Meine sehr verehrten Damen und Herren,
"We’re all in this together".
Die Bedeutung dieses Obama-Zitates ist uns allen spätestens seit der Coronapandemie bewusst. Krisen werden zuallererst im Alltag, im eigenen Sozialraum erlebt – sie können sich ganz konkret zeigen, wenn zum Beispiel kein Kitaplatz frei ist. Oder aber auch abstrakt, zum Beispiel in Form einer diffusen Angst vor dem Abgehängtsein. Entscheidend ist, ob die jeweilige Krise als Teil des eigenen Einflussbereichs erlebt wird oder als Zustand, dem man machtlos gegenübersteht.
We’re all in this together: politische Entscheidungen und gesellschaftliche Entwicklungen lassen die eigene alltägliche Lebenswelt nicht unberührt, manchmal krempeln sie gar unser ganzes Leben um - das zeigt die Coronakrise deutlich.
Warum aber scheint der Umkehrschluss nicht der Fall zu sein? Warum beklagen immer mehr Menschen, dass sie aus ihrem eigenen Nahfeld heraus keinen Einfluss auf politische Entscheidungen oder gesamtgesellschaftliche Strukturen nehmen können?
Die Politik zur Bewältigung der Pandemie wird zunehmend wütend und Ressentiment-getrieben diskutiert. Wer etwa vor einigen Tagen verfolgt hat, wie sich Künstlerinnen und Künstler rund um die Initiative "#allesdichtmachen" untereinander angegriffen haben, wie Schauspieler und Journalistinnen über die jeweils andere Berufsgruppe urteilen oder wie das "an der Front kämpfende" Pflegepersonal das alles findet, der/die hat eher den Eindruck, das neue Motto hieße: We're all in this divided.
Andererseits haben wir insbesondere zu Beginn der Pandemie (ähnlich wie 2015 rund um die Flüchtlingssituation) eine große Solidaritätswelle erlebt, und auch über ein Jahr nach Beginn der Krise verhalten sich viele Menschen sehr rücksichtsvoll und verantwortungsbewusst. Können wir vielleicht gerade in der Krise Brüche überwinden? Schweißen Krisen also zusammen oder treiben sie auseinander?
Vielleicht ist diese Frage falsch gestellt, vielleicht sollten wir fragen: Unter welchen Umständen führen sie zu der einen oder anderen Tendenz? Können wir, wie in Ihrem Tagungstitel angedeutet, Einfluss nehmen auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Krisenzeiten? Welche Rolle kann oder sollte hier politische Bildung spielen?
Diesen Fragen werde ich in den nächsten Minuten auf den Grund gehen. Dabei möchte ich einen Blick auf die langfristigen Ursachen der zeitgenössischen "Krisenstimmung" und auf ihre tieferen gesellschaftlichen Auswirkungen werfen. Hierbei werden einige Jahre zurückliegende Ereignisse im In- und Ausland eine Rolle spielen, die allgegenwärtige Pandemie wird nicht im Mittelpunkt stehen.
Denn mit diesem geweiteten Blick können wir meiner Meinung nach zu einem besseren Verständnis der einzelnen Eruptionen gelangen und sie – wie ich abschließend skizzieren werde – auch politisch-bildnerisch bearbeiten. In der Art von Krise und dem durch sie ausgelösten Ohnmachtsempfinden liegt – so meine These – die tiefere Ursache für die beklagten Brüche. Insofern kann hier auch die Lösung liegen.
1 – In der öffentlichen Debatte der vergangenen beiden Dekaden erscheint der Krisenbegriff geradezu inflationär. Krisen und Kriege im Irak und in Syrien, in der Ukraine oder im Kaukasus. Krise der New Economy, Banken-, Immobilien-, Schulden- und Eurokrise, Flüchtlingskrise, Brexit, "Trump" – währenddessen und besonders bedrohlich eine Krise des gesamten Planeten durch den menschlich erzeugten Klimawandel. Während all dieser und weiterer Verwerfungen steht insbesondere in den vergangenen Jahren häufig im Raum, die Demokratie insgesamt sei in der Krise.
Diese These muss ich zunächst mit einem entschlossenen vielleicht beantworten. Inwiefern sich eine Krise der Demokratie konstatieren lässt, hängt auch davon ab, mit welchen Merkmalen eine Demokratie definiert wird. Folgen wir beispielsweise dem Demokratieverständnis des Politikwissenschaftlers Adam Przeworski müssen wir uns nicht allzu viele Sorgen um die Demokratie machen. Für Przeworski ist Demokratie "eine politische Ordnung, in der die Bürgerinnen und Bürger ihre Regierung mittels Wahlen bestimmen und die Möglichkeit haben, sich einer Regierung zu entledigen, die ihnen nicht gefällt." Zitat Ende.
Die Demokratie sei schlicht ein System, in dem amtierende Regierungen Wahlen verlieren können und daraufhin abtreten müssen.
Auch wenn wir es international weiterhin oder wieder mit mehreren Großmächten zu tun haben, in denen dieses Prinzip nicht oder nicht vollständig zu gelten scheint. Auch wenn bei einigen wenigen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union Demokratiedefizite zu beklagen sind: In dieser institutionellen Hinsicht ist Demokratie heute stark wie wahrscheinlich nie zuvor.
