Sehr geehrte Damen und Herren,
im Namen der Bundeszentrale für politische Bildung heiße ich Sie alle ganz herzlich willkommen zu unserer internationalen Fachtagung „Glocal Islamism 2019 – Phänomene, Interdependenzen, Prävention“.
Am 20. November 1979 um 5.30 Uhr Ortszeit stürmten 700 schwer bewaffnete Männer die Große Moschee in Mekka und nahmen die heiligste Stätte des Islam als Geisel. Die Extremisten forderten die Abdankung der saudi-arabischen Königsfamilie, die Ausweisung aller "gottlosen" Ausländer und die Wiederherstellung eines radikalislamischen Staats. Nach zwei Wochen konnte dieser Anschlag mit einem Blutbad beendet werden. Tausende starben. Eine gesamte Region war traumatisiert. 1979 ist aus heutiger Sicht die Geburtsstunde des militanten Islamismus – des sogenannten Dschihadismus.
Die Besetzung der Großen Moschee, der Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan, die Gründung der Islamischen Republik im Iran: Das Schicksalsjahr 1979 führte zu einer Internationalisierung der bis dahin lokal agierenden Islamisten. Weltweit brachte diese Entwicklung eine Radikalisierungswelle junger Menschen mit sich. Die Netzwerke, die daraus entstanden, wurden auch zum Kern der Organisation al-Qaida. Wenn seither irgendwo auf der Welt ein Anschlag ausgeübt wird, rechnen wir diesen in der ersten Intention dem Islamismus zu. Diese Zuschreibung hat seit dem 11. September weltweit noch einmal in erheblichem Maße zugenommen. Aber was ist Islamismus eigentlich? Was macht diese Ideologie aus? Was sagt die Wissenschaft?
Der Islamwissenschaftler Tilman Seidensticker definiert Islamismus folgendermaßen: „Beim Islamismus handelt es sich um Bestrebungen zur Umgestaltung von Gesellschaft, Kultur, Staat oder Politik anhand von Werten und Normen, die als islamisch angesehen werden“. Der Begriff Islamismus ist also als eine Art Überbegriff zu verstehen. Vom legalistischem Islamismus bis zum Dschihadismus, von den Muslimbrüdern zu den Taliban: Es gibt viele Unterschiede zwischen den einzelnen islamistischen Strömungen und Gruppen. Allen gleich ist jedoch die Überzeugung, dass Gottes Wort über den von Menschen gemachten Verfassungen und Gesetzen steht. Demzufolge sollte alles Staatliche der eigenen Auslegung des Islam untergeordnet sein. Der Islamismus – im Gegensatz zum Islam – ist daher aus unserer Sicht als eine antidemokratische Ideologie zu verstehen. Die konkreten Vorstellungen der Islamistinnen und Islamisten darüber, wie eine Gesellschaft unter islamischen Regeln auszusehen hat, und die verschiedenen Mittel zur Erreichung dieser Ziele, variieren innerhalb der islamistischen Szene stark. Es gibt diejenigen, die durch Beteiligung an demokratischen Prozessen und mit moderaten Mitteln versuchen, ihre Ziele zu erreichen. Es gibt aber auch diejenigen, die Gewalt als Mittel legitimieren – und nutzen. Islamistische Auffassungen sind aus demokratietheoretischer Sicht grundsätzlich problematisch – unabhängig von einer latent oder manifest vorhandenen Gewaltbereitschaft. Der Islamismus als antidemokratische, antipluralistische und antiemanzipatorische Ideologie wird somit nicht erst dann zum Thema für die politische Bildung, wenn einige ihrer Anhängerinnen und Anhänger zu gewaltbereiten Islamistinnen und Islamisten werden: Vielmehr stellt diese Ideologie insgesamt eine Herausforderung für demokratische Gesellschaften dar.
