Meine sehr geehrten Damen und Herren,
vor kaum mehr als zwei Wochen – am Morgen des 15. Januar – entdeckte eine Mitarbeiterin des Bundestagsabgeordneten Karamba Diaby in den Fensterscheiben seines Wahlkreisbüros in Halle an der Saale mehrere Löcher, die aller Wahrscheinlichkeit nach von Schusswaffen stammen. Diaby, der gebürtig aus dem Senegal stammt und seit 1985 in Deutschland lebt, schreibt auf seiner eigenen Website mit unverkennbarem Stolz, dass er „2013 als erster in Afrika geborener Schwarzer Mensch in den Deutschen Bundestag gewählt“ wurde. Er ist immer wieder Beleidigungen und Hassrede ausgesetzt. Vor kurzem wurde bekannt, dass Diaby von Rechtsradikalen mit dem Leben bedroht wird. Die Einschüsse am Wahlkreisbüro Diabys, drei Monate nach dem Anschlag auf eine Synagoge in Halle, zeugen von einer Form der Konfliktaustragung, die unserer Vorstellung von gesellschaftlichem Miteinander diametral entgegensteht. Und sie hat ihre Wurzeln in einer Veränderung des gesellschaftlichen Diskursklimas. Hierzu möchte ich Ihnen eine Äußerung Diabys aus einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung zitieren: „Ich beobachte, dass seit zwei, drei Jahren der Ton rauer geworden ist. Und wir können alle gemeinsam beobachten, wie in den Parlamenten die Redebeiträge von einigen Politikern aggressiver werden. Wie zum Teil auch herabwürdigende und menschenverachtende Ausdrücke gegenüber Minderheiten benutzt werden. Das ist ein Nährboden für die Gewalt auf den Straßen.
Karamba Diaby macht deutlich, dass die Konflikte in unserer Gesellschaft und der zunehmende Gebrauch menschenverachtender Sprache vermehrt auch in handgreifliche Gewalt gegen Menschen münden, sei es weil diese sich in irgendeinem Merkmal von der sogenannten Mehrheitsgesellschaft unterscheiden, sei es weil sie sich als Politikerinnen und Politiker fürs Gemeinwohl engagieren. Davon zeugen bundesweit über 1200 politisch motivierte Straftaten gegen Amts- und MandatsträgerInnen im vergangenen Jahr. Allein acht Prozent der BürgermeisterInnen berichteten 2019 über Gewaltattacken. Trauriger Höhepunkt dieser Attacken war im vergangenen Jahr der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, eine Tat, die das Hessische Landeskriminalamt mittlerweile als rechtsextrem motiviert einstuft.
Der Ton in der Auseinandersetzung wird rauer, die Angriffe nehmen zu – auf RepräsentantInnen des Staates und auf Menschen, die als nicht zur Mehrheitsgesellschaft zugehörig markiert werden. Viele Stimmen rufen in dieser Situation nach der politischen Bildung, die einmal mehr als „Feuerlöscher“ agieren soll. Und sie tun dies zurecht, auch wenn sich die Akteurinnen und Akteure in der politischen Bildung nur sehr ungern als Feuerwehrleute anstellen lassen und viel lieber als Gärtnerinnen oder als Architekten tätig sind, um mal zwei andere – hoffentlich nicht zu schiefe – Bilder zu verwenden. Dennoch: Wenn es brennt, muss gelöscht werden. Für die Arbeit der politischen Bildnerinnen und Bildner bedeutet das, sich immer wieder ein Bild von diesem Haus – unserer Gesellschaft – zu machen und zu verstehen, wodurch ein möglicher Brand beschleunigt wird. Es gilt also zum einen, unsere komplexe Gesellschaft und ihre Entwicklung so gut es geht in den Blick zu nehmen. Zum anderen ist es wichtig, zu klären, wovon wir überhaupt sprechen, wenn es um Konflikte in der Demokratie geht. Lassen Sie mich also zuerst ein paar Worte zu den Begriffen Konflikt und Konsens und zu gegenwärtigen Entwicklungen unserer Gesellschaft sagen, bevor ich mich der politischen Bildung zuwende, um mit Ihnen darüber dann hoffentlich ins Gespräch zu kommen.
Was ist ein Konflikt? Zunächst einmal resultiert er aus der Begegnung zwischen einzelnen Menschen oder Gruppen mit gegensätzlichen Werten, Interessen oder Zielen. Er entsteht aus „miteinander unvereinbaren Zielvorstellungen“, wie der norwegische Konflikt- und Friedensforscher Johan Galtung treffend bemerkt. Das Erreichen des einen Zieles schließt also das Erreichen des anderen aus.
Bei Wertekonflikten stehen oft verschiedene Wertesysteme miteinander im Streit, wie wir es erst kürzlich in den Auseinandersetzungen um die Reform der Organspenderegeln oder beim Streit um die Pränataldiagnostik – Stichwort: Bluttest auf Down-Syndrom – gesehen haben. Ein solcher Wertekonflikt findet momentan auch vor dem Hintergrund des voranschreitenden Klimawandels statt, wenn gesellschaftlich tief verankerte Lebensweisen mit den Forderungen nach einem nachhaltigen Leben und Wirtschaften konfligieren – SUV gegen ÖPNV, Fleisch aus Massentierhaltung gegen selbstangebautes Gemüse, Hyperkonsum gegen bewussten Verzicht, um hier nur einige Schauplätze des Konflikts zu nennen. Wertekonflikte finden wir häufig dort, wo moralische Systeme involviert sind, die für sich selbst Absolutheit beanspruchen, wie es bei vielen Religionen oder Ideologien der Fall ist.
