Der Aufklärer Settembrini distanziert sich in Thomas Manns "Zauberberg" von "politisch verdächtiger" Musik. Im Unterschied zur positiven gesellschaftlichen Funktion von Literatur misst er der Musik im Allgemeinen keinen Aufklärungscharakter zu. Die Entschlüsselung musikalischer Codes scheint ihm im Gegensatz zu sprachlichen Codes ein zu ambiguitives, zu unberechenbares Unterfangen.
Dabei kann Musik von jeher auch als Faszinosum gelten. Wir kennen in Deutschland etliche Beispiele dafür. Gerade die Diskussionen um das "Gesamtkunstwerk" Richard Wagners schillern zwischen dem aufklärenden ästhetischen Bildungsanspruch auf der einen und einem verklärenden, mit der Metapher der Kulturnation mythisch aufgerüsteten Narrativ auf der anderen Seite.
Auch die Jazzmusik bewegt sich seit dem frühen 20. Jahrhundert in Deutschland zwischen einer Art Skepsis des vermuteten Kulturuntergangs und dem durch die Subkultur getriebenen Faszinosum, wie es sich schon in "An die Schönheit", einem Gemälde von Otto Dix aus dem Jahre 1922, ausdrückt.
Dabei wird die Jazzmusik und ihr Swing als US-amerikanische Kultur rezipiert, obwohl ihr aus heutiger Sicht auch europäische Wurzeln zuzuschreiben sind. Der viel zu früh verstorbene Kornettist Bix Beiderbecke zum Beispiel, der aus einer mecklenburgischen Familie stammte und zu den ersten großen Musikern des Jazz gehörte, steht Pate für viele Musiker, die im Zuge der Auswanderungswellen des 19. Jahrhunderts aus Europa in die USA migriert sind und ihre musikalischen Wurzeln mit dortigen musikalischen Traditionen fusionierten.
In Deutschland wird die Jazzmusik in den 20ern vor allem in den Städten, wie Berlin und Dresden relevant. Tanzkapellen adaptieren und popularisieren die Swingmusik. Aber auch die zeitgenössische Musik reagiert auf die musikalischen Impulse. Komponisten wie Hindemith, Krenek und Weill integrieren Jazzfiguren in ihre Tonsprache. Jazz etabliert sich hier sogar weltweit das erste Mal an einer Hochschule: Bernhardt Sekles Jazzklasse in Frankfurt am Main wird unter lauten Protesten 1928 eingerichtet. In den USA passiert das erst in den späten 40erJahren.
Die Zäsur kam mit den Nationalsozialisten, die sukzessive Jazzverbote erließen: So z.B. schon 1930 in Thüringen, dann wurde Jazzmusik in Jugendherbergen verboten (1933) und später auch das Abspielen von Jazzmusik im Rundfunk (1935). Die Nazis knüpften an reaktionäre deutschnationale Traditionen an, bei denen ein homogenes, geschlossen, nationales Kulturverständnis vorherrschte.
So überrascht nicht, dass die Nazis die "Umtriebe" des Jazz zur Chefsache machten: "Alle Rädelsführer, ... die feindlich eingestellt sind und die Swing-Jugend unterstützen, sind in ein Konzentrationslager einzuweisen. Dort muss die Jugend zunächst einmal Prügel bekommen... Der Aufenthalt im Konzentrationslager für diese Jugend muss ein längerer, 2-3 Jahre, sein." (SS-Führer Heinrich Himmler 1942). Weitere Hinweise auf und Warnungen vor kulturessentialistischen Tendenzen in der Gegenwart erübrigen sich vor diesem Hintergrund.
