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Einstiegsvortrag zum virtuellen Symposium „Von der Kunst zu leben“ des BKK | Presse | bpb.de

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Einstiegsvortrag zum virtuellen Symposium „Von der Kunst zu leben“ des BKK

/ 7 Minuten zu lesen

Am 13.11.2020 hielt Thomas Krüger den Einstiegsvortrag "Von der Kunst zu (über)leben" zum virtuellen Symposium „Von der Kunst zu leben“ des Bundesverbands Bildender Künstlerinnen und Künstler

Sehr geehrte Damen und Herren,

mit dem hier vorgeschlagenen Themenfeld betreten wir eines der heißeren Pflaster im Jahr 2020: Noch vor wenigen Jahren hätte ich mich dazu aus der Perspektive der politischen Bildung mit der nachdrücklichen Betonung der grundgesetzlich verankerten Autonomie der Kunst, der sich daraus ergebenden Freiheit der Künstlerinnen und Künstler und der sich daraus ableitenden besonderen Wichtigkeit der auskömmlichen Finanzierung der Künste befassen können. Ich hätte betont, dass Autonomie aus meiner besonderen Sicht nicht nur eine Freiheit von Politik beinhalten kann, sondern auch eine Freiheit für Politik im Sinne von Kritik. Ich hätte unterstrichen, dass Demokratie diese Kritik braucht und dass es seit der französischen Revolution ein hohes Prinzip der intellektuellen Disziplinen ist, aus einem autonomen Feld heraus auf die politischen und gesellschaftlichen Sphären zu blicken und die Federn oder Pinsel zu schärfen.

Heute zeigen sich uns alle diese Teilaspekte in einem zumindest teilweise anderen Licht. Ich möchte daher die Frage folgendermaßen abändern: Was bedeuten Autonomie, Freiheit und Kritik in der Kunst im Kontext von Corona, Cancel Culture, Bildersturz, rechtpopulistischen Anwürfen und politisch motivierten Morden an Vermittlerinnen und Vermittlern von Bildung und Kunst? Was bedeuten Autonomie, Freiheit und Kritik in einer kulturalisierten Gesellschaft? Wie der Titel der Tagung andeutet, geht es nicht nur um die Frage des Überlebens von Künstlerinnen und Künstlern, sondern es geht auch um die Verfasstheit unserer demokratischen Gesellschaft und um Demokratie als Lebenskunst.

Lassen Sie uns das im Einzelnen kurz kursorisch durchgehen: Die Corona Pandemie hat gezeigt, dass Künstlerinnen und Künstler durch ihre selbständigen Tätigkeiten sehr schnell in existenzielle Nöte geraten. Sie drohen durch die Raster der Hilfsprogramme zu fallen, da das spezifische Verhältnis, in dem sie zu dieser Gesellschaft stehen, weder allgemein verstanden wird, noch die zur Wahrung ihrer Funktionen notwendigen Strukturen krisenfest sind. In den Regierungsbegründungen zum November-Lockdown tauchte zunächst nicht einmal der Begriff Kultureinrichtungen auf, sondern es war von Einrichtungen zur Freizeitgestaltung die Rede. Krisenstrukturell betrachtet wurden Künstlerinnen und Künstler seit dem Frühjahr 2020 meist als so genannte Kleinstunternehmen oder Solo-Selbständige eingeordnet, deren vorwiegend kreativgeistige Tätigkeiten nicht so zubehörintensiv sind – Stichwort Betriebskosten -, dass die für Unter-nehmen gedachten Hilfsmaßnahmen effektiv greifen. Darauf bezogene „Sofortprogramme“ ließen im Frühjahr eine geraume Zeit auf sich warten oder griffen nicht. Für viele blieb und bleibt nur der Verweis auf Jobcenter/ALG 2, was aber wegen der Grundvoraussetzungen nur bei wenigen tatsächlich zum Tragen kam. Die Begriffe und Strukturen, mit denen in Politik und Verwaltung über diese Fragen verhandelt wurden, lassen in keiner Hinsicht darauf schließen, dass die grundgesetzlich festgelegte Funktion von Kunst für die Demokratie auch nur im Ansatz verstanden wird: Vielmehr geht es hier vorrangig um Kreativwirtschaft und Kleinstunternehmen, die gerade so am Leben gehalten werden auf der Basis einer einseitigen Auslegung des Begriffs „Systemrelevanz“. Mir scheint sich hier eine fatale Tendenz abzuzeichnen. Mit der zum Ausdruck gebrachten Distanz zur Ausübung und Rezeption der Künste in der Pandemie, an die sich die Gesellschaft viel zu schnell gewöhnen lässt, droht eine langfristige Abwertung der Künste im öffentlichen Leben. Das wäre ein kapitaler Verlust, der uns und den Verfahren einer liberalen Demokratie noch teuer zu stehen kommen könnte. Die Annahme, dass Kultur nur „nice to have“ ist, ist allerdings in mindestens zwei Hinsichten falsch. Erstens: Systemtheoretisch betrachtet, schafft Kunst sogenannte Beobachtungen zweiter Ordnung und leistet damit etwas, was Gesellschaft und Politik nicht können, nämlich die Schaffung einer spezifischen Wahrnehmungs- und Deutungsebene für die Beurteilung der Krise der Gesellschaft, einer Deutungsebene also, die politischen Entscheidungen zugrunde gelegt werden könnte. Gerade in einer Zeit, in der nicht klar ist, was das faktisch Richtige ist und wo Wirklichkeit in hohem Maße deutungsoffen und ambivalent ist, kann Kunst die Frage nach den gesellschaftlich relevanten Fragestellungen oder Leerstellen in den Vordergrund rücken. Zweitens: Falsch ist auch die Beurteilung von Kunst und Kultureinrichtungen als weniger systemrelevant, wenn man die Wirtschaftsbrille aufsetzt: Wo und nach welchen Prinzipien Wertschöpfung in den letzten Jahrzehnten in entscheidendem Maße stattfindet, sollten eigentlich nicht nur Soziologinnen und Soziologen wissen.