Meist finden wir in unserem Privatleben wie auch in der Gesellschaft gute Wege, mit Konflikten umzugehen. „Gut“ bedeutet dabei: Die Beteiligten gehen dafür ein paar Schritte aufeinander zu, machen Abstriche und Zugeständnisse und einigen sich auf ein Ergebnis, mit dem sich alle arrangieren können, ohne dass sie dafür ihren ursprünglichen Standpunkt aufgeben müssen. Manchmal diskutieren die Beteiligten dafür auch so lange, bis sich die meisten mit der gemeinsam gefundenen Lösung identifizieren können und so ihre Ausgangspunkte zugunsten eines neuen – gemeinschaftsorientierten – Standpunktes verlassen. Im ersten Fall sprechen wir bekanntlich von einem Kompromiss, im zweiten von einem Konsens. Während beim Kompromiss die ursprüngliche Unvereinbarkeit der Standpunkte – also der Gegensatz – durchaus erhalten bleiben darf und damit auch kommende Konflikte gewissermaßen „miteingepreist“ sind, strebt der Konsens die Aufhebung des Konflikts an, indem auf eine Übereinstimmung in Meinungen und Zielen hingearbeitet wird.
Angesichts der von mir eingangs als konflikthaft skizzierten gesellschaftlichen Gegenwart erscheint Orientierung auf einen Konsens jedoch als ein hehres, ja geradezu utopisches Anliegen. Vor diesem Hintergrund mag die Konsensorientierung in der deliberativen Demokratietheorie von Jürgen Habermas zunächst als etwas realitätsfremd erscheinen. Andererseits weiß Habermas als Soziologe um unsere gesellschaftliche Wirklichkeit nur zu gut und ist darüber im Bilde, dass ein Konsens in den meisten Fällen kaum realisierbar ist. Allerdings ist er der Überzeugung, dass der Diskurs dennoch stets so geführt werden sollte, als wäre ein Konsens möglich. Insofern ist seine Vorstellung vom rational ausgehandelten Konsens als Ziel demokratischer Verfahren wohl eher als eine „regulative Idee“ im Sinne Immanuel Kants zu verstehen, also als ein Ziel, das wir zwar nie ganz erreichen, das uns aber dennoch die für unser Handeln notwendige Orientierung gibt.
Die belgische Politologin Chantal Mouffe wiederum wendet sich ausdrücklich gegen die Lesart, den Konsens als regulative Idee von Politik zu betrachten. Ihr zufolge könne die völlige Auflösung eines Konflikts nie das Ziel sein, vielmehr gelte es, den Dissens zu wahren, wenn sie betont: „Konsens ist das Ende der Politik“. Es gehe nicht darum, Antagonismen zu überwinden, sondern darum, sie zu akzeptieren und zu zähmen ohne die zugrundeliegenden Gegensätze aufzuheben. Denn, so unvermeidbar Konflikte im menschlichen Zusammenleben sind, so unabdingbar sind sie zugleich für dessen Funktionieren. Wir können Konflikte mit Chantal Mouffe sogar als Katalysatoren gesellschaftlichen Fortschritts verstehen: Die Gleichstellung verschiedener ethnischer, sexueller und religiöser Gruppen im Rahmen der Bürgerrechtsbewegung in den USA scheint ihr hier recht zu geben – und auch die Friedliche Revolution vor 30 Jahren in Deutschland vermag diese Interpretation zu stützen. Denn ohne offenen Konflikt, ohne scharfe Auseinandersetzung zwischen grundsätzlich konträren Positionen hätte es wohl weder im einem noch im anderen Fall echten Fortschritt gegeben. Aber selbst wenn wir den geschichtsphilosophisch konnotierten Begriff des Fortschritts nicht verwenden möchten, können wir mit Morton Deutsch einige wichtige Funktionen des Konflikts konstatieren: „Er verhindert Stagna-tion, regt Interesse und Neugierde an; er ist das Medium, durch das Probleme aufgezeigt und Lösungen gefunden werden können; er ist die Wurzel persönlicher und gesellschaftlicher Veränderungen.“
Das Fehlen von Konflikten ist auch keineswegs ein Beleg für die Stabilität einer Beziehung oder des gesellschaftlichen Zusammenhalts, im Gegenteil. Vielmehr sollte man echte Stabilität darin sehen, dass Konflikte auf produktive Art und Weise – nicht zwingend gelöst, aber: bearbeitet werden. Der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller erinnerte erst kürzlich daran, dass demokratische Politik keine Konsensveranstaltung ist. Für ihn bedeuten die gegenwärtig zu beobachtenden Spaltungen nicht automatisch eine Gefahr für die Demokratie: „Im Gegenteil, die Pointe der Demokratie ist, dass sie es ermöglicht, mit Konflikten auf zivile Weise umzugehen, sodass auch die Verlierer weder Gesicht noch Hoffnung verlieren.“
Worauf es bei alldem also ankommt, ist der Modus der Konfliktbearbeitung, die Art und Weise, wie wir mit den Konflikten umgehen. In jedem Beziehungsratgeber werden Sie nachlesen können, dass Sie Konflikten in einer Beziehung nicht aus dem Weg gehen sollten, sondern diese (unter Befolgung sinnvoller Regeln) austragen müssen. Und darin steckt auf gesellschaftlicher Ebene gerade die Idee, ja das Versprechen der Demokratie: dass die immer bereits vorhandenen Konflikte nicht einfach ignoriert oder unterdrückt werden, sondern dass diese auf dem Wege des Miteinanders für eine gewaltfreie Entwicklung der Gesellschaft fruchtbar gemacht werden können. Die Demokratie ist in diesem Sinne per definitionem der Hort des Streits, wie auch schon Helmut Schmidt bemerkt hat: „Eine Demokratie, in der nicht gestritten wird, ist keine.“ Nur solche Gesellschaften, in denen Modi zivilisierter öffentlicher Konfliktbearbeitung eingeübt sind, können Meinungsverschiedenheiten produktiv nutzen; in autoritären Staaten werden öffentliche Konflikte meist schon im Keim unterdrückt – der vermeintliche Konsens ist dann in Wirklichkeit ein tabuisierter Dissens – denken Sie an die fehlende Reisefreiheit in der DDR.
