davon ab, wie wir diese gegensätzlichen Windrichtungen miteinander vermitteln – ohne dass uns dabei das ganze Haus um die Ohren fliegt.
Politische Bildung befähigt zum demokratischen Streit
Eines scheint jedenfalls sicher: Die Uhr des gesellschaftlichen Fortschritts, die immer mehr in Richtung Vielfalt und Teilhabe tickt, lässt sich nicht langfristig zurückdrehen: Weder von Despoten wie Putin, die gedanklich im Zeitalter des Imperialismus leben – noch von Rechtspopulistinnen und Rechtspopulisten, die grundlegende soziale Errungenschaften wie z.B. die Gleichstellung der Frau in Frage stellen. Auch daher – damit diese Ewiggestrigen nicht die Debatten bestimmen – müssen wir dazu in der Lage sein, vernünftig miteinander zu streiten. Denn heterogene, differenzierte und individualisierte Gesellschaften sind kein Ponyhof. Der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller erinnert uns daran, dass demokratische Politik keine Konsensveranstaltung ist: „Im Gegenteil, die Pointe der Demokratie ist, dass sie es ermöglicht, mit Konflikten auf zivile Weise umzugehen, sodass auch die Verlierer weder Gesicht noch Hoffnung verlieren.“
Hier kommt die politische Bildung ins Spiel. Denn dieser zivile Umgang mit Konflikten fällt nicht vom Himmel. Sondern Menschen müssen dazu befähigt werden, insbesondere auch diejenigen, die bislang weniger privilegiert sind und von den gesellschaftlichen Diskursen lange Zeit ausgeschlossen waren. Unsere Überzeugung als politische Bildnerinnen und Bildner ist: Demokratische Streitkultur kommt nicht von allein, sie muss erarbeitet, reflektiert und eingeübt werden, immer wieder aufs Neue, in jeder Phase des Lebens. Das Ziel der politischen Bildung, welches oft mit „Mündigkeit“ oder „Emanzipation“ umschrieben wird, könnte man deshalb auch guten Gewissens so fassen: Befähigung zur Teilhabe am demokratischen Streit. Oder: Bildung von Streitkultur. Aufgrund dieser wichtigen Zielstellung wird eines ganz deutlich: Wir müssen möglichst vielen Menschen Angebote politischer Bildung machen – unabhängig von ihrem Alter und unabhängig von ihrem formalen Bildungshintergrund. Denn demokratische Prozesse sind nicht zuletzt zu ihrer eigenen Legitimierung auf eine Vielfalt an eingebrachten Perspektiven angewiesen. Demokratie braucht einen offenen und freien Meinungsaustausch, um möglichst viele Positionen zur Geltung zu bringen. Und das Einbringen in den Meinungsaustausch erfordert natürlich auch ein Verständnis der zu verhandelnden Fragen und Themen und deren Einbettung in größere Zusammenhänge – also ein Wissen über Institutionen und zentrale Politikfelder aber eben auch über aktuelle Entwicklungen. Allein deshalb kann politische Bildung nie abgeschlossen sein.
Hier zeigt sich, wie wichtig es ist, auch an Erwachsene und die sogenannten berufsaktiven Zielgruppen zu denken, die Angebote politischer Bildung kaum oder gar nicht nutzen: sei es weil sie neben Arbeits- und Familienzeit nur wenig zeitliche Ressourcen dafür haben, sei es weil sie schlechte Erfahrungen mit formaler Bildung gemacht haben, sei es weil sie es sich aufgrund eines geringen Selbstwertgefühls nicht zutrauen, an Bildungsangeboten teilzunehmen. Wenn uns politische Bildung insgesamt wichtig ist, dann müssen wir auch versuchen, diejenigen zu erreichen, an denen die Angebote bisher vorbeigehen, insbesondere in der politischen Erwachsenenbildung.
