Sehr geehrte Damen und Herren,
vor dreißig Jahren starrten wir verwundert auf die Bildschirme. Die Nachrichten, die uns erreichten, waren unvorstellbar, schienen nicht der Wirklichkeit anzugehören.
Wir waren live dabei, als die Sowjetunion, das größte Land der Welt, zerfiel.
Wir sahen unterschiedliche Bilder – mit Sorge schauten wir auf den Augustputsch auf dem Roten Platz, aber wir sahen auch Menschenketten im Baltikum und friedliche Demonstrationen in der Ukraine oder Georgien. Das „System“ war auf unvorhergesehene Art zusammengebrochen, der Weg zur Freiheit und Demokratie schien vorgezeichnet.
Im selben Jahr – 1991 – erreichten uns genau so unerwartet auch andere Bilder – Panzer im slowenischen Nova Gorica oder zerstörte Gebäude im kroatischen Vukovar. Ex-Jugoslawien, das als besonders fortschrittlich unter den sozialistischen Ländern galt, versank für ein Jahrzehnt in Kriegen.
„The Years of Change 1989-1991. Mittel-, Ost- und Südosteuropa 30 Jahre danach“ ist ein Programm der Bundeszentrale für politische Bildung in Kooperation mit dem Literaturhaus Leipzig. Und wir laden Sie – liebes Publikum – herzlich ein, über diese für Europa schicksalhaften Ereignisse nachzudenken.
Denn dreißig Jahre nach diesen Ereignissen wird die demokratische Ordnung in Europa auf den Prüfstand gestellt. Populisten und Nationalisten gewinnen die Gunst von Teilen der Bevölkerung, sie verwalten Institutionen und erobern öffentliche und digitale Räume. Demokraten von damals und heute sehen sich dem Vorwurf ausgesetzt, Fehler im politischen Handeln begangen und zu passiv agiert zu haben. Autokratische Herrscher sind auf dem Vormarsch und setzen sich nach und nach über demokratische Rechtsordnungen hinweg.
Zusammen mit Autorinnen, Aktivisten, Journalistinnen und Wissenschaftlern reflektieren und diskutieren wir über historische Ereignisse und menschliche Schicksale, über kulturelle und gesellschaftliche Phänomene sowie literarische und kulturelle Zeugnisse dieser Zeit. Wir fragen uns, wie wir die Wunden und Traumata der Vergangenheit heilen können, was erzählen wir den nächsten Generationen? Wie erklären wir den Zustand und die Verfasstheit unserer Gesellschaften?
Ich möchte mit den Worten der polnischen Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk schließen. Wir müssen „die Geschichten erzählen, als ob die Welt eine lebendige, einzelne Einheit wäre, die ständig vor unseren Augen entsteht, und als ob wir ein kleiner und gleichzeitig mächtiger Teil davon wären“.
Sie sind herzlich eingeladen, daran teilzunehmen.
Meine verehrten Damen und Herren, ich möchte unsere Gäste – Anne Applebaum, Karl Schlögel und Lothar Müller herzlich willkommen heißen! Uns allen wünsche ich eine nachdenkliche und inspirierende Zeit!
- Es gilt das gesprochene Wort -