Ein zivilisiert ausgetragener Konflikt wird also in den seltensten Fällen – weder in der Beziehung, noch in der Gesellschaft – in einen Konsens münden, zumeist steht am Ende eher ein vorübergehender Kompromiss. Zugleich sind sich Politikwissenschaft und Philosophie weitestgehend einig darin, dass die friedliche Austragung von Konflikten in einer Demokratie immer auf einen gesellschaftlichen Grundkonsens angewiesen ist. So betont Siegfried Schiele, der langjährige Direktor der Landeszentrale für politische Bildung in Baden-Württemberg: „Je mehr gestritten wird, ohne dass die Grundlagen des Systems in Frage gestellt werden, desto deutlicher ist das ein Zeichen dafür, dass die Spannung zwischen Konsens und Konflikt intakt ist.“
Wenn wir der Diagnose von Karamba Diaby folgen, wonach der Ton in der Austragung von Konflikten rauer geworden ist und die Zunahme an Gewalttaten damit in unmittelbarem Zusammenhang steht, dann führt uns dies vor Augen, dass gegenwärtig der Grundkonsens darüber, wie in unserer Demokratie Konflikte ausgetragen werden können, herausgefordert wird: Die Konflikte sind umso heftiger und grundsätzlicher, wenn der Modus der Konfliktbearbeitung auf dem Spiel steht. Wenn es aber Konflikte schon immer gegeben hat und diese für Dynamik und eine lebendige Demokratie sorgen – kurz einen großen gesellschaftlichen Nutzen haben: Was macht die Situation dann heute so kompliziert und mitunter problematisch? Was sorgt dafür, dass immer wieder die „Grundlagen des Systems“ in Frage gestellt werden? Ich denke, es gibt in der heutigen Situation einige Besonderheiten, die miteinander verwoben sind und die die Konfliktfähigkeit in der komplexen Demokratie – oder wenn sie so wollen, ihre Konfliktbearbeitungskompetenz – vielerorts auf die Probe stellen. Zunächst ist da die wachsende Heterogenität. Wir leben heute – um mit dem Soziologen Steven Vertovec zu sprechen – in einer Gesellschaft der „Super-Diversität“: Die Menschen unterscheiden sich dabei in zunehmenden Maße in ihrer Herkunft und Orientierung: Mit dem Migrationspädagogen Paul Mecheril sprechen wir weniger von einer „Einwanderungs-“ als vielmehr von einer „Migrationsgesellschaft“, die geprägt ist sowohl von „erzwungener“ als auch von „freiwilliger“ Migration: Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union bewegen sich frei zwischen den Ländergrenzen, arbeiten und leben an verschiedenen Orten. Zugleich prägt die Aufnahme von Geflüchteten in Zeiten von Krisen und Kriegen unsere Gesellschaft.
Aber die Menschen unterscheiden sich eben keineswegs nur nach ihrer Herkunft, sondern nach unzähligen Merkmalen: dazu zählen Religion, Bildungsgrad, Alter, Gender, Sozialisierung im urbanen oder ländlichen Raum, ökonomischer Status, Berufsausbildung, Berufstätigkeit, Lebensstil, Familienstand, Konsumwünsche, Musikgeschmack. Vielleicht ist dabei der nebensächlich erscheinende letztgenannte Punkt manchen Menschjen sogar am wichtigsten, denn für manch einen Jugendlichen spielt es heute weniger eine Rolle, ob jemand aus Cottbus oder aus Köln, aus Aleppo oder aus Ankara kommt, sondern ob er lieber Capital Bra oder eher die Antilopengang hört. Unter uns: So war das doch eigentlich früher auch, nur dass da die Frage „Beatles oder Stones?“ lautete.