Als politisch relevant gelten heute vor allem die Entstehungsimpulse des Jazz und die politischen Kontexte von Repression und Befreiung, insbesondere auch im Zusammenhang mit dem politischen Engagement des Jazz im Rahmen der schwarzen Emanzipationsbewegungen. Auch wenn die Rassismus-Diskussionen in den USA eine viel weiter zurückliegende Geschichte haben und auch auf andere Musikstile, insbesondere den Blues referenzieren, sprechen wir doch in der Regel von der mit Billie Holidays legendärem Auftritt im Cafe Society in New York mit ihrer Interpretation von „Strange fruit“ beginnenden Hochphase im mittleren Drittel des 20.Jahrhunderts. In Deutschland dagegen eher von der Verfemung des Jazz durch die Nationalsozialisten, der Emanzipation des Jazz im Westen Deutschlands u.a. durch ausdrückliche Bezugnahme auf den US-amerikanischen Jazz und über die Wechselbäder, durch die der Jazz in der Kulturpolitik der DDR mit ihren Paradigmenwechseln gegangen ist. Diese Zeitspanne war von radikalen Umbrüchen in allen Bereichen von Politik, Kultur und Gesellschaft gekennzeichnet. Ich selbst habe vielfach über das Wechselverhältnis von Politik und Jazz in der DDR gesprochen. Für mich waren die Free Jazz Konzerte in der DDR eine Art Trainingslager, über den engen Rahmen hinauszudenken, zu fühlen und zu leben. Das hat mich bis heute geprägt. Es gibt sogar die weiterführende These, dass freie Improvisation eine Art Schlüsselkompetenz in der Mangelwirtschaft der DDR war, um zu überleben. Kein Wunder also, dass die Sprache der freien Improvisation auf fruchtbaren Boden fiel. Die Fragen und Themen, die damals diskutiert wurden, fanden vor einem politischen und sozialen Hintergrund statt, der mehr oder weniger klare Zuordnungen zuließ: Politische Indienstnahme hatte im 20. Jahrhundert genauso sprechende Gründe wie politische Verfolgung. Politisches Engagement und politische Kritik richteten sich gegen einen klar erkennbaren Gegner. Free Jazz und sein Publikum waren „links“ und „links und rechts“. Etablierte und Außenseiter, ließen sich problemlos auseinanderhalten. Freie Improvisation vertrug sich schlecht mit politischen Sekundärtugenden. Es war eine Phase, in der der Kampf um die Produktionsmittel oder die Debatten um das Verhältnis zum Publikum auf der Hand lagen. Nonkonformismus oder der Anspruch auf Individualität waren klar als politischer Aktivismus zu deuten. Das Open Air der jazzwerkstatt Peitz Anfang der 1980ger Jahre steht geradezu ikonografisch dafür. Tausende Pilgernde haben damals den Free Jazz Pianisten Fred van Hove zu seiner Sentenz verleitet, ausgerechnet die DDR sei das gelobte Land der frei improvisierenden Musik. Es lässt sich an den Improvisationen der 1980er Jahre in der DDR sehr gut zeigen, dass Musiker und Publikum die Spielräume immer weiter entwickelt, ausdehnt und dabei auch Grenzen durchbrochen haben. Ich habe den Free Jazz in der DDR immer auch als eine Art musikalisch-ästhetisches Manifest der "konditionierten Distanz" zum DDR-System beschrieben, was implizit bedeutet, dass sich die Künstler/-innen in der DDR verortet, aber an ihr abgearbeitet haben: Es ging ihnen um einen gestaltbaren Spielraum der Selbstachtung und Selbstbehauptung, um eine Art "richtiges Leben im Falschen" führen zu können. Das hatte der Philosoph Theodor W. Adorno in "Minima Moralia" zwar prinzipiell ausgeschlossen, aber immerhin eingeräumt: "Einzig listige Verschränkung von Glück und Arbeit lässt unterm Druck der Gesellschaft eigentliche Erfahrung noch offen." Und wenn es noch eines empirischen Beweises für die gesellschaftspolitische Relevanz des Jazz bedarf, dann schaue man sich den Kollaps der Szene mit dem Mauerfall an. Viele MusikerInnen haben an die zehn Jahre gebraucht, um aus der prekären Situation herauszufinden. Andere haben das Musizieren gegen soziales Improvisieren tauschen müssen.
Es wird oft unterschätzt, dass nicht allein Künstler/innen mit ihren Werken und die sie unterstützenden Institutionen und politischen Praktiken entscheidend für die erzeugten Bedeutungen sind, sondern ein Teil der Rezipierenden (Leser/innen, Betrachter/innen, Zuhörer/innen) selbst Bedeutungen und die in ihnen angelegten und kontextabhängigen Transformationen beeinflussen und miterzeugen. Das trifft auch auf politische Meinungsbildungsprozesse zu. In der Wissenschaft werden diese Fragen im Diskurs der Rezeptionsästhetik verhandelt, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, nach den Wahrnehmungen der Werke zu fragen und sich damit gegen den Strukturalismus stellt, der allein vom Werk her argumentiert. Die Konstanzer Schule um Wolfgang Iser