Sehr geehrte Mitwirkende und Teilnehmende der Konsultationsveranstaltung zum NAP gegen Rassismus und weitere Ideologien der Ungleichwertigkeit,
der Journalist Hasnain Kazim hat vor kurzem in einem Interview darüber gesprochen, wie sich die Morddrohungen und all der Hass, der ihm seit Jahren entgegenschlägt, auf sein Leben auswirken. Manchmal erkennen mich Leute auf der Straße. „Sind Sie nicht …?“ Oder: „Ich kenne Sie doch!“ Ich freue mich darüber, es ist ja eine Form der Anerkennung. Aber in letzter Zeit hat sich ein Unbehagen eingeschlichen. Ich weiche unweigerlich zurück, wenn fremde Leute auf mich zukommen. Was, wenn sie mir etwas antun wollen?
Lassen Sie diese Aussage einmal wirken: Wir leben in einer Gesellschaft, in der Menschen aufgrund ihres Aussehens, ihrer sexuellen Identität, ihrer Herkunft oder ihres Jobs Bedrohungen – verbal wie körperlich – ausgesetzt sind und sie nicht mehr angstfrei durch ihr Leben gehen können.
Deshalb ist es unabdingbar, Diskriminierungserfahrungen wahrzunehmen und vor allem sichtbar zu machen. Da sind nicht nur zivilgesellschaftliche Akteure gefragt, sondern aus verfassungsrechtlichen Gründen gerade die staatlichen Institutionen.
Die Schilderungen Kazims können wir dabei als exemplarisch für den Alltag vieler Menschen in Deutschland ansehen. Allzu oft bleiben solche Ängste und Zustände verborgen oder bekommen zu wenig Aufmerksamkeit. Und dennoch stehen sie nicht allein für sich. Der Mord an Walter Lübcke, die Einschüsse am Wahlkreisbüro Karamba Diabys, nur drei Monate nach dem Anschlag auf die Synagoge von Halle, machen untrüglich klar, dass in unserer Gesellschaft Menschen leben, die unser demokratisches System verlassen haben oder es bewusst unterlaufen. Und die versuchen, diejenigen einzuschüchtern, die sich für unsere Demokratie einsetzen. Hier darf es keinen Zweifel daran geben, dass wir uns als Gesellschaft nicht nur davon distanzieren, sondern uns mit aller Härte gegen jegliche Formen und Mechanismen der Abwertung, der Ausgrenzung und des Hasses stellen.
Demokratie ist kein Selbstläufer, sondern sie braucht uns und unser Engagement, mehr noch: Die Demokratie lebt vom Einsatz jedes einzelnen Menschen! Und deshalb ist es so wichtig, dass wir hier heute alle zusammengekommen sind, um den Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus und weitere Ideologien der Ungleichwertigkeit fortzuschreiben. Der NAP gegen Rassismus war nie als statisches Programm gedacht, sondern als Rahmensetzung der Bundesregierung, offengehalten für weitere Diskurse, genährt von den verschiedensten Perspektiven – und deshalb freuen wir uns sehr, dass heute so viele von Ihnen hier versammelt sind.
Für Aushandlungsprozesse braucht es unterschiedliche Sichtweisen und Forderungen, die unsere freiheitliche demokratische Grundordnung als Kernelement unserer Gesellschaft selbstverständlich nicht verlassen. Konsens muss nicht als regulative Idee von Politik verstanden werden. Der belgischen Politologin Chantal Mouffe zufolge könne die völlige Auflösung eines Konflikts nie das Ziel sein, vielmehr gelte es, den Dissens zu wahren. Mouffe betont: „Konsens ist das Ende der Politik“. Es gehe nicht darum, Antagonismen zu überwinden, sondern darum, sie zu akzeptieren und zu zähmen ohne die zugrundeliegenden Gegensätze aufzuheben.
Den gesellschaftlichen Zusammenhalt markiert nicht das Fehlen von Konflikten. Vielmehr sollte man echte Stabilität darin sehen, dass Konflikte auf produktive Art und Weise bearbeitet werden. Der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller erinnerte erst kürzlich daran, dass demokratische Politik keine Konsensveranstaltung ist. Für ihn bedeuten die gegenwärtig zu beobachtenden Spaltungen nicht automatisch eine Gefahr für die Demokratie: „Im Gegenteil, die Pointe der Demokratie ist, dass sie es ermöglicht, mit Konflikten auf zivile Weise umzugehen, sodass auch die Verlierer weder Gesicht noch Hoffnung verlieren.“
Wir dürfen uns aber nicht in die Taschen lügen, in unserer Gesellschaft begegnen wir allenthalben Ungleichheiten und die leidtragenden sind zuerst die Diskriminierten Die liberale Demokratie nimmt Asymmetrien in der Gesellschaft oft in Kauf. Das gilt es kritisch zu reflektieren.