Wir leben also in einer superdiversen Gesellschaft. Dass eine solche ein höheres Konfliktpotential in sich birgt, ist für den Soziologen Aladin El-Mafaalani nicht weiter verwunderlich – zumindest dann, wenn bisher nicht oder kaum repräsentierte Gruppen die ihnen zustehenden Teilhaberechte tatsächlich nutzen können: „Je besser die Menschen integriert sind, desto stärker wollen sie die Gesellschaft auch aktiv mitgestalten. Wenn mehr am Tisch sitzen, die mitreden und -entscheiden wollen, steigert das das Stresspotential. Und damit steigt auch das Potential für Ressourcen-, Interessens- und Alltagskonflikte.“
Es lassen sich noch weitere Trends in unserer gesellschaftlichen Entwicklung konstatieren. Wir leben demnach nicht nur in einer „Gesellschaft der Super-Diversität“, sondern auch in einer „Gesellschaft der Singularitäten“, wie der Soziologe Andreas Reckwitz die wachsende Vereinzelung und Abkapselung der Individuen in der Spätmodernen beschreibt. Wir leben mit Hartmut Rosa in einer „Beschleunigungsgesellschaft“, die auf den Einzelnen mit zunehmendem Optimierungsdruck und Begleiterscheinungen wie Empathieverlust und Egoismus einwirkt. Und wir leben in einer Gesellschaft der getrennten Welten, wenn wir dem Sozialwissenschaftler Michael Zürn Glauben schenken. Ihm zufolge verläuft heute eine gesellschaftliche Bruchlinie zwischen den eher weltoffenen, urbanen Kosmopoliten einerseits und den sich eher abschottenden, ländlicheren Kommunitaristen andererseits, deren Welten sich vermeintlich derart voneinander unterscheiden, dass weder Begegnungs- noch Aushandlungsräume zwischen ihnen vorhanden zu sein scheinen.
Auch die umfassende Digitalisierung aller Lebensbereiche ist natürlich ein solcher „Megatrend“. Dabei müssen wir wohl oder übel feststellen, dass die Digitalisierung ihr utopisches Potential im Hinblick auf die Demokratie bislang nicht oder nur zum kleinsten Teil eingelöst hat. Stattdessen hat sie negative Phänomene befördert oder zumindest deren Verbreitung erleichtert: So gibt es Hate-Speech natürlich schon lange, bekannt als „Hassrede“, „Volksverhetzung“ oder „üble Nachrede“. Neu ist aber die nahezu epidemische Verbreitung, die eben heutzutage vor allem im Netz stattfindet: So erhält Karamba Diaby nach eigenen Angaben „zwei bis drei Hass-Mails und Beleidigungen pro Tag“. Amts- und Mandatsträgerinnen könnten mit den Beleidigungen aus Sozialen Netzwerken ganze Bücher füllen. Die Rechtsprechung reagiert hier nur langsam, wie der Fall der Bundestagsabgeordneten Renate Künast zeigt, die wüsten Beschimpfungen ausgesetzt war und sich gerichtlich erst in zweiter Instanz dagegen wehren konnte. In seinem Buch „Die große Gereiztheit“ spricht der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen daher heute in Zeiten digitaler Medien von einer „Empörungsdemokratie“ und den bedrohlichen Begleiterscheinungen eines „kommunikativen Klimawandels“.
All diese Phänomene – ob Digitalisierung, Abschottung der Milieus oder die zunehmende Heterogenität – stellen die Konfliktfähigkeit unserer Gesellschaft heute auf eine große Probe. Meines Erachtens ist und bleibt deshalb die „gärtnerische oder architektonische“ Investition in politische Bildung ein wichtiges Mittel gegen die Verrohung unserer Konfliktbearbeitungsmodi, und mithin gegen verbale wie handgreifliche Gewalt wie im Fall von Karamba Diaby. Wie aber sollte politische Bildung konkret aussehen, damit sie den bislang geschilderten Phänomenen Rechnung trägt? Wie sollen wir in der politischen Bildung mit dem Spagat zwischen Konflikt und Konsens umgehen?
Über diese Frage streitet die Politikdidaktik freilich nicht erst seit gestern; das Spannungsverhältnis zwischen „Konflikt“ und „Konsens“ meint insofern nicht nur einen Forschungsgegenstand der politischen Bildung, sondern betrifft auch die Profession selbst, wie ein kurzer Blick in die Geschichte zeigt. Auch die politische Bildung wurde bis in die 1970er Jahre von den Grabenkämpfen erfasst, die das gesellschaftliche und politische Klima mit Beginn der 68er-Revolution kennzeichnete: Die Herausforderer der Ordnung, die sich selbst als „emanzipatorische Befreier“ und „ideologiekritische“ Bewahrerinnen der Demokratie gegen eine von „Systemapologeten“ betriebene „missionarische“ politische Bildung verstanden, wurden von der Gegenseite wiederum als kommunistische Umstürzlerinnen nach Art der Frankfurter Schule verschrien, mit denen kein Staat zu machen war.