Politische Erwachsenenbildung und das Problem der Ökonomisierung
In der Theorie dürfte all das wenig umstritten sein. Wie sieht es nun aber in der Praxis aus? Kurz gesagt: Die politische Erwachsenenbildung fristet heute eher ein Schattendasein. Schon lange, mindestens seit den 1990er-Jahren sind ökonomische Themen in der Erwachsenenbildung auf dem Vormarsch. Während davor die politische Mündigkeit der Teilnehmenden im Mittelpunkt stand, fokussierte die allgemeine Weiterbildung ihre Angebote zunehmend auf deren berufliche Kompetenzen, oder – in der Sprache des Neoliberalismus – auf deren „Employability“. Angebote politischer Bildung wurden sukzessive an den Rand gedrängt.
Klaus-Peter Hufer ist einer derjenigen, die seit vielen Jahren die Lage der politischen Erwachsenenbildung aus einer Innenperspektive beobachtet und kommentiert. In seinem „Plädoyer für eine vernachlässigte Disziplin“ formulierte er hierzu 2016:
„[E]inmal war gerade politische Bildung ein Ausgangspunkt der Erwachsenenbildung, und lange Zeit war sie deren vorrangiges Projekt. Heute, in einer Welt schneller Veränderungen und in einer Zeit, in der das ‚lebenslange Lernen‘ propagiert und gefordert wird, ist es auch für Erwachsene notwendig, den ‚politischen Durchblick‘ zu haben. […] Trotzdem ist es ruhig geworden um die politische Erwachsenenbildung. […] Stattdessen weht der Wind des ‚Zeitgeistes‘ aus einer anderen Richtung, einer entgegengesetzten Richtung: Employability, Kompetenzen, Qualifizierung oder Selbststeuerung sind die aktuellen Stichworte, mit denen die Ziele von Weiterbildung beschrieben werden.“
Hufer konstatiert also, dass in der Erwachsenenbildung bei den Teilnehmenden gerade nicht der politische Durchblick gestärkt werde, sondern vielmehr der ökonomische. Anstelle der gesellschaftlichen Brille schärfen wir die unternehmerische. Anstatt die Menschen fit für den demokratischen Streit zu machen, machen wir sie fit für den Wettbewerb. Anstatt die Bürgerinnen und Bürger dafür zu rüsten, sich besser zurechtzufinden in einer sich immer schneller wandelnden Welt, rüsten wir sie für die Anpassung an eine sich wandelnde Arbeitswelt. Etwas ketzerisch könnte man sagen: Das Leitbild der Erwachsenenbildung ist nicht mehr der Homo politicus, sondern der Homo oeconomicus.
Strukturelle Probleme der Erwachsenenbildung
Ohne uns zu weit aus dem Fenster zu lehnen, müssen wir leider feststellen, dass sich an dieser Situation seit 2016 nichts substanziell verbessert hat. Diese problematische Verschiebung zu Ungunsten der politischen Erwachsenenbildung trifft zusätzlich auf strukturelle Probleme der allgemeinen Erwachsenenbildung. Diese Probleme sind gemeinhin bekannt: Unterfinanzierung, unsichere bis prekäre Arbeitsverhältnisse für Mitarbeitende in den Bildungseinrichtungen, die Unübersichtlichkeit der Träger- und Förderstrukturen sowie eine zerstreute bis marginale wissenschaftliche Reflexionsinstanz.
Während die institutionalisierte Bildung im Kindes- und Jugendalter noch gut funktioniert und Schülerinnen und Schüler relativ zuverlässig über gut ausgebildetes Lehrpersonal zu erreichen sind, gibt es im Erwachsenenalter zudem immer weniger wirkliche Strukturen für die Vermittlung von politischer Bildung. Aktuell ist die Bundeswehr die einzige Institution, die politische Erwachsenenbildung als Pflichtaufgabe betrachtet und dies sogar in ihrem Leitbild vom „Staatsbürger in Uniform“ schriftlich festgehalten hat. Neben diesen strukturellen Defiziten erleben wir in der Trägerlandschaft der politischen Erwachsenenbildung eine förderpolitisch bedingte „Frontenbildung“: auf der einen Seite die Akteurinnen und Akteure der politischen Bildung, auf der anderen diejenigen der Demokratiebildung.