und Robert Jauß hat diese Debatte im deutschsprachigen Raum etabliert. Im angelsächsischen Sprachraum wird sie als „reader response criticism“ verhandelt. Der Kommunikationswissenschaftler und Wegbereiter der Cultural Studies Stuart Hall hat in seinem berühmten Aufsatz „Kodieren, Dekodieren“ (1977) beschrieben, dass eine Nachricht bzw. ein Text nie nur durch die Absendenden alleine bestimmt wird und die Empfangenden keineswegs nur passiv Empfangende sind. Der Literaturwissenschaftler Wolfgang Iser spricht in seiner Theorie von der Verknüpfungsleistung, die die Lesenden erbringen, indem sie sogenannte „Leerstellen“ mit Bedeutung versehen und damit überhaupt erst ein ganzheitliches Werk entstehen lassen. In den Künsten wird diese Frage seit langem reflektiert und gespiegelt. Ein berühmtes Beispiel findet sich am Schluss von Toni Morrisons pulsierendem Roman „Jazz“ über eine Liebe, die scheitern muss, weil sie ihre Wurzeln nicht kennt. Sie beendet ihren Roman mit einem überraschenden Hinweis:
„… Dass ich will, dass du mich auch liebst und es mir zeigst. Dass ich es liebe, wie du mich hältst, wie nah Du mich bei Dir sein lässt. Ich mag deine Finger da und dort, die mich heben und drehen. Ich beobachte dein Gesicht schon lange und habe deine Augen vermisst, als du von mir gegangen bist. Mit Dir reden und dich antworten hören – das ist das Schönste. Aber das kann ich nicht laut sagen; ich kann keinem erzählen, dass ich darauf mein Leben lang gewartet habe und dass das Zum-Warten-auserwählt-Sein der Grund ist, dass ich es überhaupt kann. Wenn ich es könnte, würde ich es sagen. Sagen: Bring mich dazu, mach mich neu. Du hast die Freiheit, es dich tun zu lassen, weil schau, schau. Schau, wo deine Hände sind. Jetzt.“
Toni Morrison ermächtigt ihre Leser/innen. Sie haben das Buch in der Hand. Es ist ein Zeichen der Zeit, dass die ermächtigten Rezipierenden sich heute mehr und mehr als Ko-Kreative verstehen, als Koproduzierende, die aus passiver Rezeption aktive Teilhabe werden lassen.
Es ist noch nicht lange her, dass das deutsche Feuilleton den Kuratoren der Documenta 14 (2017) fast einmütig Vorwürfe hinsichtlich der ästhetischen Qualität machte und ihnen einen penetranten belehrenden und lieblosen Auftritt vorwarfen. Auf Seiten eines Teils der BesucherInnen stellte sich in der Auseinandersetzung mit den Kunstwerken dagegen ein hochpolitischer Diskurs und damit ein ganz anderer Eindruck her. Besondere Aufmerksamkeit erlangte die Arbeit des Londoner Kollektivs Forensic Architecture über den NSU Mord in Kassel, der digital unter Einbeziehung aller verfügbarer Quellen minutiös rekonstruiert wurde und damit zur Speerspitze gegen die Ermittlungen und die Rolle von Geheimdiensten wurde. Der Ausstellungsbereich „Schöne Aussicht“ schleuste die Besucher durch eine Installation der deutschen Künstlerin Maria Eichhorn, die sich unter dem Titel „Rose Valland Institut“ mit Raubkunst und Provenienzfragen befasste. Die Besuchenden sind durch diese Arbeit aufgerüttelt und an die Betrachtung vieler zum Teil älterer Arbeiten u.a. aus Ostblockzeiten herangeführt worden und haben die Relevanz vieler dieser Werke vielleicht zum ersten Mal für sich erschlossen. Das Documenta 14 Beispiel zeigt eindrücklich, dass Rezipierenden heute, oft im Gegensatz zur professionellen Kunstkritik eine Schlüsselrolle bei der Bewertung der politischen Relevanz von Kunst und Kultur zukommt. Die Rolle, die der Kunst und der Kultur als Stabilisator demokratischer Gesellschaften zukommt, ist ohne die Rezipientenseite gar nicht mehr zu denken. Überlegungen, die stabilisierende Rolle von Kunst und Kultur auf labile Situationen demokratischer Gesellschaften zu untersuchen und sie ggf. zu aktivieren, kommen heute nicht mehr ohne die Potentiale der Ko-Kreativität und den kollaborierenden Praktiken eines selbstbewusst gewordenen Publikums aus.
Das gilt auch für den Jazz, der heute jedoch von KünstlerInnen und Publikum, eher und vorrangig unter dem Label „Kunst“ als unter dem der politischen Revolte diskutiert wird. Das ist nicht wirklich neu. Zu Beginn des letztjährigen Jazzfestes verwies der Kunstkurator Bonaventure Soy Bejeng Ndikung auf Amiri Bakara, der schon 1960 erinnerte, dass weiße Kritiker dem Jazz eher seine Virtuosität abgewönnen und die soziale Dimension des Jazz nicht begriffen. Bakara habe bei John Coltrane dagegen gelernt, dass Improvisation auch der Versuch sei, eine neue Sprache zu lernen. Eine Sprache nach dem Rassismus, wenn man so will. Das Jazzfestpublikum empfand diese Hinweise teilweise als Provokation und akklamierte: „Aufhören! Spielt endlich Musik“.