Damit wären wir beim Punkt „Kulturalisierung von Gesellschaft“: Kulturalisierung bedeutet u.a., dass um Wert und Werte, um Deutungen und um Aufmerksamkeit gestritten wird und sich die Gesellschaft entlang dieser Faktoren formiert. Im Kontext dieser Kulturalisierung werden die aktuellen Kämpfe um Denkmäler, öffentliche Gedichte und Karikaturen verstehbarer. Die Symbole historischer Ereignisse bzw. Wertsetzungen oder nicht geteilter Weltanschauungen sollen weg, abgehängt, gestürzt oder übermalt werden. Vermittlerpersonen oder Künstler/-innen, die für die Freiheit des Werkes einstehen, auch wenn dieses für Teile der Gesellschaft verletzende Aspekte beinhaltet, riskieren mittlerweile sehr viel. Wie sind diese Vorgänge aus der Perspektive der politischen Bildung zu beurteilen?

Sämtliche Fälle, über die in den letzten Jahren und gerade aktuell sehr virulent gestritten wird, zeichnen sich durch ein gemeinsames Merkmal aus: Sie sind voraussetzungsreich, komplex, vieldeutig, irritierend, nicht immer leicht zu verstehen und teilweise in einem historischen Kontext verwurzelt, in dem die Prinzipien der Demokratie und der Menschenrechte noch keine erkennbare Rolle gespielt haben. Wir haben es mit so genannten ambigen Situationen zu tun, denen die Bilderstürzer/-innen mit Vereindeutigungsstrategien begegnen: Kolumbus soll als Symbolfigur des Kolonialismus raus aus dem öffentlichen Raum. Politisch ist dies mehr als verständlich, aus der Sicht der politischen Bildung ist Komplexität aber nicht nur mit Blick auf den Wert einer pluralen Gesellschaft ein erhaltenswürdiger Zustand. Gerade unaufgelöste, ambige Situationen sind es, die in ihrer Kontroversität das Potenzial haben, bildsam zu sein. Die Aufbereitung und Rahmung dieser Kontroversität gehört zentral zur Aufgabe politischer Bildung. Sie konfrontiert mit Komplexität im Rahmen einer angeleiteten Lernsituation, die darauf ausgerichtet ist, den lernenden Subjekten Gelegenheit zur Ausbildung kritischer Urteilsfähigkeit zu bieten, mit der die ungefilterte Komplexität der Welt handhabbar wird – und zugleich einen selbstwirksamen Umgang damit zu erlernen, dass sich Kritik und Widerspruch auch gegen die eigenen politischen Positionen und Überzeugungen richten können. So stehen Konfliktaustragung und sozialer Zusammenhalt in enger Beziehung mit der Fähigkeit, Alterität und Ambiguität auszuhalten und auch Phänomene des vor dem eigenen Hintergrund nicht Verstehbaren zu akzeptieren.