Der Politikwissenschaftler Philip Manow weist darauf hin, dass Volkssouveränität "als Legitimationsprinzip unumstrittener denn je" sei. So viele Länder wie noch nie haben sich demokratisiert, Einschränkungen sind wo es sie noch gibt, verpönt. Selbst Autokratien sehen sich zur Abhaltung – wenn auch womöglich manipulierter – Wahlen gezwungen. In den westlichen Demokratien fordert niemand offen ihre Abschaffung, populistische Kräfte argumentieren hier vielmehr dezidiert mit der angeblichen Mehrheitsmeinung – also mit demokratischer Rhetorik.
Auch die vielfach zum Beleg genommene Fragmentierung der Parteienlandschaft muss nicht unbedingt ein systemisches Krisensymptom darstellen. Sie könnte auch für eine Revitalisierung der Demokratie sprechen, zeigt derzeit aber vor allem, wie angesichts einer heterogenen Gesellschaft unterschiedliche Formationen entstehen. Das muss nicht schaden, schlimmer ist es, wenn alte Parteien Zustimmung verlieren ohne dass andere Parteien davon profitierten – Menschen also ins Lager der Nichtwählenden wechseln.
Denn: Parteien sind essenziell für die repräsentative Demokratie. "Indem ihre Programme auf potenzielle Mehrheitsfähigkeit, auf politische Attraktivität zielen und daher auch auf die sich wandelnde öffentliche Meinung reagieren müssen, nehmen Parteien eine Relaisfunktion zwischen exekutiver Entscheidung und gesellschaftlichem Diskurs ein. Anders ausgedrückt: Parteien verbinden zwei grundsätzliche Funktionen, nämlich repräsentieren und regieren", so Manow weiter.
Also alles halb so wild?
Demgegenüber sehen etwa Armin Schäfer und Michael Zürn eine wie sie es nennen "demokratische Regression". Sie diagnostizieren, autoritäre Bewegungen seien auf dem Vormarsch, auch in demokratischen Staaten.
Verschiedene Umfragen legen tatsächlich nahe, dass zumindest die Umsetzung der Demokratie kritischer gesehen wird; u.a. zeigte eine Umfrage in 26 EU-Ländern bereits vor einigen Jahren, dass Zustimmung zur Demokratie in 20 dieser Länder abgenommen und lediglich in sechs Ländern zugenommen hatte. Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung hat ergeben, dass im Frühjahr 2019 nur noch eine Minderheit von 46,6 Prozent der wahlberechtigten Staatsbürgerinnen und -bürger mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland zufrieden war. Die letzte Leipziger Autoritarismus-Studie im Herbst 2020 bestätigte diesen Trend: Demnach zeigen sich knapp 80 Prozent der Befragten "zufrieden mit der Demokratie, wie in der Verfassung festgelegt", mit der "umgesetzten Demokratie" sind es allerdings nicht einmal 60 Prozent.
Über ein Drittel der Deutschen ist also der Meinung, dass die Demokratie sich zumindest in einer Umsetzungskrise befindet, in Ostdeutschland sagt das laut Autoritarismus-Studie sogar eine deutliche Mehrheit.
Diese Zahlen bestätigen den virulenten Eindruck, dass die demokratischen Staaten von innen unter Druck geraten. Die Pandemie kann hier als Kumulation bisheriger Krisen gelten. Denn im Protest gegen die Corona-Politik zeigt sich die breite Verachtung nicht nur des Personals, sondern auch der Institutionen und Gepflogenheiten unserer Demokratie erstmals geballt auf der Straße – auch jenseits der "klassischen" extremistischen Milieus. Ein Blick in andere Demokratien oder die Kommentarspalten etwa der Social Media Accounts großer Medienhäuser – von den einschlägigen Foren und Akteuren ganz zu schweigen – ließ derartige Eskalation indes seit geraumer Zeit befürchten.
Vor diesem Hintergrund lautet eine weitverbreitete These: Hier liegt eine grundlegende Störung des Verhältnisses zwischen Bürgerinnen und politischen Verantwortungsträgern vor, Politik und Bürgerschaft haben sich voneinander entfernt.
2 – Zu dieser Gemengelage haben viele Faktoren beigetragen, die keineswegs per se unter dem Label "Krise" subsummiert werden müssen. In den vergangenen Jahrzehnten hat ein umfassender Strukturwandel eingesetzt, der mutmaßlich weitere Dekaden andauern wird und der unsere (Arbeits-)Welt umkrempelt, wie es zuletzt die Industrialisierung getan hat. Technologische Entwicklungen (wie Mikrochips, Automatisierung, Konversion und zum Teil das Auslaufen klassischer Industrien verbunden mit einer Expansion von Dienstleistungen usw.), gesellschaftlicher Wertewandel (eine auch von "68" inspirierte Individualisierung, die "Risikogesellschaft", der Verfall klassischer Autoritäten) und politische Agenda stehen hier in einem komplexen, interdependenten Verhältnis. Zeitgeschichtlich wurde diese Entwicklung "nach dem Boom" etwa von Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael in ihrem gleichnamigen Buch beschrieben.