Dieser Konflikt über die Grundlagen und Zielsetzungen politischer Bildung durchzog die Tagungen der Profession auf Bundes- und Länderebene bis 1976. Das Protokoll einer in jenem Jahr von der Landeszentrale Baden-Württemberg organisierten Tagung sollte aber bald zum heute noch gültigen Schlüsseldokument der politischen Bildung avancieren: Der „Beutelsbacher Konsens“. Dabei handelte und handelt es sich um einen Minimalkonsens, wie der Politikdidaktiker Bernhard Sutor betonte, und nicht um das Ende aller Konflikte: „Minimalkonsens hieß - was allen Beteiligten klar war -, dass Dissens in Wissenschaft und Politik und also auch in politischer Bildung selbstverständlich ist. Es ging daher nicht um einen Konsens zwischen den konkurrierenden Konzepten politischer Bildung, sondern um Regeln für die pädagogische Praxis, die unter einem öffentlichen Auftrag steht.“
Was besagt nun dieser Minimalkonsens? Er umfasst drei Prinzipien politischer Bildung, die heute in der schulischen wie außerschulischen Jugend- und Erwachsenenbildung weitestgehende Anerkennung genießen: Das Überwältigungsverbot verbietet Überrumpelung und Indoktrination der Adressat/innen; das Befähigungsgebot gebietet, die Schülerinnen und Schüler in die Lage zu versetzen, eine politische Situation zu analysieren und ihr Eigeninteresse in dieser Situation zu erfassen. Das Prinzip, das ich hier in den Mittelpunkt rücken möchte, ist das Kontroversitätsgebot, da es insbesondere mit Blick auf das Spannungsverhältnis von Konflikt und Konsens interessant ist. Das Kontroversitätsgebot verlangt, wissenschaftlich und politisch Kontroverses auch in der Bildungsarbeit als kontrovers darzustellen. Es gilt also, in der politischen Bildung keinen „falschen“ gesellschaftlichen Konsens vorzutäuschen, wo es diesen nicht gibt, sondern stets die gesellschaftliche Pluralität an Werten, Einstellungen und Meinungen abzubilden. Das bedeutet vor allem, mehr als nur eine Perspektive zu Wort kommen zu lassen, und stets einen möglichst repräsentativen Querschnitt durch die Meinungslandschaft abzubilden. Der Politikdidaktiker Siegfried George fordert hier eine „Kultur des Dissenses“, also eine Kultur, „welche die gravierenden Konflikte und Widersprüche unserer Zeit thematisiert“.
Gegen eine ganz bestimmte Lesart möchte ich mich hier aber entschieden verwahren. So darf der Beutelsbacher Konsens keinesfalls im Sinne eines vermeintlichen „Neutralitätsgebots“ missverstanden werden, wonach Pädagoginnen und Lehrkräfte sich „unpolitisch“ oder gar „völlig“ neutral zu verhalten hätten. Das würde in der Schule eine Art „unpolitischen Politikunterricht“ bedeuten, der nicht wünschenswert sein kann. Im von der Bundeszentrale herausgegebenen Schriftenreihe-Band „Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens?“ konstatiert hierzu Astrid Hoffmann: „Das Missverständnis, der Beutelsbacher Konsens beinhalte ein Neutralitätsgebot, basiert auf der falschen Annahme, dass politische Neutralität überhaupt möglich ist“. Wenn sich die politische Bildung als Teil der demokratisch-politischen Kultur unseres Landes versteht, dann sollte sie also, in den Worten des Politikdidaktikers Wolfgang Sander, „mit demokratischen Mitteln an der Erhaltung und Weiterentwicklung der Demokratie mitwirken“.
Neutralität hätte hier die gleiche fatale Wirkung wie die uneingeschränkte Toleranz, von der Karl Popper in seinem „Paradoxon der Toleranz“ spricht: „Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. Denn […] wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen“. Um es mit den Worten von Aleida und Jan Assmann zu sagen: „Nicht jede Gegenstimme verdient Respekt. Sie verliert diesen Respekt, wenn sie darauf zielt, die Grundlagen für Meinungsvielfalt zu untergraben.“ Ähnlich argumentiert die Dresdner Politikdidaktikerin Anja Besand, wenn sie betont, dass wir als politische Bilderinnen keineswegs allen Positionen Gehör verschaffen müssen oder gar sollten: „Nicht jede Kontroverse, die gesellschaftlich existiert, muss im schulischen Kontext reflektiert und gleichberechtigt behandelt werden. In Schule und politischer Bildung geht es vielmehr um die Vermittlung pluralistischer, demokratischer und menschenrechtsorientierter Haltungen und Werte“.
Aus dem Kontroversitätsgebot ergibt sich also nicht die Vorgabe, rassistische und rechtsextreme Positionen als gleichberechtigte legitime Positionen darzustellen. Denn: Rassistische Positionen stellen die Idee der universell geltenden Menschenwürde in Frage, die in Artikel 1 des Grundgesetzes mit Ewigkeitsklausel verankert ist. Wenn es um Kontroversität in der politischen Bildung geht, sind Lehrerinnen und Lehrer in eben diesem Sinne auch nicht verpflichtet, Schülerinnen und Schüler darauf hinzuweisen, dass es auch Menschen gibt, die den Holocaust leugnen. Sie müssen keine extremistischen oder radikalen Positionen in ihren Unterricht einbringen, wenn diese nicht von alleine dort vorkommen.“
Ich möchte Sie hier auch noch auf einen zweiten Aspekt hinweisen, der mir bei der Interpretation des Beutelsbacher Konsenses wichtig ist. Ich habe bereits gesagt, dass uns das Kontroversitätsgebot darauf verweist, keinen „falschen“ gesellschaftlichen Konsens zu vermitteln. Einen „falschen“ Konsens vermitteln muss aber nicht bedeuten, lediglich eine Position als richtig oder vernünftig darzustellen. Einen „falschen“ Konsens vermitteln kann auch heißen, nur ein ganz bestimmtes Spektrum an Positionen innerhalb bestimmter Grenzen als vernünftig darzustellen und andere auszuschließen. Daher sollten auch diese Fragen gestellt werden: Welche Themen fehlen in den Debatten? Welche Stimmen fehlen in den Debatten? Welche Positionen sind unterrepräsentiert?