Auch diese gefährliche Form von Verweigerung der politischen Dimension des Jazz verweist insgesamt auf den Kontext der deutlichen Politisierung von Kunst und Künstler/-innen angesichts der Wiederkehr des Nationalismus und dem Aufstieg des Rechtspopulismus. Das kann sich noch bitter rächen, denn die grenzenlose Form autonomer freier Improvisation kann sich nicht auf einen Freibrief populistischer Kleingeister verlassen. Wir haben es auf dem Weg in die Spätmoderne aber nicht nur mit der erneuten Repolitisierung der Kunst zu tun, sondern vor allem auch mit den Prozessen von Kulturalisierung von Politik und Gesellschaft.
Zunächst diskutieren wir über Jazz und Politik, über Kunst und Revolte in einer Zeit, in der sich ein Teil des politischen Spitzenpersonals selbst als Kämpfer gegen Eliten und Establishments geriert, eine apolitische Sprache benutzt und die Formen des Politischen dekonstruiert – man kann auch sagen ad absurdum führt. Die deutschen Rechtspopulist/-innen schöpfen hier die Potentiale noch nicht ganz so gut aus, wie z.B. Donald Trump oder Silvio Berlusconi und sein italienischer Nachfolger Salvini, aber sie lernen sukzessive und verschieben die Grenzen des Sagbaren Schritt für Schritt und stecken vor allem das Feld des Kulturellen als Schauplatzes der Auseinandersetzungen ab.
Von den bürgerlichen Revolutionen bis heute hat sich die Wahrnehmung von und das Denken sowie Sprechen über Politik genauso immer wieder gewandelt, wie die Selbstinszenierung politischer Akteure. Dennoch folgen die Prinzipien der Repräsentation moderner Demokratien einer besonderen Logik oder Struktur, die von diesen Akteuren sukzessive durchbrochen wird. Dies, so Paula Diehl, geschieht vor dem Hintergrund globaler fundamentaler Veränderungen: „rapide technologische Entwicklung, Diversifizierung und Hybridisierung der Sende- und Formatangebote, eine Tendenz zur Medienkonzentration und Kommerzialisierung, eine verstärkte Fragmentierung des Publikums sowie dessen Betrachtung als Markt. Mit den hybriden Sendeformaten, die Unterhaltung und Information vermischen, wurden die Grenzen zwischen Realem und Fiktionalem fließend. Hyperrealität etablierte sich als Markenzeichen massenmedialer Unterhaltung, die zunehmend selbstreferenziell und selbstdekonstruierend wurde. Damit veränderte sich der Rahmen für politische Kommunikation und Repräsentation grundsätzlich.“ In der politischen Bildung sprechen wir in diesem Zusammenhang von einer Krise der Repräsentation, die das politische System als Ganzes gefährdet, denn sein Fortbestand hängt von wenigstens prinzipieller Akzeptanz ab, was natürlich Kritik an den Zuständen nicht ausschließt. Hier haben wir es aber vielfach mit der Infragestellung des Systems durch seine eigenen Vertreter/-innen zu tun, die bei der Verzerrung von Realität und Fiktion in erster Reihe beteiligt sind. Beispielsweise nutzen sie hybride Rollen und Hintergründe aus Unterhaltung und Politik, um ihre Wähler/-innen und Bürger/-innen zu erreichen. „Sie vermischen zunehmend Privates und Politisches, Fiktion und Realität, Amtsrepräsentation und Celebrity-Inszenierung.“ Beispielsweise bezieht Trump Stilmittel der Reality-Shows in die Politik ein. In Reality-Shows wie The Apprentice, in der er sich selbst spielte, verschaffte er sich ein Celebrity-Image, das zwischen Fiktion und Wirklichkeit angesiedelt ist. Die politische Kultur-Forscherin Paula Diehl zeigt an Beispielen, wie Trump seine Interviews wie eine Soap-Opera aufbaut, „bei der die Zuschauerinnen und Zuschauer bei der Stange gehalten werden, weil sie nicht alles auf einmal erfahren, sondern immer wieder auf die nächste Folge verwiesen werden. Der oft von Trump ausgesprochene Satz ‚We’ll see what happens“, um ein Interview mit Reportern abzuschließen, ist nicht nur bloßer Verlegenheitsgestus, um heiklen Fragen auszuweichen, er sichert sich die Aufmerksamkeit …, indem er verspricht, beim nächsten Mal die gewünschte Information zu geben bzw. die weitere Entwicklung der Geschichte zu erzählen. (…) Ferner nutzt Trump Tweets gezielt, um Skandale und Provokationen zu schaffen, womit er sein Publikum aufmerksam hält. Schließlich bildet sich die Struktur der Reality-Shows auf das politische Handeln des Präsidenten ab, etwa, wenn man die Entlassungsdynamiken der Mitglieder seines Kabinetts beobachtet. Zwei Drittel … wurden entlassen oder gezwungen, zurückzutreten.