Die politische Moderation dieser Transformation wurde bis vor kurzem stark von der ideologischen Meinungsführerschaft der Chicago School of Economics und der "eisernen" Durchsetzung ihres Programmes durch die verschiedensten Regierungen geprägt: Angebotspolitische Wende, insbesondere globale Konkurrenz um Direct Foreign Investments, Deregulierungen, Privatisierungen. Dadurch ging die Verunsicherung des Wandels mit der Erfahrung größerer Ungleichheit und dem Empfinden einher, dass weder Lasten noch Profite der neuen Zeit gerecht verteilt seien.
Das gilt umso mehr für den Osten, wo das erwähnte Politikmodell nach 1989 im Zeitraffer implementiert wurde, zudem weitgehend ohne die soziale Sicherheit und relative Nivellierung Westeuropas. Das Fehlen jeglicher Selbstzweifel – aus demokratischer Perspektive nie ein gutes Zeichen – lässt sich hier bereits daran erkennen, dass die oben erwähnten Apologeten diesen Prozess unter der von ihnen positiv verstandenen Bezeichnung der "Schocktherapie" durchführten.
Diese Art von Therapie lässt in der Tat schockiert zurück, vor allem aber demotiviert sie. Wer hier nicht mitkommt, verliert die Lust.
Warum an einer Gesellschaft partizipativ mitwirken, aus der man sozio-kulturell ausgeschlossen wurde?
Ökonomische Ungleichheit übersetzt sich oft in gesellschaftliche und politische Ungleichheit, damit verhindert sie gleiche Teilhabe(chancen). Die auf der Sonnenseite der Transformation Lebenden kennen ihre Interessen, sie partizipieren, sie werden repräsentiert und fühlen sich repräsentiert; für das "untere Drittel" gilt das nicht oder nur eingeschränkt. Betroffen sind hier vor allem ein neues Dienstleistungsproletariat und der Niedriglohnsektor, beides Kinder der beschriebenen Angebotspolitik, aber auch ein wachsender Teil der Mittelschicht. Hier fürchtet man den Abstieg und hat im Gegensatz zu denen "ganz unten" viel zu verlieren.
Ökonomische Transformationsprozesse bedrohen Erwerbsbiografien und können zu Ohnmachtsempfinden und schwindendem Vertrauen in Institutionen führen. Ihre tieferen Ursachen sind komplex und erscheinen oft abstrakt, die vor Ort erfahrenen Auswirkungen können umso konkreter sein: Biographische Brüche, Verlust an Einkommen, Struktur und Status.
Darüber hinaus zeitigen sie einschneidende Effekte auf kollektive und identitätsstiftende Zusammenhänge: Das Wegbrechen der betrieblichen Gemeinschaft als integrativer Faktor infolge von Betriebsschließungen etwa ist ein konkreter Bruch von Gesellschaft. In betroffenen Regionen hat das, besonders wenn es wiederholt und/oder konzentriert erfolgt, Auswirkungen über Einzelbetriebe und -branchen hinaus: Verlust von Kaufkraft und Erwerbsmöglichkeiten; Wanderungsverluste insbesondere junger, gut ausgebildeter und weiblicher Bevölkerung, Erosion privater Beziehungen und Strukturen wie Vereine.
Nicht selten fallen der Verlust arbeits(platz)bezogener und lokaler / regionaler Identität zusammen. Zurück bleiben dann "angry white men" und eine ausgedünnte bzw. zurückgebaute Infrastruktur. Ein Teufelskreislauf: Denn wer möchte sich in einem solchen Umfeld neu ansiedeln und hier (monetär oder ideell) investieren? Wer soll Ideen, Kreativität und Lebensfreude (zurück-)bringen?
Der Zeithistoriker Philipp Ther rekurriert in seiner Analyse politischer Auswirkungen dieser Entwicklungen auf Karl Polanyi. Dessen 1944 unter ganz anderen historischen Umständen veröffentlichte "Große Transformation" ging bereits von einem Wechselspiel zwischen dem selbst verwirklichenden Individuum und selbst regulierenden Markt einerseits und dem sozialen Schutzbedürfnis der Gesellschaft anderseits aus. Heute sprechen Politikwissenschaftlerinnen von Kosmopoliten und Kommunitaristen oder von Anywheres und Somewheres.
Auf der "schutzsuchenden" Seite gibt es verschiedene Strategien. Als Reaktion auf die erwähnten Krisen schlug das Pendel zum Teil nach links, zu Kapitalismuskritik in Deutschland, zur griechischen Syriza oder zu Occupy Wallstreet. Zunehmend schlug es aber auch nach rechts – und verschaffte den Verfechtern einer kulturessentialistischen Abwehrhaltung Rückenwind.
Derartige Konfliktlinien sind an sich kein Makel für eine lebendige Demokratie, so wie Heterogenität kein Makel für eine plurale Gesellschaft ist.