Deshalb regt die radikaldemokratische Perspektive der politischen Bildung dazu an, nicht bloß die Kontroversität zu vermitteln, die in den Grenzen eines etablierten Konsenses besteht, sondern auch jene Kontroversität, die jenseits der Grenzen dieses (vermeintlichen) oder öffentlich wahrnehmbaren Konsenses liegt. Gegen eine Fehlinterpretation dieser Aussage möchte ich meine Rede hier gleich imprägnieren – und mit dem folgenden Zitat von Siegfried Schiele knüpfe ich zugleich an meine Ausführungen zum vermeintlichen Neutralitätsgebot an: „Die Freiheit und Offenheit unseres Systems selbst sollen zwar diskutiert, aber nicht als Kontroverse in die politische Bildungsarbeit eingebracht werden“. Mit der Kontroversität „jenseits“ der Grenzen des etablierten Konsenses meine ich, wie soeben skizziert, also keineswegs solche Positionen, die sich gegen unsere Grundwerte richten: Ich meine damit solche, die im Diskurs kaum Gehör finden.
Politische Bildung in dieser Lesart zielt also auch darauf ab, ihre Adressaten dazu zu befähigen, die Grenzen eines Diskurses zu reflektieren und z.B. die Frage zu stellen: „Wer ist von einer Sache betroffen, wird aber nicht gehört oder hat keine wirksame Stimme?“. Die Politikwissenschaftlerin Manon Westphal veranschaulicht dies, wenn sie fragt: „Wo werden Geflüchtete in der Debatte über Familiennachzug gehört? Wie ist die junge Generation in die Debatte über die Zukunft des Rentensystems einbezogen?“. Oder, so ließe sich hinzufügen: Wo war die junge Generation in die Debatte über den Klimawandel involviert, bis sie sich selbst Gehör verschaffte?
„Gute“ politische Bildung in diesem Sinne umzusetzen ist Aufgabe der außerschulischen wie auch der schulischen Bildung gleichermaßen. Sie findet also zum Beispiel an Volkshochschulen wie der hiesigen, in Jugendzentren wie auch an Regelschulen statt. Letztere haben jedoch einer aktuellen Studie der Friedrich Ebert Stiftung zufolge eine Schlagseite dahingehend, dass Gymnasiast/innen statistisch deutlich häufiger in den Genuss von qualitativ hochwertiger politischer Bildung kommen als die Schüler/innen an anderen allgemeinbildenden Schulen.
Als etwas Politisches verstehen wir jedoch weit mehr als die Institutionenkunde, in deren Genuss vor allem die Gymnasiastinnen und Gymnasiasten kommen. Mit der Politikdidaktikerin Bettina Lösch möchte ich für einen erweiterten Politikbegriff werben. Weil das Politische nicht immer so einfach festzumachen ist, gilt es ganz konkrete Fragen zu stellen: Wer hat zu welcher Zeit und in welchem Kontext politische Handlungs- und Entscheidungsmacht und wer nicht? Wer kann Einfluss nehmen? Einfluss nehmen bedeutet dabei auch, alltägliches Handeln als politisch zu begreifen – etwa wenn wir im Supermarkt eine Konsumentscheidung treffen.
Des Weiteren sollten wir uns fragen: Wann wird eine Gruppe, ein Prozess oder Diskurs als politisch und legitim anerkannt, wann wird dies verweigert und wer hat die Deutungshoheit darüber? Diese Frage wird derzeit besonders mit Blick auf die soeben angesprochenen linksliberal eingestellten Kosmopoliten diskutiert, denen mitunter vorgeworfen wird, den öffentlichen Diskurs zu dominieren, während andere Teile der Gesellschaft diesem nicht mehr folgen könnten oder mitunter auch nicht wollten. Gleichzeitig sind sie es, die Fragen von Herrschafts-, Macht-, Ungleichheits-, Diskriminierungs-, Ausschluss- und Ausbeutungsprozessen sichtbar machen, ihre Verschleierung und Tabuisierung thematisieren. Derartige Diskurse sind komplex und selbstverständlich anstrengend, doch darf dabei nicht vergessen werden, wie wichtig und fruchtbar sie für eine Demokratie sind. Dieser Aushandlungsprozess hilft uns nicht nur dabei, die gesellschaftliche Gemengelage zu verstehen. Vielmehr kann er auch den Ausgangspunkt darstellen, um im gemeinsamen Verhandeln der Positionen Ausschlussmechanismen zu überwinden, statt neue zu kreieren. Die Forderung nach Teilhabe muss dabei alle gleichermaßen einbeziehen: Berufsaktive wie Rentner/-innen, Menschen mit und ohne Migrationshintergrund, sozioökonomisch stärker oder weniger privilegierte Bürger/innen.
Dazu zählt in der politischen Bildung natürlich auch, Menschen in ihren unterschiedlichen Lebenswelten anzusprechen, etwa indem wir eher strukturschwache Regionen auf dem Schirm haben, also zum Beispiel rund um die ehemaligen Braunkohletagebaue im Rheinischen, Mitteldeutschen und Lausitzer Revier. Insbesondere letztere werden wir als Bundeszentrale dank neuer Ressourcen zukünftig verstärkt in den Blick nehmen. So können wir dem Problem entgegen wirken, dass bestimmte politische Debatten in urbanen Regionen als selbstverständlich gelten, während in ländlichen und vom Strukturwandel betroffenen Räumen ganz andere Themen auf der Agenda stehen. Zugleich können wir auf diesem Wege die ostdeutsche Perspektive stärken, die in vielen gesellschaftlichen Debatten unterrepräsentiert ist.