“ Auch in der Show The Apprentice bildete der Satz ‚You’re fired“ jeweils den Höhepunkt der Folge. Trump hat dieses mediale Formenspiel nicht erfunden, sondern auch Barack und Michelle Obama traten in unterschiedlichen Shows auf – er zum Beispiel in der Sendung „Comedians in Cars Getting Coffee“ des Komikers Jerry Seinfeld ; sie bei James Corden in Carpool Karaoke . Und selbst Gerhard Schröder hatte 1998 seinen Auftritt in der Serie „Gute Zeiten – schlechte Zeiten“ Guido Westerwelle trat in „Big Brother“ auf. Silvio Berlusconi entwickelte sich neben seinen Medienauftritten selbst zum Komödianten. Er „dekonstruierte sein Amt als Ministerpräsident, indem er bei offiziellen Terminen immer wieder den Clown spielte. Beispiel dafür ist seine aufgeführte Parodie der eigenen Amtsrepräsentation wie zum Anlass der Nationalen Parade am 2. Juni 2009…. Berlusconis Körperinszenierung drückt seine Parodie-Haltung zur politischen Institution aus. Das, was für die Unterhaltung als intellektuelle Distanzierung fungiert, führt in der politischen Repräsentation zur Zerstörung ihrer Werte und Prinzipien.“ Wie können vor diesem Hintergrund politische Kritik oder Kapitalismuskritik Form annehmen? Wer ist genau der Gegner?
In der politischen Bildung werden diese Phänomene vor dem Hintergrund der Kulturalisierung sämtlicher Lebensbereiche diskutiert. Kulturalisierung zielt dabei zum einen auf den Bedeutungszuwachs, den Kreativität und Performance in den letzten 30 Jahren gewonnen haben. Dies geschah im Zusammenhang mit dem Aufschwung der Kreativökonomie und dem Lifestyle-Kapitalismus seit den 1980er Jahren, verstärkt aber seit der Jahrtausendwende. In diesem Zusammenhang wird beispielsweise deutlich, dass Nonkonformismus zu einem Wert für die Gesamtgesellschaft avanciert ist. Zu den Hochzeiten des Jazz war beispielsweise noch klar, dass sich die Individuation von Jugendlichen meist über sichtbare Abgrenzung von Erwachsenen-Stilwelten vollzogen hat. Sprich: den Klamotten sah man die politische Haltung an. Wo in den 1970er und 80er Jahren relativ stabile Identitäten aus der – ebenfalls relativ stabilen - Zugehörigkeit zu einer bestimmten Jugendkultur abgeleitet werden konnten, findet heute nicht selten ein rascher Wandel statt. Dabei wurden die Parameter Nonkonformität, Besonderheit und Singularität wichtig, wie sie die soziologische Fachliteratur in den letzten Jahren fokussiert. Zwar wird eine der von der Systemtheoretikerin Elena Esposito identifizierten Paradoxien der Mode – alle gehen konform in dem Wunsch nach Nonkonformität – vermutlich ihre Gültigkeit nicht verlieren - allein, weil es das Einzigartige in der Welt der Dinge nicht gibt -, aber mit der starken Aufwertung des Individuums differenzieren sich auch die Mittel: nicht nur wird es heute gängige Praxis, Polohemden, Sneaker oder Müsli zu personalisieren – man kann mittlerweile bei Müslifirmen seine DNA-Probe abgeben und bekommt eine angeblich darauf abgestimmte optimale Mischung -, sondern mit den Möglichkeiten der Körpermodifikation wie dem Tätowieren, Piercen etc, werden permanent neue Singularisierungsmittel geschaffen. Bei der Selbstpräsentation auf den digitalen Bühnen kommt es zudem auf persönliche Fertigkeiten im Feld des Remix, des Sampling oder der Neu-Kontextualisierung von Stilen und Stilmitteln an. Was gut ist, entscheiden nicht primär Kriterien, sondern Erfolge auf Wettbewerbsmärkten, die Besonderheit und Nonkonformität honorieren.