Bei der Auseinandersetzung mit diesem Thema ist eine Differenzierung zwischen Islam und Islamismus unerlässlich. Pauschalisierungen bringen uns nicht weiter. Wenn es um „den“ Islam geht, passiert oft aber leider genau das. Und nicht selten kommt es vor, dass von „dem“ Islam eine Brücke zu „dem“ Islamismus geschlagen wird. Beides sind Verkürzungen ohne Erkenntnisgewinn. Eine ganze Religionsgemeinschaft darf nicht unter Generalverdacht geraten. Wenn Musliminnen und Muslimen grundsätzlich eine antidemokratische Haltung unterstellt wird, ist dies problematisch für die demokratische Kultur. Derlei unreflektierte Zuschreibungen und Stigmatisierungen müssen verhindert werden. Wir müssen der fehlenden Differenzierung in öffentlichen Debatten und Diskursen mit Sachlichkeit entgegentreten. Denn eins ist klar: Islamistinnen und Islamisten sind ein Problem für Menschen ohne muslimischen Glauben, aber wahrscheinlich noch viel mehr für Musliminnen und Muslime! Sie sind am stärksten von islamistischer Repression und Gewalt betroffen.
Wir können uns nicht nur auf die Betrachtung von Islamismus in Deutschland oder gar Europa beschränken, sondern müssen internationale Verschränkungen immer mitdenken. Wir müssen Perspektiven wechseln und den eurozentristischen Blickwinkel hinterfragen.
Aus diesem Grund steht die Betrachtung von Islamismus als glokales Phänomen im Fokus. Was aber genau ist damit gemeint? Seit vielen Jahren ist unser Leben von der Globalisierung dominiert: Handel, Politik, Umweltschutz, Technik und Kultur – diese Bereiche umfasst Globalisierung. Für uns sichtbar wird sie im Lokalen. Nach dem Soziologen Ulrich Beck ist Globalisierung „scheinbar das Ganz-Große, das Äußere, das, was am Ende noch dazukommt und alles andere erdrückt“, das jedoch erst „im Kleinen, Konkreten, im Ort, im eigenen Leben, in kulturellen Symbolen“ fassbar werde. Es zeigt sich: Globales und Lokales, Globalisierung und Lokalisierung – das gehört zusammen. Vor diesem Hintergrund schlug der Soziologe Roland Robertson bereits in den 1990er Jahren vor, den Grundbegriff Globalisierung durch den der Glokalisierung zu ersetzen. Dieser Neologismus bringt treffend das Verhältnis zwischen Partikularem und Universellem zum Ausdruck.
Globale Ideen werden an lokale Kontexte angepasst, dort angewendet und transformiert. Durch die Prozesse der Glokalisierung kommt es zu einer „wechselseitigen Vermischung“ bzw. Hybridisierung. Das Lokale und das Globale schließen sich gegenseitig nicht aus, im Gegenteil: Das Lokale muss immer als fester Bestandteil des Globalen verstanden werden.
Wieso ist diese Sozialtheorie wichtig für die bevorstehende Tagung? Islamismus – genau wie andere Ideologien auch – ist ein glokales Phänomen.
Der Islamismus steht zwischen globalen Ideen und lokalen Realitäten. Islamistinnen und Islamisten agieren in einer permanenten Spannung zwischen lokalen sozio-politische Umständen und globalen Zielen. Ihre Propaganda richtet sich hierbei besonders lautstark gegen den „fernen Feind “, d. h. vor allem gegen Europa, die USA und Israel. Das unmittelbare Ziel stellt aber auch der „nahe Feind“ dar – wie beispielweise die eigene Regierung oder die Gesellschaft, in der man lebt.
Islamistische Politiker, die den demokratischen Rahmen nutzen, wie die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) in der Türkei, die Muslimbruderschaft in Ägypten und die al-Nahda-Partei in Tunesien liefern Beispiele dafür, wie der Islamismus unter Nutzung des demokratischen Rahmens lokal Wurzeln geschlagen hat. Islamistische Aktivisten, Politiker und Militante benutzen die Sprache der Menschenrechte, der Demokratie und der Gerechtigkeit, um Einfluss und Unterstützung durch die Bevölkerung zu erlangen.
Im Rahmen dieser Tagung beschäftigen wir uns mit Ausprägungen des Islamismus, die ursprünglich außerhalb Europas entstanden sind und die über die Globalisierung nach Europa getragen wurden, hier Anhängerinnen und Anhänger fanden, die diese Ideen auf lokaler Ebene weiterentwickeln. Auch der entgegengesetzte Prozess wird thematisiert: Wie beeinflussen die lokalen Ausprägungen des Islamismus letztlich wieder die globalen Verflechtungen? Auch wenn wir in verschiedenen Teilen der Erde leben, können wir in wenigen Sekunden und mit wenig Aufwand an Informationen gelangen – aber auch Informationen verbreiten. Medien und Digitalisierung vereinen uns in der globalisierten Welt. Diese Hybridität ist zweifelsohne ein Fortschritt, birgt aber auch Herausforderungen.