Worauf es bei alldem also ankommt, ist der Modus der Konfliktbearbeitung, die Art und Weise, wie wir mit den Konflikten umgehen. Immer dann, wenn es gelingt, Konflikte produktiv zu nutzen, haben sie sich als Katalysatoren gesellschaftlichen Fortschritts erwiesen.
Es müssen Arenen für politische Aushandlungsprozesse erzeugt werden, in denen Menschen sich mit ihren Positionen einbringen und auch im Ringen um Deutungshoheiten und Lösungswege durchsetzen können. Dies setzt Anerkennung und Umsetzung des gleichberechtigten Zugangs zu politischen und gesellschaftlichen Strukturen voraus und darf nicht auf der Ebene des Anhörens verbleiben, sondern muss Menschen als Akteure und politische, handlungsfähige Subjekte betrachten.
Mit Antidemokraten, Menschen, die ihren Antrieb aus Ideologien der Ungleichwertigkeit ziehen, ist dieser Prozess nicht zu gestalten. Sie nutzen unser demokratisches System in all seinen Freiheiten nur aus, um es zu unterwandern und von innen auszuhölen. Besonders vor diesem Hintergrund ist es jedoch angezeigt, dass all diejenigen, die sich für unsere demokratische Gesellschaft einsetzen, miteinander ins Gespräch kommen und sich vereint all dem Hass und den Diskriminierungen entgegenstellen – unabhängig davon, zu welchem politischen Lager sie sich selbst zählen.
Aktuell wird immer wieder die Frage diskutiert, wann eine Gruppe, ein Prozess oder Diskurs als politisch und legitim anerkannt wird, wann dies verweigert wird und wer die Deutungshoheit darüber hat? Die Frage wird derzeit besonders mit Blick auf linksliberal eingestellte Kosmopoliten diskutiert, denen mitunter vorgeworfen wird, den öffentlichen Diskurs zu dominieren, während andere Teile der Gesellschaft diesem nicht mehr folgen können oder mitunter auch nicht wollen. Die Gegenposition hierzu ist, dass Fragen von Herrschafts-, Macht-, Ungleichheits-, Diskriminierungs-, Ausschluss- und Ausbeutungsprozessen sichtbar gemacht werden müssen, um ihre Tabuisierung zu thematisieren. Gerade staatliche Institutionen müssen hier mit jedem Beispiel vorangehen.
Wenn wir uns nur noch in der öffentlichen Arena zum Schlagabtausch und dem Markieren von und dem Beharren auf Standpunkten treffen, werden wir weder dem demokratischen System noch uns als Individuen gerecht. Wenn wir Menschen auf eine Kategorie und einen damit verbundenen Standpunkt reduzieren, sprechen wir ihnen ihre Individualität, ihre Widersprüchlichkeit und Komplexität ab. Und verhindern damit einen offenen Diskurs.
Gerade diejenigen, die einer vermeintlichen Kategorien zugeschrieben werden, wird es erschwert, sich von dieser zu lösen und frei zu äußern. Stattdessen finden sie sich in einem Modus der dauerhaften Rechtfertigung wieder. Fremdwahrnehmungen, die fraglose Gewissheiten versprechen, ist nicht zu trauen – sie können gefährlich sein. Starre Zuschreibungen bringen weder Orientierung noch stärken sie ein „Wir“ - können sie gar nicht. Denn sie werden den gelebten Realitäten, den Menschen in ihrer Vielfältigkeit, all den Geschichten und Widersprüchlichkeiten nicht nur nicht gerecht, sie verkürzen, übersehen, grenzen aus.