Für die politische Dimension ist insbesondere wichtig, dass sich auch die politischen Lager und ihre Konflikte kulturalisieren. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel oder der Soziologe Andreas Reckwitz haben herausgearbeitet, dass wir heute weniger über Verteilungsfragen oder Kontroversen entlang der sozialen Lage diskutieren. Die Konflikte sind vielmehr kultureller Natur und entzünden sich insbesondere an der Frage, welche Lebensentwürfe und Gesellschaftsmodelle für wertvoll und erstrebenswert gehalten werden. Gesprochen und gestritten wird beispielsweise über Heimat, Identität oder Kulturerbe. Als Kontrahenten stehen sich quer durch viele Nationen Individuen und Gruppen gegenüber, die von den Sozialwissenschaften als ‚Hyperindividualisten‘ oder ‚Kosmopoliten‘ versus ‚Kulturessenzialisten‘ bzw. ‚Kommunitaristen‘ beschrieben werden. Beiden ist gemeinsam, dass sie – so Reckwitz - auf kulturellen Märkten um den Wert kultureller Güter streiten. Dabei können frei improvisierende MusikerInnen schnell als Agenten einer sich selbst optimierenden neoliberalen Ökonomie gelesen werden oder aber sich unversehens als Gehilfen kulturessentialistischer Vereinnahmungsstrategien wiederfinden, wenn sie in der Band von Andreas Galabier, wie gestern gehört, professionellen Swing- und Country-Sound beisteuern. Reckwitz arbeitet heraus, dass sich Kosmopoliten als Individualisten auf dem Weg zur Selbstverwirklichung formierten, Pluralismus als Bereicherung und die Angebote der globalen Kreativökonomie als Ausweitung ihrer Spielräume werteten. Kommunitaristen hingegen imaginierten sich als Communities mit geschlossener Außengrenze, spezifischer Geschichte, einzigartigem Erbe, singulärer Identität und Tradition. Für wertvoll gehalten würden hier Glaubenssätze, Symbole, die Leidensgeschichte einer Herkunftsgemeinschaft, während nach außen konsequent Abwertung betrieben werde: „die eigene, überlegene Nation gegen die fremden (Nationalismus), die eigene Religion gegen die Ungläubigen (Fundamentalismus), das Volk gegen die kosmopolitischen Eliten (Rechtspopulismus)“. Die identitären Gruppen teilten demnach untereinander zentrale Strukturmuster: Salafisten, Marine LePens Rassemblement National, Evangelikale oder Putins Nationalismus folgen laut Reckwitz´ Schlussfolgerung der gleichen Kulturalisierungsstrategie. Obwohl sich hier eine klare Konfliktlinie, sogar „Bruchlinie“ zeigt, steht das Kulturalisierungsthema auch im Zusammenhang mit der Frage der Auflösung von Grenzen. Wie der Medienwissenschaftler Andreas Wolfsteiner herausarbeitet, verschwimmen die Grenzen zwischen Innen und Außen, hier und dort, dem Eigenen und dem Fremden, zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre, Wahrheit und Fake News oder Mensch und Technik. Unter den Stichworten „Worldbuilding“ oder „Immersion“ beschäftigen wir uns nach seiner Auffassung mit Strategien der Grenzverwischung wie zum Beispiel dem Eindringen von Systemen private Sphären, dem Erzeugen von Affekten und Politiken von Stimmungen, die Vermessung und Algorithmisierung von Verhaltensweisen und vor allem auch mit der multisensorischen Inszenierung von Raum. Immersion beschreibt in einer Kurzdeutung das Eintauchen in künstliche Welten auf der Grundlage der Vorstellung eines Verschmelzens, eines Teilwerdens von einem Ganzen. Mit der Schaffung szenografierter Environments, in denen Geschichten auch in Abhängigkeit von den Fragen und Bewegungen der Besucher/innen entstehen, haben mittlerweile auch Musiker/-innen Erfahrung. Das alles ist dem zeitgenössischen Jazz nicht fremd. Anthony Braxtons Sonic Genome Projekt als Eröffnung des diesjährigen Jazzfestes könnte ein gutes Beispiel dafür sein.