Wie sind die oben angerissenen Vorgänge aus dem Blickwinkel der Kunstfreiheit und Autonomie zu beurteilen? Künstlerinnen und Künstler sind in den letzten Jahren wieder sehr viel politischer geworden. Dies impliziert zunächst, aus einer geschützten, autonomen Sphäre heraus gesellschafts- und herrschaftskritisch zu sein. Dabei frei zu sein, bedeutet u.a., ohne Einschränkung agieren zu können. Dies unterscheidet Künstler/-innen und Intellektuelle von gewählten Politikerinnen und Politikern, die ihre Entscheidungen idealerweise mit Verantwortung „für alle“ treffen sollten. Wie kann vor diesem Hintergrund eine Argumentation für die prinzipielle Kunstfreiheit aussehen und wie kann sie praktisch gelebt werden?

Am bequemsten für die Gesellschaft wäre eine Beibehaltung der Kunstfreiheit als Prinzip, aber eine begnügsame Selbstbeschränkung der Künstlerinnen und Künstler auf Positionen, die niemandem auf die Füße treten. Viele Künstlerinnen und Künstler – schauen wir beispielsweise auf Österreich, wo die Rechtspopulisten in der Regierung saßen - haben bereits das Erwartbare getan und das Minenfeld verlassen. Eine möglicherweise interessante Perspektive könnte sein: Im Sinne der eingangs erwähnten These, dass Kunst Beobachtungen zweiter Ordnung in die Gesellschaft einbringt und damit gesellschaftliche Wirklichkeit mit gestaltet, könnten Künstlerinnen und Künstler ihre eigenen Deutungen der beschriebenen kulturalisierten Konflikte liefern und den Kontroversen eine Bühne geben. Raushalten aus den postkolonialen Debatten und Haltung zeigen gegen rechts – dies sind keine künstlerischen Strategien, sondern persönliche Ansätze zum Umgang mit der Krise des Politischen. Sie werden mir entgegenhalten, dass Kunst immer schon den Finger in die Wunden legt und „gefährliche Begegnungen“ (Bude) schafft. Hier möchte ich teilweise widersprechen, weil wir es mit anderen Wunden zu tun haben als in der klassischen Moderne und die oben erwähnte Ambiguitätstoleranz der aktuellen Gesellschaft nicht sehr ausgeprägt ist. Man muss dazu nicht nur mit dem Finger auf rechtpopulistische Politikakteure und ihre Vereindeutigungsstrategien zeigen, sondern auch in der Kunst boomt das leicht Lesbare. Nicht mehr die Beobachtungen zweiter Ordnung, das Mimetische im Theater, das Verfremdete in der bildenden Kunst, die Montage im Film werden als wirklichkeitsentlarvend betrachtet, sondern das Dokumentierende, z.B. das dokumentarische Theater oder das personal storytelling in der Literatur gelten als besonders authentisch. Ich habe da keine prinzipiellen Einwände, würde aber demgegenüber gerne die spezifischen Mittel der Kunst wieder stärker in den Blick rücken und damit auch deren demokratisches Potenzial in den Vordergrund stellen: Dass Kunst ambig sein darf, ist ein Zeichen, dass die sie umgebende Politik demokratisch ist.

Kunst – und dies soll meine abschließende Bemerkung sein – ist in der Spätmoderne nicht nur autonom, sondern auch sozial! Künstlerinnen und Künstler agieren und produzieren nicht im luftleeren Raum, sondern sie kommunizieren in zunehmender Intensität mit ihrem Publikum. Dieses Publikum ist dabei nicht nur passiver Empfänger, sondern Koproduzent von Kunst, aber auch von Bedeutungszuweisungen in ambigen sozialen Situationen. Auch wenn einige Künstlerinnen und Künstler in den letzten Jahren durch spektakuläre und extrem politische, aber einsame Aktionen öffentlich aufgefallen sind, neigt sich aus meiner Perspektive die Periode einer neoliberalen Zeit starker Einzelkämpfer dem Ende zu. Was durch die Corona-Pandemie noch einmal besonders deutlich wurde ist, dass wir uns in einer Zeit des Übergangs befinden, an deren Ende eine gesellschaftliche Neuorientierung stehen kann. Es zeichnet sich bereits jetzt ab, dass viele politische Positionen, die heute Zulauf bekommen, nur Symptom der Krise, nicht aber Träger von Zukunftsideen sind. Eine Gesellschaft, die in der Krise ihre künstlerischen Potenziale stilllegt, wird es bei der Entwicklung von Utopien schwer haben. Wir brauchen deshalb die mit den Mitteln der Künste gestalteten Möglichkeitsräume, um über den Tellerrand der alltäglichen Krise zu schauen. Die Künste vermögen wie kaum etwas anderes unsere Blicke zu öffnen und unsere Sinne zu weiten für eine noch unbuchstabierte Zukunft.

- Es gilt das gesprochene Wort -

Fussnoten