Letztlich heißt der Einschluss von Menschen in den Diskurs natürlich auch, dass politische Bildung der Zivilgesellschaft überhaupt erst einmal Räume eröffnen muss, um zivilgesellschaftliche Konflikte auszuhandeln und sich so im Streit zu üben. Das Ziel muss lauten: Ins Gespräch kommen, Kontakte herstellen, Sensibilität für das Gegenüber gewinnen. Die Bundeszentrale bringt hier immer wieder Gruppen miteinander ins Gespräch, die sich sonst mit Unverständnis gegenüberstehen. Das Projekt „Zwischen Konflikt und Konsens“ – welches nur zufällig so lautet wie der Titel meines Vortrags – bringt beispielsweise seit vielen Jahren Polizeibeamte und zivilgesellschaftliche Akteurinnen in einen Dialog; letztere stammen häufig aus Initiativen, Vereinen und Bündnissen gegen Rechtsextremismus, die Demo-Erfahrung mitbringen und ihre DialogpartnerInnen sonst nur in Uniform kennen. Die Modulare Fortbildung greift damit einen Vorschlag des NSU-Untersuchungsausschusses aus dem August 2013 auf, den Austausch zwischen Polizei und Zivilgesellschaft zu verbessern. Die Resonanz ist ebenso positiv wie auch bei einem ähnlich gelagerten Projekt der Bundeszentrale, den „Bensberger Gesprächen“, mit denen wir Zivilgesellschaft und Bundeswehr in einen Austausch bringen. Ein weiteres Beispiel ist das Projekt „Generationen im Gespräch – Wir müssen reden“, das den intergenerationellen Austausch befördern soll. In zehn größeren deutschen Kommunen tauschen sich je 30 jüngere und 30 ältere Menschen über aktuelle und zukünftige Herausforderungen und Themen wie Migration, Neue Arbeitswelten, Rente oder Klimaschutz aus. Damit schaffen wir einen Raum für Begegnung zwischen den Generationen und gestalten einen unmittelbaren, wertschätzenden und verbindlichen Dialog.
Über den dreijährigen Fördertopf des Programms „Miteinander reden“ unterstützt die Bundeszentrale seit dem vergangenen Jahr über alle Bundesländer verteilt 100 Initiativen in ländlichen Räumen, die vor Ort politische Bildungsarbeit betreiben. Wir wollen damit Gespräche auf Augenhöhe und eine Kultur des Miteinander-Aushandelns ermöglichen. Zugleich möchten wir damit dabei helfen, die Attraktivität der ländlichen Räume zu erhalten. Meine Kollegin Hanne Wurzel, die das Projekt initiiert hat, beschreibt es so: „Für die aufsuchende politische Bildungsarbeit in den ländlichen Räumen müssen wir neue Wege gehen, um an den Bedarfen vor Ort anknüpfen zu können. Mit klassischen Seminarangeboten erreichen wir nicht die Menschen und die politische Bildung muss innovative Bildungsformate entwickeln.“ Eines der geförderten Projekte war „Rent a Jew“, das von der Europäischen Janusz Korczak Akademie in München konzipiert wurde. „Rent a Jew“ vermittelte ehrenamtliche jüdische Referentinnen und Referenten für Begegnungen. Da sich jüdisches Leben heute in Deutschland vor allem auf die Städte konzentriert, war insbesondere in ländlichen Regionen der Bedarf für ein solches Begegnungsprojekt sehr hoch. Die Referenten von „Rent A Jew“ bekamen dabei übrigens keine Vorgaben darüber, was sie sagen oder erzählen sollten: Es ging allein um den offenen Austausch und um das gegenseitige Kennenlernen.
Der Einbezug von sonst weniger adressierten Zielgruppen meint aber auch den Einschluss von Jugendlichen, und dabei vor allem die laut einer Studie des SINUS-Instituts „Prekären“ – also Jugendliche mit niedrigem Bildungsstatus, die in ihrer normativen Grundorientierung eher traditionell eingestellt sind. Zudem nehmen wir Jugendliche in den Blick, die als „materialistische Hedonisten“ charakterisiert werden – auch sie zeichnet ein tendenziell niedriger Bildungsstatus aus, verbunden mit einer Grundorientierung, die sich an einem konsumorientierten „Haben & Zeigen“ orientiert.
Bei alldem ist auch klar: Allein Räume für Begegnung zu schaffen, reicht nicht. Politische Bildung muss – insbesondere in konfliktiven Zeiten – ihre Adressaten auch dazu befähigen, Konflikte auszuhalten und mit diesen produktiv umzugehen, indem gute demokratische Diskussionskultur vermittelt und eingeübt wird.
