Lieber Christoph Spieker, lieber Thomas Köhler, liebe Maria Springberg-Eich, dear Dan Michman, dear Christopher Browning, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Eine ganze Generation ist es nun her, dass Christopher Brownings bahnbrechendes Buch über „Ganz normale Männer“ erschien. Es war ein Fanal für die wissenschaftliche und öffentliche Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Täterinnen und Tätern. Nicht zuletzt die heftigen und teils gewalttätigen Auseinandersetzungen rund um die „Wehrmachtsausstellungen“ des Hamburger Instituts für Sozialforschung machten deutlich, dass hier etwas aufgebrochen worden war. Christopher Browning öffnete durch einen neuen Blick auf die NS-Verbrechen gewissermaßen die Büchse der Pandora für die nun gesamtdeutsche, postnationalsozialistische Gesellschaft der Täter und ihrer Nachfahren: Plötzlich standen nicht mehr die „großen Männer“ an der Spitze des Regimes im Fokus, die sich allzu leicht dämonisieren und dadurch exotisieren ließen. Hitler, Himmler, Heydrich, Göring, Goebbels – sie zu verurteilen war in den 90ern für den allergrößten Teil der Bevölkerung Konsens. Jetzt aber sollte der Blick auf „ganz normale Männer“ gerichtet werden. Und auf ihre Rolle im Holocaust.
Die Wehrmachtausstellungen kratzten – wenn auch durch anfängliche methodische Schwächen gebremst – am Mythos von der „sauberen Wehrmacht“, die im Gegensatz zur SS angeblich anständig ihrem Handwerk nachgegangen sei. Auch heute noch ist eine solche kritische Sicht auf das Erbe dieser deutschen Armee nicht unumstritten, wie extrem rechte Umtriebe in der Bundeswehr und die Notwendigkeit eines neuen „Traditionserlasses“ gezeigt haben. Christopher Browning war zuvor noch einen Schritt weiter gegangen: Die Polizei war seit der Weimarer Republik – und prominent von Heinrich Himmler – als „Freund und Helfer“ propagiert worden. Und wurde in der Bundesrepublik allgemein als Stütze von Recht und Ordnung angesehen. Sie sollte aktiv an Holocaust und Vernichtungskrieg beteiligt gewesen sein? Das rüttelte an den Grundfesten eines Selbstbildes, demzufolge nur ein winziger Teil der Deutschen für die NS-Verbrechen verantwortlich gewesen war, die übrigen dagegen unwissend; maximal zum Zuschauen verdammt. Hatte also doch der Wiener Publizist Karl Kraus Recht, der schon Anfang des 20. Jahrhunderts vom „Volk der Richter und Henker“ gesprochen hatte?
Auch derart pauschale Zuschreibungen wurden in den 90ern durchaus ernsthaft diskutiert. Und vielleicht waren Daniel Goldhagens Thesen seinerzeit wichtig, um einen fest auf persönliche und familiäre Schuldabwehr fixierten Konsens nachhaltig zu erschüttern und den Denkhorizont für neue Perspektiven zu öffnen.
Für die historisch-politische Bildung dagegen ist die Auseinandersetzung mit nationalsozialistischer Täterschaft gerade dort spannend und lohnenswert, wo es um Nuancierungen, Graubereiche und Handlungsspielräume geht. Wir beschäftigen uns etwa mit den psychologischen Prozessen in Individuen und Gruppen, mit Radikalisierungs- und Gewaltdynamiken ganzer Gesellschaften sowie Entscheidungen zu persönlicher Beteiligung – oder eben auch, sich dieser zu entziehen. Mit einem solchen Zugang wird die ja tatsächlich monströse und scheinbar nicht zu fassende Geschichte von Shoah und Nationalsozialismus auch für die Nachgeborenen greifbar und zugänglich.
Denn auch im 21. Jahrhundert, in Rechtsstaaten und Demokratien, sind wir tagtäglich mit Entscheidungen konfrontiert, die in der Summe weitreichende Konsequenzen für andere Menschen haben. Mobbing auf dem Schulhof, rassistische oder homophobe Sprüche am Arbeitsplatz oder im Internet sind keine genozidalen Menschheitsverbrechen – und gleichsetzenden Relativierungen müssen wir uns unbedingt verwehren.
Aber wenn wir fundiertes Wissen vermitteln und ein Bewusstsein dafür schaffen, dass die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden ein arbeitsteiliger Prozess war. - Von den kleinen Amtsstuben über die Erschießungsstätten im Osten Europas hin zum Obersalzberg. - Dass auch Diktaturen und Genozide auf Partizipation und Eigeninitiative – „dem Führer entgegenarbeiten“ – angewiesen sind. - Dass eben „ganz normale“ Männer und Frauen unerlässliche Stützen des Holocaust waren:
Dann können wir Gegenwartsbezüge herstellen, die selbstkritisches und handlungsorientiertes Lernen aus der Geschichte ermöglichen und über ein ritualisiertes „Nie wieder!“ hinausgehen.
Der Blick auf Täterschaft ist in Erinnerung und historisch-politischer Bildung gewissermaßen das „zweite Auge“, ohne das wir den Nationalsozialismus nicht wirklich erfassen, nicht dreidimensional sehen können. Das würdige Gedenken der Opfer bleibt unverrückbar eine wichtige Säule des öffentlichen Sprechens über den Holocaust. Doch ich stimme Jens-Christian Wagner, dem Leiter der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten, zu: Einseitige Opferzentrierung führt zu einer Art „Wohlfühl-Erinnerungskultur“. Die hilft nur sehr bedingt weiter, wenn es an die historisch informierte, kritische Analyse und das Handeln angesichts gegenwärtiger Herausforderungen der offenen Gesellschaft geht. Und da gibt es derzeit mehr zu tun, als uns allen lieb sein kann.
Ich danke daher unserem bewährten „zweiten Auge“, der Villa ten Hompel – insbesondere Thomas Köhler und Peter Römer –, dass sie den Anstoß zu dieser Tagung gegeben hat. Ebenso der Landeszentrale NRW und dort Hans Wupper-Tewes, der Stadt Münster sowie Hanna Liever und Simon Lengemann stellvertretend für das Team der bpb. Es sind nicht gerade „ganz normale Organisationen“ und Einzelpersonen, die hier ein außergewöhnliches Programm auf die Beine gestellt haben. Ich wünsche uns allen anregende Diskussionen und neue Impulse für die Arbeit im nächsten Vierteljahrhundert. Vielen Dank.
- Es gilt das gesprochene Wort! -