Audre Lorde formulierte dazu: „Sicherlich gibt es sehr reale Unterschiede zwischen uns in Bezug auf Race, Alter und Gender. Aber es sind nicht diese Unterschiede, die uns trennen. Was uns trennt, ist die Weigerung, Unterschiede als das, was sie sind, zu erkennen und die Fremdwahrnehmungen, die aus diesen Fremdbestimmungen resultieren, sowie die vorhandenen Effekte, die diese wiederum auf menschliches Verhalten und menschliche Erwartungen haben, genau zu untersuchen.“
In einem offenen Diskurs muss es Raum geben, um zu differenzieren und die Machtstrukturen in den Blick zu nehmen. Denn letztere sorgen dafür, dass marginalisierten Gruppen gar keine andere Möglichkeit gegeben wird, als sich dezidiert zu positionieren und auf ihre jeweils eigene Kontexte, aus denen heraus sie agieren müssen, aufmerksam zu machen. Sie können für ihre Belange nur dann eintreten, wenn sie diese sichtbarmachen und betonen. Es wäre eine Verkennung der machtpolitischen Realitäten, wenn das Eintreten für ihre Anliegen mit einer Überbetonung von Identitätspolitiken diskreditiert wird. So macht es selbstverständlich einen Unterschied, ob jemand Identitätspolitiken dahingehend kritisiert, dass „sie sich für den Horizont des ‚Gemeinsamen‘ nicht (mehr interessieren), sozioökonomische Ungleichheiten ausblenden und in immer kleineren Verästelungen Differenzen individualisieren […] oder ob sie willkommener Anlass sind, um emanzipatorische ‚Zumutungen‘ in toto diskreditieren zu können“, wie es die Soziologin Silke van Dyk beschreibt.
Allzu oft werden Kämpfe um Anerkennung und Teilhabe im Kontext polarisierter Lager ausgetragen, in deren Folge sich die vermeintlichen Konfliktlinien nur noch verstärken können. Auf Vehemenz folgt Abwehr, auf die wiederum noch mehr Vehemenz und damit wieder mehr Abwehr folgt. Derartige Segerationsspiralen sehen weder Raum zum kritischen Hinterfragen des eigenen Standpunkts vor noch ermöglichen sie es, die eigenen Interessen im Kontext der anderen Interessen zusehen.
In der Auseinandersetzung gegen Rassismus und andere Ideologien der Ungleichwertigkeit sind wir zwingend auf Allianzen angewiesen. Unabdingbar hierfür ist ein gewisses Maß an Offenheit und im konstruktiven Sinne, die Bereitschaft, sich auch auf die Suche nach Gemeinsamkeiten zu begeben. Nicht, um des Konsenswillen, sondern um der Demokratiewillen. Der griechische Politikwissenschaftler Nicos Poulantzas machte deutlich, dass Staaten die materielle Verdichtung sozialer Kräfteverhältnisse sind und Interessen sowie deren Artikulation folglich wesentlich an die Ebenen gebunden sind, auf welchen der Staat wirkungsmächtig ist. Daraus folgt zweierlei.
Zum einen stellt Poulantzas nochmal heraus, dass in Demokratien wie der unsrigen, jede*r grundsätzlich dazu fähig ist, staatliches Handeln mit zu formen und zu beeinflussen und es folglich in der Verantwortung jedes Individuums liegt. Dabei wird jedoch auch deutlich, dass unser Einfluss umso stärker ist, je deutlicher es uns gelingt, ein Allgemeininteresse zu formulieren.
Zum anderen führen uns Poulantzas Ausführungen nochmals die Wechselwirkungen zwischen Staat und Zivilgesellschaft vor Augen: der Staat als verlängerter Arm der Zivilgesellschaft. Letztere braucht jedoch Anknüpfungspunkte, über die sie ihre Interessen und Anliegen transportieren kann. Demnach obliegt es den staatlichen Institutionen für die notwendige Responsivität und Demokratisierung zu sorgen, damit der Staat in Kooperation mit der Zivilgesellschaft funktioniert.
In diesem Kontext sehe ich die Konsultationsveranstaltung wie den NAP gegen Rassismus und weitere Ideologien der Ungleichwertigkeit insgesamt. So gilt es, dass staatliche und zivilgesellschaftliche Seite ihn gemeinsam fortschreiben und fragmentierte Interessenslagen in das Allgemeininteresse einer emanzipierten Gesellschaft ohne Rassismus, Ideologien der Ungleichwertigkeit und Diskriminierungen überführen. Hierfür wünsche ich uns allen Konflikte, produktive Konflikte.
- Es gilt das gesprochene Wort -