Unabdingbar dafür sind grundlegende Tugenden wie Empathie, Frustrationstoleranz und Konfliktkompetenz – aber auch Fähigkeiten wie Zuhören, Faktenchecken und faires Argumentieren. Die Ausbildung dieser Kompetenzen muss Grundbestandteil jeder politischen Bildung sein, ob an der Volkshochschule oder im Workshop, im Jugendclub, an der Mittelschule oder am Gymnasium. Denn erst damit wird der zivilisierte, gewaltfreie, gesellschaftliche Diskurs möglich, von dem unsere Demokratie zehrt und auf den sie zwingend angewiesen ist. Dabei gilt es ganz besonders, sich mit Regeln und Leitfäden für gute Argumente und faire Diskussionen zu wappnen und das gemeinsame Streitgespräch immer wieder aufs Neue zu üben.
Dies haben wir im vergangenen Jahr mit unserem Projekt „Eine Stadt. Ein Land. Viele Meinungen“ umzusetzen versucht. Gemeinsam mit den beiden großen Berliner Tageszeitungen und der Berliner Volksbühne haben wir den 30. Jahrestag des Mauerfalls zum Anlass genommen, um für Meinungsvielfalt, Pluralität und eine faire Debattenkultur zu werben. Über einen Zeitraum von zehn Wochen haben wir zehn öffentliche Debatten zu aktuellen gesellschaftspolitischen Fragen angestoßen. Dabei haben wir versucht, durch die Art der Fragestellung und das Angebot an Beteiligungsmöglichkeiten eine möglichst große Bandbreite an Zielgruppen zu erreichen und dadurch zugleich ein möglichst vielfältiges und kontroverses Meinungsspektrum zu den jeweiligen Streitthemen abzubilden. Darüber hinaus haben wir eigens hierfür Hinweise und Anleitungen zum Debattieren erstellt, die den teilnehmenden Schulklassen zur Verfügung gestellt wurden. Das Motto dieser Hinweise lässt sich mit einem Zitat von Hans-Georg Gadamer treffend auf den Punkt bringen: „Ein Gespräch setzt voraus, dass der andere Recht haben könnte“. Auch in der vorletzten Ausgabe unseres bpb:Magazins haben wir das Thema „Reden wir!?“ in den Mittelpunkt gerückt und zehn Regeln für eine gute Debatte vorgeschlagen. Denn online wie offline gelingt der politische Austausch, die Konfliktaustragung, der Streit besser, wenn wir uns an ein paar Regeln halten. So sollten wir versuchen, unser Gegenüber wirklich zu verstehen und es nicht belehren. Stattdessen sollten wir unseren eigenen Standpunkt stets begründen und die Argumente unseres Gegenübers möglichst wohlwollend interpretieren. Wir sollten deeskalieren und bereit dazu sein, unsere angestammte Perspektive zu wechseln. Das alles muss geübt werden, auch hier ist die politische Bildung gefragt. Natürlich muss dabei der Schwerpunkt eines Streitgesprächs auf dem rationalen, dem abwägenden Argument liegen. Zugleich dürfen Emotionen aber nicht gänzlich ausgeblendet werden, sondern müssen, wie die politische Bildung in letzter Zeit verstärkt erkennt, Berücksichtigung finden. Emotionen können Indikatoren oder Warnsignale für einen bestimmten Zustand sein, als Kommunikationsmittel im Austausch mit anderen fungieren, und nicht zuletzt haben sie auch motivierende Funktionen. Emotionen sind damit für die politische Bildung zweierlei: Zugangsmöglichkeiten zu ihren Adressatinnen und Adressaten sowie Anknüpfungspunkte für dieselben, sich mit Politik auseinanderzusetzen. Letzten Endes geht es hier um die Frage „Was bewegt Euch eigentlich?“. Und diese Frage – das sollte Selbstverpflichtung politischer Bildung sein – müssen wir an alle richten, damit wir die Chance erhalten, Antworten aller zu berücksichtigen.
Politische Bildung ist immer auch Platzhalter für kontroverse Aushandlungsprozesse, für die es selbstverständlich Differenzen, Heterogenität und Offenheit braucht. Dissens, gesellschaftliche Antagonismen aber auch die Widersprüchlichkeiten und vielen Facetten eines jeden Einzelnen sind unabdingbarer Teil funktionierender demokratischer Gesellschaften. Wenn wir verlernen anzuerkennen, dass oftmals keine kohärenten Antworten, Positionen und Geschichten existieren, verlernen wir Demokratie. Politische Bildung sollte sich daher nicht von Krisendiskursen treiben lassen, sondern auf Zukunft gerichtete Handlungsspielräume in den Blick nehmen.
So schaffen wir im Idealfall zugleich die Basis für einen zivilisierten demokratischen Diskurs über die Zukunft unserer Gesellschaft. Denn einen solchen Diskurs brauchen wir dringend. Und auch wenn er sich im Augenblick manchmal nicht als ein solch zivilisierter ausnimmt und auch wenn sich die Bedingungen unserer Arbeit stetig ändern, so gilt es doch einmal mehr optimistisch zu bleiben und weiterzumachen. Karamba Diaby soll deshalb das letzte Wort gehören. Er geht hier mit gutem Beispiel voran. Mit seinem gesunden Optimismus sollten wir uns immer wieder vor Augen führen: „Da wo Vielfalt ist, sind auch Konflikte. Aber in einem Diskurs des Respekts sind diese Konflikte alle lösbar.“ Und nun freue ich mich auf einen ebensolchen Diskurs mit Ihnen, meine sehr geehrten Damen und Herren. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
- Es gilt das gesprochene Wort -