Warum erwähne ich das in unserem Zusammenhang? Die Möglichkeiten der Kulturalisierung und der Digitalisierung haben einen Background eröffnet, vor dem Begriffe und Verständnisse aus dem letzten Jahrhundert in Bedrängnis geraten. Die Philosophin Hannah Arendt konnte im letzten Jahrhundert noch sagen: Der Sinn von Politik ist Freiheit! Freiheit meint dabei in einem Sinne Befreiung, was ja auch ein starkes Motiv im Jazz war. Der andere Sinn war so etwas wie „Freiheit für Politik“. Arendt leitete das aus Aristoteles Politikbegriffen ab, der das politische Handeln als menschliches Grundcharakteristikum herausstellte. Die bürgerlichen Revolutionen oder die Befreiungsbewegungen brachten spezifische Imaginationen von Freiheit hervor, die Menschen heute ermöglichen, mit den Gefühlen von damals in Beziehung zu treten. Dazu gehören Bilder, Farben, Orte oder natürlich auch Klangbilder und musikalische Motive. Die Protagonisten der Kulturökonomie profitieren von diesen Imaginationen, an die sie assoziieren können, um damit in erster Linie Geld zu verdienen. Innerstädtische Konsumtempel zitieren die früheren Orte der Freiheit wie die bürgerlichen Cafés oder Debattierclubs des 19. Jahrhunderts mit ihrer Formen- und Klangsprache, wecken kollektive Erinnerungen, haben aber mit dem Sinn von Öffentlichkeit im demokratischen Kontext nicht mehr viel zu tun. Der Freiheitsbegriff von Aristoteles war weniger ein individueller als insbesondere ein sozialer Begriff. Freiheit, Solidarität oder auch Persönlichkeit waren in seinem Verständnis im sozialen Kontext realisierbar. Das was wir heute als Identität bezeichnen hat auch eine soziale Dimension. Beispielsweise meint Identitätspolitik die Ausrichtung von politischen Entscheidungen an den Interessen oder Bedürfnissen von Minderheiten. Identität formt sich aber entlang der Maxime des Singulären und Besonderen, wie ich eingangs bereits am Beispiel der Thesen von Andreas Reckwitz gezeigt habe. Identität im Sinne des Hyperindividualismus vermittelt sich daher anders als Persönlichkeit vor zweihundert Jahren. Sie ergibt sich weniger aus Zugehörigkeit, als durch Vermittlung der eigenen Einzigartigkeit auf sozialen und digitalen Bühnen. Sie ist das Ergebnis kuratorischer Entscheidungen für die „richtigen“ Konsumartikel und kulturellen Codes. Dazu gehört auch die Auswahl des richtigen Essens, des richtigen Urlaubs und der richtigen Musik. Hyperindividualist/-innen haben sich aus den Zwängen von Herkünften, nationalen Bindungen, Traditionen und Religionen weitgehend befreit. Kulturelle Vielfalt und Diversität bereichert Ihre kulturellen Konsumwelten in Mode, kulinarischen Angeboten oder Musik. Aber mit den zunehmenden Zweifeln an neoliberalen Politikversprechen, werden die Schattenseiten und Herausforderungen der westlich geprägten Spätmoderne wieder sichtbarer. Das, was unter dem Sammelbegriff Rechtspopulismus aktuell in der Öffentlichkeit diskutiert wird und was ich eingangs schon mit dem Begriff „Kulturessenzialismus“ bezeichnet habe, beschreibt nicht nur zwingend Zugehörigkeiten, sondern insbesondere auch Ausgrenzungen: es wird bestimmt, wer dazu gehört und auch, wer draußen ist. In der politischen Auseinandersetzung um Diversität und Ansprüche von Minderheiten, wird Identität wieder zum Kampfbegriff. John Zorn äußerte sich dazu im Kontext der „Radikal Jewish Culture“: „Der Jude ist immer Ursprung einer doppelten Infragestellung gewesen: der Infragestellung des Selbst und der Infragestellung des ‚Anderen’. Da ihm nie die Möglichkeit gewährt wird, aufzuhören, jüdisch zu sein, ist er gezwungen, die Frage seiner Identität zu formulieren. Daher ist er von Anbeginn mit dem Diskurs des ‚Anderen’ konfrontiert, und oft hängt sein Leben davon ab. […] Mir wurde klar, dass ein Jude jemand ist, der naiv glaubt, dass er, wenn er selbstlos zu seiner Gastkultur beiträgt, akzeptiert werden wird. Aber wir sind die Außenseiter der Welt. Das ist es, was mich am Stamm [tribe] anzog – die Kultur des Außenseitertums.