Zur Herausforderung wird selbiges, wenn integrierende oder zumindest moderierende Institutionen an Bindekraft verlieren. Über die Folgen diskutieren wir seit geraumer Zeit: Abgeschottete Diskurse, fragmentierte Öffentlichkeit(en), Filterbubbles. Ein "Diskurs der Freien und Gleichen", um es nach Jürgen Habermas sagen, wird so zunehmend schwieriger.
3 – Was ist der tiefere Grund für diese Vertrauenskrise der Institutionen, warum können sie ihre moderierende Funktion derzeit nicht wahrnehmen?
Natürlich ist gibt es hierfür verschiedene Gründe, aber da Sie nach der Bedeutung von Krisen für Brüche fragen, möchte ich einen diesbezüglichen Aspekt herausgreifen.
Wie schon meine eingangs durchgeführte unvollständige Krisen-Aufzählung zeigt, sind seit der Pleite der Lehmann Brothers 2008 und dem folgenden Zusammenbruch des US-amerikanischen Immobilienmarktes kaum mehr in einen "stabilen Normalzustand" zurückgekehrt.
Die unter kurzfristigem Druck agierende Politik im Krisenmodus schwächt dabei vorausschauendes und nachhaltiges Handeln, sie produziert damit künftige Krisen bzw. verschärft Dauerkrisen, etwa den Klimawandel oder (andere) strukturelle Ursachen von Flucht und Armutsmigration. Die Wurzeln der derzeitigen zoonotischen Pandemie liegen in derartigen Versäumnissen, aber auch die Gründe der – wenn wir sie so nennen möchten – Krise der (liberalen) Demokratie.
Mit der Finanzkrise hätte eine demokratische Neuaushandlung der – wie eben beschrieben – ungerecht und entrückt wirkenden sozioökonomischen Ordnung einhergehen können. Stattdessen versuchten US-Regierung, Internationaler Währungsfonds und amerikanische Notenbank "die Krise im Schulterschluss mit ihren Verursachern zu überwinden", wie Philipp Ther es formulierte.
4,3 Millionen Familien verloren ihre Häuser und Wohnungen, während Rettungsprogramme und Kapitalspritzen Börsen und Banken retteten.
Ich möchte dieses Vorgehen hier gar nicht politisch beurteilen, mir geht es eher um die rund um diese Krisenbewältigung etablierte Rhetorik. Besonders zwei verhängnisvolle Vokabeln wurden nun salonfähig: systemrelevant und alternativlos.
Bei der europäischen Neuauflage bzw. Fortsetzung der Finanzkrise rund um die Währungsunion und deren überschuldete Mitgliedsstaaten ging das europäische "Pendant" aus EU, EZB und erneut dem IWF ähnlich vor. "Während Europas Steuerzahler in die Mangel genommen wurden, wurden die Banken und andere Geldgeber mit Geld ausgezahlt, das man in die zu rettenden Länder gepumpt hatte", so beschrieb es Adam Tooze.
Die auch bei dieser Krisenbewältigung beschworenen Prämissen der Alternativlosigkeit und Systemrelevanz kumulierten in der besonders auch aus den Reihen unserer Bundesregierung – so selbstkritisch sollten wir sein – geäußerten Forderung, Wahlergebnisse, dürften "den wirtschaftspolitischen Kurs nicht beeinflussen". Dieses Signal einer thematischen Begrenzung von Partizipation wirkte umso gravierender, als anschließend tatsächlich Regierungsbildungen (in Spanien und Portugal) unter derartigem Vorbehalt standen.
Besonders fatal dokumentierte sich der Entzug demokratischer Agency im Sommer 2015 gegenüber Griechenland: Die Syriza-Regierung warb zunächst für die Ablehnung eines "Rettungspaketes" per Volksabstimmung. Als diese mit klarer Mehrheit erfolgt war, sah sie sich unter fiskalpolitischem Druck gezwungen, diametral gegenteilig zu handeln und eine Vereinbarung zu unterzeichnen, deren Inhalt sich kaum vom soeben per Referendum Abgelehnten unterschied.
Damit war nicht nur das Element direkter Demokratie ad absurdum geführt, sondern auch die repräsentative Demokratie blamiert: Der demokratisch herbeigeführte Regierungswechsel von der politischen Mitte zu Syriza war ausgerechnet in der offensichtlich (wahl-)entscheidenden Frage irrelevant, er führte politisch zum gleichen Ergebnis wie es mutmaßlich eine Wiederwahl der alten Regierung ergeben hätte.
Können wir uns unter derartigen Umständen über niedrige Wahlbeteiligungen beschweren?
In Deutschland bezeichneten fast alle Parteien und Akteure diese Rettungspolitik stoisch als "alternativlos" und verzichteten zunehmend auf argumentative Begründungen, so dass sich die inhaltliche Opposition schließlich als Neugründung formierte und dezidiert zur "Alternative" erklärte. Sie wurde zunächst ebenso wenig ernstgenommen wie die in Großbritannien anschwellende "Brexit-Stimmung", die sich keineswegs erschöpfend erklärt in klassischer britischer Europaskepsis, der Nord-Süd-Spaltung Englands oder misslungenen taktischen Manövern des damaligen Premierministers.