Was kann die Politik tun, um diesen Problemen zu begegnen? Nun, die Vorschläge sind natürlich nicht neu, aber leider noch immer aktuell. Die politische Erwachsenenbildung braucht erstens mehr empirische Forschung, um differenziertes Wissen über ihre Praxis, über die gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Arbeit und ihre Adressatinnen und Adressaten zur Verfügung zu haben. Sie ist zweitens zwingend angewiesen auf kompetentes Personal, das die komplexen Anforderungen umsetzen kann und das in der Lage ist, mit anderen Bildungsakteuren zu kooperieren. Und nicht zuletzt braucht sie drittens auch eine bessere institutionelle Verankerung, mehr öffentliche Anerkennung und eine angemessene finanzielle Ausstattung. Die politische Erwachsenenbildung ist hinsichtlich ihrer Potenziale zu lange unterschätzt und vernachlässigt worden. Es gibt an dieser Stelle einen dringenden Bedarf für Strukturreformen, das sollten wir nicht weiter ignorieren.
Methodische Herausforderungen der politischen Erwachsenenbildung
Ich möchte auch noch ein wenig auf die methodischen Herausforderungen der politischen Erwachsenenbildung eingehen. Zunächst einmal müssen wir uns immer wieder klar machen, dass diese anders als die politische Bildung in der Schule vollkommen freiwillig und entlang biografischer Bedürfnisse stattfindet. Politische Erwachsenenbildung ist daher notwendig darauf angewiesen, dass Menschen offen für ihre Angebote sind. Noch immer sind viele Träger politischer Bildung – auch die bpb – vor allem auf eine „Komm-Struktur“ eingerichtet. Wer Interesse hat, Eigeninitiative zeigt und weiß, wo man suchen muss, findet ein vielfältiges Angebot an Informations- und Bildungsmöglichkeiten. Aber der intrinsische Antrieb, sich für politische Bildung zu begeistern ist nicht bei allen gegeben. Wir müssen daher die Angebote auch zu den Menschen bringen, müssen neue Ansätze ausprobieren, innovativ sein, die „Bring-Struktur“ stärken.
Klar: Politische Bildung funktioniert mit bereits politisch Interessierten und formal höher Gebildeten am besten. Von ihnen gibt es in Deutschland glücklicherweise nach wie vor viele. Hier können die Vermittelnden auch kaum genug tun. Die Stärkung politikinteressierter Bürgerinnen und Bürger ist eine zentrale Aufgabe politischer Bildung. In einer Zeit, in der Populistinnen und Populisten mit vermeintlich einfachen Antworten lauter werden, muss politische Bildung die Resilienz gegen extremistische und populistische Verführungen stärken. Die Botschaft lautet: Die institutionellen Einrichtungen wie auch die freien Träger stärken die Zivilgesellschaft. Sie sind an der Seite derer, die sich in diesem freiheitlichen Rechtsstaat engagieren. Sie stärken das Bewusstsein für demokratische Aushandlungsprozesse in einem anstrengenden politischen System. Es lohnt sich zu streiten und für die Demokratie einzutreten.
Aber wir müssen uns auch um das Interesse derjenigen bemühen, die wir bislang noch nicht erreichen. In diesem Zusammenhang sollten wir uns immer wieder selbstkritisch die Frage stellen: Warum erreichen wir manche Teile der Bevölkerung nicht? Welchen Anteil haben wir in der Profession selbst daran? Welche Interessen, Lebenswirklichkeiten, Perspektiven und Bedarfe von Personengruppen haben wir bislang nicht ausreichend berücksichtigt und wie können wir hierfür passende Angebote entwickeln? Denn die Demokratie ist auch auf ihre Stimmen, auf ihre Perspektiven dringend angewiesen.