“ Für John Zorn, Elliot Sharp, David Krakauer, Shelly Hirsch, Fred Frith und andere jüdische Künstler/-innen rund um das Tsadik-Label bestand ein möglicher Umgang mit den identitären Zuschreibungen darin, Brooklyn/New York als ihr Israel zu definieren und gegen den Trend ihre Identität auf verschiedene Art und Weise politisch und postnational zu konstruieren. Diese Lösung steht aber nicht allen Adressat/innen von Othering-Strategien offen. Der Soziologe Armin Nassehi hat unlängst in der Sendung Deutschlandfunk Kulturfragen über Diversität gesprochen und dabei auf ein Paradoxon verwiesen, das unsere Zeit charakterisiert: Eines der Versprechen der Aufklärung bestand darin, dass Menschen nach dem beurteilt werden sollten, was sie sagen und wie sie handeln; nicht danach, was sie sind oder wo sie herkommen. Auch nicht danach, wie sie aussehen, wie sie gekleidet sind und welche Hautfarbe sie haben. Letzteres war immer für das rechte Denken charakteristisch: Für rechtsextreme Positionen zählt primär, was ein Mensch vordergründig „ist“; es gilt als unveränderbar: eine Frau bleibt demnach immer eine Frau, ein Schwarzer bleibt immer ein Schwarzer. In der Gegenwart haben wir es mit dem Phänomen zu tun, dass beispielsweise Angehörige von Minderheiten nicht nur sehr spezifische politische Rechte verwirklicht sehen möchten, sondern aus ihren Identitäten, also aus dem, was sie sind, eine spezifische Berechtigung ableiten, für ihre Belange zu sprechen. Anderen wird diese Berechtigung vielfach mit dem Argument abgesprochen, privilegierte Mehrheitsangehörige verfügten nicht über die speziellen Erfahrungen von Diskriminierung, um in Belangen von Diskriminierten mitsprechen zu können. Nassehi spricht sogar von einer Art Verpflichtung, in der Gegenwart zu sagen, wer man sei. Beispielsweise hätte man vor hundert Jahren weder sagen können, dass man schwul sei, noch hätte man es sein dürfen. Dann hätte man es irgendwann sein können, aber nicht zu sagen brauchen. Heute dagegen müsse man es verbalisieren. Wie bringt man das mit dem Emanzipationsanliegen der Aufklärung zusammen und was ergibt sich daraus für die Bildung? Kurz gefasst: ich halte den kaum erfüllbaren Anspruch der Aufklärung immer noch für relevant. Richtig ist aber auch, dass es weiterhin Diskriminierung und rassistische Vorurteile, abwertende Bilder und Othering – das Herauspräparieren des Andersartigen -, aber insbesondere auch strukturelle Benachteiligung gibt. Es ist also besonders für nicht normative „Andere“ sehr wichtig, zum Ausdruck zu bringen, wer man ist. Dass hier leider ein Einfallstor für rechte Politik liegt, ist aktuell nicht zu verhindern. Aber es gibt demgegenüber eine neue Macht der Kunst sich solidarisch zu positionieren, sofern sie politisch sein und sich für den demokratischen Rechtsstaat einsetzen will. Das Problem der Demokratien kann sich hier zu ihrem Vorteil wenden: mit der sinkenden Macht der etablierten RepräsentantInnen von Politik geht ein wachsender Einfluss von glaubwürdigem politischen Aktivismus einher, wie er vor allem in den Kunstszenen, aber auch bei Bewegungen wie Fridays for Future zu finden ist. Hier werden transnational neue Publika aktiviert und Communities für politische Forderungen formuliert. Meine These heute fokussiert genau diese Selbstermächtigung eines Teils des Publikums, die es auch als freie ImprovisatorInnen zu reflektieren gilt.
Das alles nützt aber wenig, wenn sich dafür keine Organisationsform materialisiert. Für zeitgenössischen Jazz braucht es wie in anderen kreativen Kunstsparten professionelle Ausbildungs- Vertriebs- und Förderstrukturen. Die müssen der Kunst- und Kulturpolitik in hartem Wettbewerb abgerungen werden. Dafür ist eine maximale interessenspolitische Organisationsform zu entwickeln, die auch auf eine lebendige Rezipientenseite, einschliesslich professionell, innovativ und kuratorisch arbeitender Veranstalter angewiesen sind. Ein überaltertes und selbstreferentielles Publikum steht dem ebenso im Wege, wie ausschließlich marktkonforme Kunstproduktion. Dazu kommen Ausbildungsgänge, die in der Zukunft, anknüpfend an den Kulturalisierungsbefund, ethische und politische Entscheidungskompetenzen integrieren sollten, sonst steht man am Ende des Tages mit Musikern auf der Bühne, die der freien Improvisation das finale Grab schaufeln. Kritische politische und kulturelle Bildung sind gefragter denn je. Auch wenn sich in den letzten Jahren die Förderungen diversifiziert und deutlich weiterentwickelt haben: Von einer strukturierten Jazzförderung kann in Deutschland leider immer noch keine Rede sein. Dabei gibt es so viele junge, gut ausgebildeten JazzmusikerInnen, die wohl bis auf weiteres immer noch davon leben müssen, genrefremd zu arbeiten, Taxi zu fahren oder Software zu programmieren. Dem musikskeptischen Aufklärer Settembrini aus Thomas Manns "Zauberberg", den ich eingangs erwähnt habe, samt seiner zeitgenössischen epigonalen politischen BesserwisserInnen, die das kreative Geschehen am liebsten dem Markt überlassen wollen oder in der Expertenblase kontrollieren wollen, kann man so jedenfalls nicht den Marsch blasen...
- Es gilt das gesprochene Wort -