Vielmehr wiederholte die britische Remain-Kampagne sämtliche kommunikative Fehltritte rund um Finanz- und Eurokrise. Das mag kaum überraschen, waren hier doch mit der Finanzwirtschaft der Londoner City und den dort stark vertretenen US-Banken zum Teil identische Akteure führend, auch der IFW äußerste sich pointiert zum erwünschten Abstimmungsverhalten. Der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze spricht treffend von einem project fear, einer Angstkampagne, die mit Wohlstandsverlusten und Arbeitsplatzverlagerungen im Falle des Austrittes drohte, statt positiv für die europäische Integration zu werben.
4 – In den beiden hier skizzierten, internationalen Prozessen – der längerfristigen Transformation und damit einhergehende sozioökomischen Auswirkungen einerseits und den Krisenbewältigungs- und vor allem Kommunikationsstrategien seit 2008 anderseits – sehe ich Hauptursachen der beklagten Brüche; auch jener, die sich nun vordergründig rund um "Maskenpflicht", Impfgegnerschaft oder abstruse Verschwörungsideologien zeigen.
Schäfer und Zürn betonen in "ihrer" demokratischen Regression: "Die mangelnde Berücksichtigung der Anliegen unterprivilegierter Bevölkerungsteile im parlamentarischen Entscheidungsprozess sowie die Übertragung von Kompetenzen auf Gremien, die keiner Mehrheitsfindung bedürfen, riefen ein weit verbreitetes Gefühl hervor, kaum Einfluss auf politische Beschlüsse nehmen zu können."
Aus soziologischer Perspektive handelt es sich um eine gestörte Resonanz. Mit Harmut Rosa kann soziale Resonanz als Grundlage für das Welt- und Selbstverhältnis der Menschen gelten. Daher ist es wichtig, dass den Subjekten die Welt, also ihre Mitmenschen, die Gesellschaft und auch die Politik, als resonant begegnet. Damit ist gemeint, dass sich die Menschen verstanden, anerkannt und wertgeschätzt fühlen. Wenn dem so ist besteht eine große Chance, dass sie sich politisch nicht ab-, sondern zuwenden.
Michael Görtler, Dozent für Sozialpädagogik führt dazu aus: "In diesem Sinn können Sozialräume auch als Resonanzräume aufgefasst werden, in denen Primärerfahrungen stattfinden, gelingende Beziehungen aufgebaut und gestörte oder unterbrochene Beziehungen wiederhergestellt werden können. Dies betrifft nicht zuletzt die angesprochene Rückkoppelung zwischen Bürgerinnen und Politik, damit in der funktionierenden Demokratie die Brücke von der Lebenswelt über die Gesellschaft hin zu den Entscheidungsträgern geschlagen werden kann".
Heikel wird es, wenn Bürgerinnen und Bürger weder das Gefühl haben, dass sie in ihren Angelegenheiten mitbestimmen können, noch dass sich die amtierende Regierung um ihre Belange kümmert.
Mangelnde Responsivität des politischen Systems ist Quelle von Politikverachtung: Werden Interessen (etwa von ökonomisch Schwachen und/oder kulturell marginalisierten Gruppen) zu lange überhört, artikulieren sie sich eruptiv in populistischen Bewegungen. Hierfür sind besonders diejenigen anfällig, die ohnehin unzufrieden sind.
Dabei ist weniger die tatsächliche Lage entscheidend, sondern das Gefühl von Bedrohung. Bedrohung des Wohlstands, Bedrohung des Status‘, Bedrohung der Identität. Vermeintlich hilft dann die Flucht in eine nostalgisch imaginierte Vergangenheit, als "man noch sagen durfte…" und/oder die Selbstinszenierung als Widerstandskämpfer gegen eine moderne Zeit, deren Beeinflussung der eigenen Agency entzogen scheint und deren gewählte Repräsentanten man weder versteht noch ihnen über den Weg traut. Rassistische, fundamentalistische und nationalistische Vorstellungen (und auch Parteien) gewinnen an Zustimmung.
Populisten untergraben gezielt die – aufgrund der eben geschilderten Entwicklungen bereits vakanten – institutionellen Vertrauensverhältnisse, was Philip Manow zu dem "paradoxen Befund" bringt, "dass der Demokratie vor allem von der Demokratie Gefahr zu drohen scheint, weil sie immer häufiger 'im Namen der Demokratie' angegriffen wird." An diesem Punkt kippt die – nicht per se schlechte – Kontroversität in der Gesellschaft in den Zustand von Spaltung. Es fehlt ein gemeinsames Grundverständnis elementarer Kategorien: Etwa, was Wahrheit und was Lüge ist oder wer warum zum Staatsvolk gehört. Und wenn bezüglich des Wesenskerns der Demokratie kein Konsens mehr besteht, können wir tatsächlich davon sprechen, dass die Demokratie in der Krise ist.