Eine Herausforderung hat sich beispielsweise in der professionellen Propaganda des sogenannten „Islamischen Staats“ gezeigt. In den Videos und Publikationen, werden gezielt internationale Konflikte aufgegriffen und Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt, wie der globalen Ungerechtigkeit mittels Dschihad Einhalt geboten werden kann. Der sogenannte Islamische Staat ist exemplarisch, um einmal die glokale Dimension des Islamismus zu verdeutlichen: Ursprünglich entstand der IS als eine der vielen Ableger der al-Qaida im Irak und in Syrien. Als sich der IS im Laufe der Zeit verselbständigte, passte er sich an die lokalen Begebenheiten an und formierte sich neu. Die globale Idee, die durch al-Qaida verbreitet wurde, wurde im Irak und Syrien konkret an lokale Bedingungen angepasst. Dschihadistinnen und Dschihadisten aus verschiedenen lokalen Kontexten weltweit folgten daraufhin dem Ruf des IS. Am Beispiel der Foreign Fighters wird deutlich, dass Islamistinnen und Islamisten mit der globalen Idee von der angeblichen „Gerechtigkeit“ oder der vermeintlichen „Befreiung der Muslime aus der Unterdrückung durch die Nicht-Muslime“ – egal wo auf der Welt – mobilisiert werden konnten. D. h. es existieren übergreifende Mobilisierungsmomente, die je nach nationalem Kontext anders aufgegriffen werden. Kurz: Ein junger Mensch in Frankreich entstammt einer anderen Lebenswirklichkeit als ein junger Mensch aus Tunesien. Dennoch sind beide unabhängig vom jeweiligen nationalen Kontext anfällig für die Rekrutierungsversuche der Dschihadistinnen und Dschihadisten im fernen Irak und Syrien. Beide fühlen sich von der Propaganda angesprochen und sind bereit, alles hinter sich zu lassen, um für das vermeintlich höhere Ziel zu kämpfen. Diese und weitere Beispiele können zusammengefasst werden unter dem Leitsatz Robertsons: Local Differences – global similarities! Der Islamismus ist eine dynamische Manifestation unserer glokalisierten Welt. Er hat seine eigene globalisierende Dynamik und stellt nicht zuletzt eine Bedrohung für die Demokratie dar.
Diese Gefahr dürfen wir nicht unterschätzen und bei unserer Arbeit berücksichtigen – auch aus präventiver Sicht. Der zweite Teil der Fachtagung widmet sich daher lokalen Präventionsansätzen aus verschiedenen Teilen der Welt. Wir sollten dabei jedoch behutsam vorgehen. Dass politische Bildung und soziale Arbeit auch eine präventive Wirkung haben und eine Grundimmunität gegen extremistische und demokratieablehnende Einstellungen mit sich bringen können, steht außer Frage. Doch die permanente Arbeit gegen etwas ist auf Dauer unbefriedigend und nicht zwingend zielführend. Die Adressaten der Präventionsarbeit merken es, wenn sie pauschal als potentielle Gefährderinnen und Gefährder wahrgenommen werden. Politische Bildung, soziale Arbeit und zivilgesellschaftliches Engagement dürfen sich nicht von einer Versicherheitlichung des Präventionsgedankens leiten lassen. Wir als politische Bildner – genau wie unsere Kolleginnen und Kollegen aus der Präventionsarbeit – müssen uns daher immer wieder auch selbst hinterfragen, unsere Ansichten ergründen und uns kontinuierlich weiterbilden. Dazu möchte diese Tagung beitragen. Nutzen Sie die Gelegenheit nicht nur ihr Wissen, sondern auch ihr Netzwerk zu erweitern. Diese Tagung soll eine Plattform sein, die gesamtgesellschaftliches Engagement für Demokratie – auch über die eigenen Landesgrenzen hinaus – sichtbar macht.
Ich wünsche Ihnen eine spannende und erkenntnisreiche Tagung.
- Es gilt das gesprochene Wort! -