Daher muss die politische Erwachsenenbildung noch häufiger als bisher die Perspektive wechseln um auf diese Weise zugleich Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen: Nicht die eigene Fachlichkeit darf das Maß aller Dinge sein, sondern stets der Standpunkt der Adressatinnen und Adressaten. Politische Bildung muss deutlicher machen, welche Rolle Politik im Leben jedes und jeder Einzelnen spielt, wie sie zu verstehen, zu beurteilen und zu beeinflussen ist. Sie muss dafür an vorhandenes Interesse anknüpfen, lebensweltliche Themen aufgreifen und den politischen Kern darin aufdecken. Dafür ist es wichtig, neue Formen und Formate auch für diejenigen zu finden, für die wir bisher keine ansprechenden Angebote bereitstellen.
Dabei gilt es auch, thematisch stets auf der Höhe der Zeit zu bleiben. So muss die politische Erwachsenenbildung beispielsweise dringend die Implikationen der bereits erwähnten Digitalisierung intellektuell durchdringen und zur digitalen Souveränität beitragen. „Digitale Souveränität“ bedeutet dabei, dass der oder die Einzelne nicht hilflos den Regeln und Vorgaben der Anbieter ausgeliefert sein darf. Die souveräne Nutzerin muss stattdessen in der Lage sein, digitale Technologien zu verstehen, selbst zu beherrschen und zu bedienen und informierte Entscheidungen über ihr Verhalten treffen zu können. Leitmotiv für die politische Bildung sollte es sein, aus den Menschen echte Teilhaberinnen zu machen statt nur Kundinnen und Nutzerinnen.
Ausblick
Wie ich schon eingangs ausgeführt habe, leben wir in einer Zeit massiver Herausforderungen und gesellschaftlicher Konflikte. Die grundlegenden Fragen Europas, die europäische Friedensordnung, wird durch den russischen Präsidenten Wladimir Putin in Frage gestellt. Darüber hinaus erwachsen auch Verteilungskonflikte, die durch die Folgen des Klimawandels und die Digitalisierung mutmaßlich noch verstärkt werden. Politische Bildung kann dabei helfen, die skizzierten gesellschaftlichen Herausforderungen zu bewältigen. Hierfür muss sie sich gegenüber der kulturellen Bildung, der sozialen Arbeit, der Bildung für eine digitale Gesellschaft, der Bildung für nachhaltige Entwicklung und der Demokratiebildung öffnen und deren Ansätze zu lebensweltlich orientierten Angeboten verstärken und bündeln, um allen Menschen in Deutschland Möglichkeiten der gesellschaftlichen und politischen Teilhabe zu eröffnen.
Von Hannah Arendt wissen wir, dass eine gemeinsame Welt „überhaupt nur in der Vielfalt ihrer Perspektiven“ existiert. Wenn wir diese gemeinsame Welt bewahren wollen, brauchen wir als Leitkultur vor allem eine neue Streitkultur. Nicht nur im einzelnen Volkshochschulkurs, in dem man gemeinsam ins Nachdenken und Diskutieren kommt – sondern vor allem auch in den gesellschaftlichen Debatten, in denen im Sinne einer zivilisierten Streitkultur die Zukunft unserer Gesellschaft insgesamt verhandelt wird. Und dafür brauchen wir politische Erwachsenenbildung, die den Homo politicus wieder als Ziel ernst nimmt. Oder um es abschließend mit Bernd Overwien zu sagen, einer Stimme aus der Politikdidaktik: „Politische Mündigkeit darf nicht verengt werden auf eine in Herrschaftsstrukturen eingebundene kontrollierte Selbstoptimierung. Emanzipatorisch ist politische Bildung dann, wenn sie die angedeuteten Strukturen mit thematisiert, so subtil und komplex sie auch sein mögen.“
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!