Cas Mudde und Cristóbal Rovira Kaltwasser fassen die von mir skizzierte Entwicklung zusammen, indem sie im Populismus "im Wesentlichen eine illiberale demokratische Antwort auf undemokratischen Liberalismus" sehen. Etwas weniger scharf formuliert erscheint die liberale Demokratie "nicht nur als passives, selbst ganz bewegungsloses und weitgehend unschuldiges Opfer einer Bedrohung durch wundersam wiedererstarkte 'illiberale Kräfte'" (so Manow). Vielmehr müssen wir auch hinterfragen, inwiefern sie selbst entdemokratisiert bzw. wie inhärente Mechanismen und vermeintliche Sachzwänge, insbesondere in Krisenzeiten, der Partizipation und den Gestaltungsmöglichkeiten von Menschen im Weg stehen.
Zu bestreiten, dass es Alternativen gibt bzw. diese an apokalyptische Katastrophenszenarien zu koppeln, ist das Ende von Politik. Partizipation auf die "weniger wichtigen Fragen" zu reduzieren und die Gestaltung der sozioökonomischen Lebenswirklichkeit in Zwänge und Sachlogiken zu anonymisieren untergräbt wirkliche Teilhabe. Deswegen halten wir in der politischen Bildung immer die Kontroversität hoch, zeigen alternative Gestaltungsentwürfe und Konfliktlinien sowie die jeweils damit verbundenen Interessenlagen auf und werben für eigenes Engagement.
5 – Was aber können wir als politische Bildung darüber hinaus leisten, um Brüche auch und gerade in der Krise zu überwinden? Eine ganze Menge!
Denn nur auf andere zu zeigen, ist nicht nur selbstgerecht, sondern untergräbt auch die wichtige gesellschaftspolitische Rolle von politischer Bildung. Deswegen möchte ich nun explizit auf unsere Rolle eingehen. Dabei soll es nicht nur darum gehen, inwiefern politische Bildung Lösungsansätze für die skizzierten Kommunikationsbarrieren gesellschaftlicher Aushandlungen bieten kann, sondern auch darum zu beleuchten, welche Rolle sie selbst womöglich als Teil des Problems mangelnder Partizipation spielt.
Politische Bildung will die Menschen bewegen, aber sie hat sich dabei selbst viel zu lange nicht bewegt. Die Vermittlung von Wissen, Demokratie als Lern- und Vermittlungsgegenstand in Bildungsangeboten war lange Zeit prägend für die politische Bildung.
Im 16. Kinder- und Jugendbericht ging es unter anderem darum zu untersuchen, wie demokratisch die Bildungsstrukturen selbst sind und inwiefern junge Menschen ihre Lernprozesse selbst gestalten oder sogar als politische Akteure auftreten.
Auch wenn der Bericht auf eine präzisierte Betrachtung der sozialen Räume, in denen politische Bildung junger Menschen stattfindet, abzielte, lassen sich aus ihm ganz grundsätzliche Schlüsse für die Profession der politischen Bildung ziehen.
So heißt es im KJB: "Die Settings und Formate der politischen Bildung sollten laufend daraufhin überprüft werden, ob und wie neue Partizipationsformen geschaffen werden können. Dabei muss Scheinpartizipation vermieden werden. Beteiligung muss von Beginn an erfahren werden. Das betrifft auch die Bildungsprozesse selbst. Politische Bildung funktioniert nicht ohne die substanzielle Beteiligung junger Menschen an den Entscheidungen über Inhalte, Zielsetzungen, Methoden und Räume politischer Bildung. Partizipation in der Demokratie muss geübt und erfahren werden. Aber Beteiligung lässt sich nicht simulieren. Kinder und Jugendliche benötigen Bildungsangebote in Bildungsräumen, in denen sie wertgeschätzt werden und die sie ernsthaft mitgestalten können."
Lassen Sie es mich an dieser Stelle deutlich formulieren: Politische Bildung hat die Menschen lange von einem institutionalisierten Standpunkt aus in Anspruch genommen, ohne sich selbst von den Menschen in Anspruch nehmen zu lassen.
Dies ändert sich gerade, vor allem durch Ansätze einer aufsuchenden politischen Bildung. Politische Bildung beginnt, sich selbst zu bewegen. Hier manifestiert sich, dass Demokratie in all ihren verschiedenen Auswüchsen (auch der politischen Bildung) sowohl in Anspruch genommen wird als auch in Anspruch nimmt.
Welche Angebote politische Bildung macht, sollte damit nicht länger allein den jeweiligen Institutionen obliegen, sondern auch den Menschen in ihren jeweiligen Sozialräumen. Das Ziel politischer Bildung, mündige Bürger*innen, die an der Demokratie partizipieren und diese mitgestalten, muss sich auch in der politischen Bildung selbst erschöpfen. Politische Bildung ist nicht nur für die Menschen gemacht, sondern auch von ihnen.
6 – Projekte der aufsuchenden politischen Bildung kennzeichnet, dass sie sich an die Menschen in ihren jeweiligen Sozialräumen, z.B. dem Betrieb oder dem eigenen Kiez, wenden. Es geht um die Verbindung von Lebenswelt, Gesellschaft und Politik, damit die Menschen im Sozialraum den Zusammenhang zwischen den Anforderungen, die sie im Alltag zu bewältigen haben, und den zugrundeliegenden gesellschaftlichen und politischen Strukturen herstellen können.
In Anlehnung an Gerhard Himmelmanns Demokratiebegriff als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform führt Michael Görtler aus: "Es geht in der Politischen Bildung vor allem darum, dass die Menschen aus der Reflexion der Erfahrungen beim Handeln im Alltag heraus die Brücke zur institutionellen Ebene schlagen. Lebenswelt und Gesellschaft, d.h. das Zwischenmenschliche und das Zusammenleben in der Gemeinschaft, müssen folglich mit der Politik (z.B. Akteur*innen, Gesetze) in Verbindung gebracht werden […] Hier besteht eine Aufgabe darin, die Lebenswelt in ihren Dimensionen der erfahrenen Zeit, des erfahrenen Raums und der erfahrenen Beziehungen sowie die darin auftretenden Widersprüchlichkeiten zu erfassen und die erfolgreichen wie auch erfolglosen Bewältigungsversuche der Menschen im Alltag zum Gegenstand des Lernens zu machen." Solche Ansätze der Lebenswelt- und Subjektorientierung bedeuten für die politische Bildung nicht nur, dass sie unterschiedliche Angebote für verschiedene Menschen zur Verfügung stellt, sondern auch, dass sie diese mit den Menschen in ihren und angepasst an ihre jeweiligen alltagsweltlichen Sozialräume entwickelt. Dafür muss sich die Profession öffnen – thematisch, räumlich, methodisch.
Vor allem bezüglich benachteiligter oder exkludierter Gruppen geht es nicht ausschließlich um die passenden Gestaltungsformen und Zugänge. Es geht mitunter auch darum in einem ersten Schritt Themen zu behandeln, die primär die Erfahrungen der Menschen behandeln und erst sekundär Themen des politischen Lernens berühren.
Deswegen nehmen wir als bpb zu Beispiel Jugendliche in den Blick, die als "materialistische Hedonisten" charakterisiert werden –sie zeichnet ein tendenziell niedriger Bildungsstatus aus, verbunden mit einer Grundorientierung, die sich an einem konsumorientierten "Haben & Zeigen" orientiert.
Dementsprechend haben wir Material entwickelt, das den Rezeptionsgewohnheiten dieser Gruppe entspricht, etwa mit der Reihe "Was geht?" oder auch mit Games wie etwa "Moderate Cuddlefish": Dabei handelt es sich um ein sogenanntes "Serious Game", das sich an Jugendliche und junge Erwachsene ab 14 Jahren richtet und besonders für den Einsatz in der Schule geeignet ist. Die spielende Person kann dabei nachempfinden, welchem Entscheidungsdruck z.B. eine Moderatorin beim Löschen von grenzwertigen Aussagen zu aktuellen polarisierenden Themen ausgesetzt ist. Dabei gilt es, blitzschnell zwischen Hate Speech und legitimer Meinungsäußerung abzuwägen.
Über den dreijährigen Fördertopf des Programms "Miteinander reden" unterstützt die Bundeszentrale über alle Bundesländer verteilt 100 Initiativen in ländlichen Räumen, die vor Ort politische Bildungsarbeit betreiben. Eines der geförderten Projekte war "Rent a Jew", das von der Europäischen Janusz Korczak Akademie in München konzipiert wurde. "Rent a Jew" vermittelte ehrenamtliche jüdische Referentinnen und Referenten für Begegnungen.
Da sich jüdisches Leben heute in Deutschland vor allem auf die Städte konzentriert, war insbesondere in ländlichen Regionen der Bedarf für ein solches Begegnungsprojekt sehr hoch. Die Referentinnen und Referenten von "Rent A Jew" bekamen dabei keine Vorgaben darüber, was sie sagen oder erzählen sollten. Es oblag allein ihnen, wie sie den offenen Austausch und das gegenseitige Kennenlernen gestalten.
Neben dem ländlichen Raum versuchen wir auch im beruflichen / betrieblichen Kontext aktiv zu werden, denn Betriebe sind Produktionsstätten, die das demokratische Gemeinwesen durch individuelle Selbstwirksamkeitserfahrungen nähren. Um dieses Potenzial zu heben, sollte der Betrieb als politischer Lernort unbedingt gestärkt werden. Hier können Mitbestimmung, Partizipation und Integration eingeübt sowie Wirkmächtigkeit erfahren werden.
Viele Menschen verbringen mehr Zeit mit den Kolleginnen und Kollegen als mit der Familie oder dem Freundeskreis. Im Betrieb finden gesellschaftspolitische Diskussionen und Aushandlungsprozesse statt. Und angesichts einer zunehmend fragmentierten Gesellschaft besonders wichtig: Durch diverse Belegschaften sind Meinungs- und Weltanschauungs-Blasen porös, ein Rückzug in Echokammern erscheint kaum möglich.
Die bpb will künftig sehr viel stärker im sozialen Raum der Arbeitswelt aktiv werden, um berufsaktive Zielgruppen zu adressieren und ihre Positionen im gesellschaftlichen Diskurs sichtbarer zu machen. Gemeinsam mit dem DGB arbeiten wir derzeit an der Etablierung eines Trägernetzwerks Politische Bildung bestehend aus verschiedenen regionalen und bundesweiten Akteuren der politischen gewerkschaftlichen Bildung.
Neben einer exemplarischen Erhebung und kritischen Analyse der vorhandenen gewerkschaftlichen und gewerkschaftsnahen politischen Bildung geht es um die Durchführung von Veranstaltungen, Workshops, Strategiewerkstätten zur Stärkung und Qualifizierung von Trägern, um vorhandene Leerstellen zu füllen.
7 – Missverstehen Sie diese Beispiele bitte nicht als Ausdruck werbender Selbstzufriedenheit. Denn Ansätze einer aufsuchenden politischen Bildung sowie damit verbunden Lebenswelt- und Subjektorientierung bedeuten, wenn sie konsequent zu Ende gedacht werden, eben auch, dass die Profession der politischen Bildung und damit ihre Institutionen Verantwortung und letztlich auch Macht abgeben sollten und müssen.
Um Ansätze der aufsuchenden politischen Bildung realisieren zu können, bewegen sich politische Bildnerinnen und Bildner in ihnen unbekannten Räumen, sodass sie auf die Zusammenarbeit mit den Menschen vor Ort, deren Expertise sowie Standing angewiesen sind.
Dies bedeutet zum einen eine verstärkte Zusammenarbeit zum Beispiel mit Personen, die im Rahmen ihrer sozialen Arbeit in Kiezen unterwegs sind und Anschlüsse herstellen können. Zum anderen sollten wir die Menschen selbst als Teil der Profession der politischen Bildung verstehen.
Für politische Bildung braucht es nicht nur Didaktik, Politikwissenschaft, Pädagogik etc., sondern eben auch die Straße, die Dorfkneipe, die Shisha-Bar, die Betriebe. An diesen Orten liegen die Themen, die Erfahrungen und Konflikte, auf denen politische Bildung aufbaut, an die politische Bildung anknüpft. Wenn wir die Menschen also nicht bewusst als Teil der Profession begreifen und entsprechend unsere Arbeit gestalten, agieren wir sicherlich ein stückweit im luftleeren Raum und müssen zurecht beklagen, dass wir Menschen nicht erreichen.
Bezüglich eines aktiven Parts, den Kinder und Jugendliche beispielsweise in unserer täglichen Arbeit als bpb übernehmen, ist durchaus noch deutlich Luft nach oben. Eine Möglichkeit könnte die Etablierung eines Kinder- und Jugendbeirats sein – als Pendant zum Wissenschaftlichen Beirat. Ein solcher könnte die Angebote der bpb für jüngere Zielgruppen nicht nur zielgerichtet und konstant kritisch begleiten, sondern auch in die Entwicklung neuer Produkte einbezogen werden. Von dieser Expertise würden nicht nur wir als Bundeszentrale profitieren, sondern die junge Zielgruppe insgesamt. Die Mitglieder des Kinder- und Jugendbeirats wiederum könnten im Rahmen dieser Tätigkeit nicht nur wichtige Selbstwirksamkeitserfahrungen sammeln, sondern aktiv an demokratischen Aushandlungsprozessen mitwirken bzw. diese selbst gestalten und Angebote etablieren, die wirklich an ihre Interessen und Lebenswirklichkeiten anknüpfen. Durch einen solchen Schritt würde auch in den Gremien der bpb dokumentiert, was wir in der politischen Bildung insgesamt stärker beherzigen sollten, ebenso wie die krisengeplagte Politik und Gesellschaft: We're all in this together.
So scheint es mir möglich zu sein an den Punkt zu kommen, den ich eben bereits propagiert habe: Politische Bildung ist nicht nur für die Menschen gemacht, sondern auch von ihnen. Lassen Sie mich dazu abschließend eine Anekdote erzählen, die nicht von mir stammt, sondern von der US-amerikanischen Ikone des Feminismus Gloria Steinem.
In ihrer Autobiografie "My Life on the Road" berichtet sie, dass Taxifahrerinnen und Taxifahrer für sie eine der wichtigsten Informationsquelle sind und sie immer versucht mit ihnen ins Gespräch zu kommen, sobald sie ein Taxi besteigt.
"Auch in anderen Städten fiel mir die politische Bildung der Taxifahrer auf. Als ich beispielsweise zu Beginn der Neunzigerjahre in den Zwillingsstädten Minneapolis und St. Paul unterwegs war, sagte mir ein Taxifahrer mit schwedischem Namen voraus, Sharon Sayles Belton würde als erste Afroamerikanerin zur Bürgermeisterin von Minneapolis gewählt werden. Ich hatte ihre Kandidatur als Stadträtin unterstützt, aber schon dieses Amt erschien uns damals unerreichbar. Kein Berufspolitiker und kein Umfrageinstitut räumten Sharon in dieser durch und durch weißen Stadt den Hauch einer Chance ein. Nur mein weiser Taxifahrer, der selbst so blond und blauäugig war wie die Kinder im Dorf der Verdammten sagte: »Wenn ich sie wähle und meine Familie sie wählt und meine Fahrgäste auch, wird sie die Wahl wohl gewinnen«. Er hatte seine eigene kleine Umfrage erhoben, und er hatte recht."
- Es gilt das gesprochene Wort -