Meine sehr verehrten Damen und Herren, Frau Kulturstaatsministerin,
der Essener Kabarettist und Satiriker Hagen Rether erinnert in der jüngsten Ausgabe seines Programms, das seit nunmehr 15 Jahren "Liebe" heißt, an die ungleichen Versuche von Ex-FBI-Chef James Comey und Papst Franziskus, Donald Trump öffentlich "zusammenzufalten". Er habe sich, vor dem Fernseher sitzend, dabei erwischt, dass er jeweils Comey und dem Papst die Daumen gedrückt habe. Irgendwann habe er sich allerdings gefragt, ob er verrückt geworden sei: er, daumendruckend, auf der Seite von FBI-Bossen und Päpsten? Er kommt schließlich zu dem Ergebnis, dass heute alles möglich werde, wenn nur der Referenzpunkt tief genug hange.
Etwa so ist es mir ergangen, als die Teilnehmer/innen der Expertenworkshop-Reihe, die wir mit der Kulturpolitischen Gesellschaft gemeinsam ausrichten, vor zwei Jahren mit dem Vor-schlag auf uns zugekommen sind, Heimat zum Thema des diesjährigen Bundeskongresses zu machen: Waren es nicht die Rechtspopulisten, die den Begriff in die politische Debatte eingeführt hatten, um ethnisch definierte Privilegien einzufordern, frei nach dem Orwellschen Paradigma "Alle sind gleich, manche sind gleicher"? Muss man denn über jedes Stöckchen springen, was einem hingehalten wird? Ist uns überhaupt bewusst, wie hier mit dezidiert gesetzter Sprache tektonische Verschiebungen in der Gesellschaft erzeugt werden? Sprache spiegelt nicht nur gesellschaftliche Realität, sie schafft sie auch. Sprache ist und kann konkretes Handeln werden. Am Ende des Tages wird auf engagierte, über die Parteigrenzen hinweg geschätzte Politiker/innen geschossen.
Meine Damen und Herren, das war keine Episode, das ist der Ernstfall, der uns alle herauszufordern hat. Inzwischen hatte sich auch die Lage der Bundeszentrale für politische Bildung maßgeblich geändert. Wir wurden und sind noch Teil eines Heimatministeriums. Es blieb uns also gar nichts anderes übrig als gute Miene zum bösen Spiel zu machen, an unserem ‚genetischen Code‘, dem Kontroversitätsgebot festzuhalten und uns daran zu erinnern, dass wir 1952 als „Bundeszentrale für Heimatdienst“ gegründet wurden.
Bemerkenswert ist, dass die Debatten des letzten Bundeskongresses, der noch die globale Perspektive fokussiert hatte, nachwirken. Die Analysen der Politikwissenschaftler und Sozio-logen wie Wolfgang Merkel, Andreas Reckwitz und zuletzt auch Cornelia Koppetsch, nach denen neben die Horizontale der ideologischen Bedeutungen die Vertikale der Kulturalisierung tritt und an Dominanz gewinnt, haben an Evidenz gewonnen und werden breit diskutiert und präzisiert. Die Kulturalisierung des Sozialen hat in ihrer kulturessentialistischen Spielart die überraschende Folge, dass das Feld der Kulturpolitik aufgewertet und von der Rechten auf das ideologische Schlachtfeld geführt wird. Also allem Verdruss zum Trotz: Die Mitarbeitenden der KuPoGe haben Recht behalten: Es wird höchste Zeit, dass wir uns in den Kulturinstitutionen wie im Feld der Kulturpolitik mit dem Verständnis von Heimat befassen und unsere Praktiken überprüfen. "Heimat" ist eine Konstruktion. Jede und jeder versteht etwas anderes da-runter. "Heimat" bekommt man nur im Plural. Erst recht in einer "Gesellschaft der Singularitäten". Früher in den 1970gern, so Andreas Reckwitz sinngemäß, wollten alle einen VW, einen Fernseher und eine Waschmaschine. Heute geht es um die richtige Schule für das eigene Kind, die außergewöhnliche Ferienreise jenseits des Massentourismus und den ultimativen Geheimtipp für ein veganes Restaurant. Diesen, nur an ihre Besonderheiten denkenden Hyperindividualisten stehen zunehmend wütende Kulturessentialisten gegenüber, die, auch auf recht verschiedene Weise, Zusammenhalt und die Welt von gestern im heute suchen. Wer über Heimat nachdenkt, ohne das emanzipierte Individuum mitzudenken, landet schnell bei einem aufgeblasenen romantischen Begriff von Heimat, einer Schimäre eben.
Franz Kafka beschreibt in seiner kurzen Erzählung "Heimkehr", was dem Individuum passiert, je naher es seinem "Heim" kommt. Er bedient sich dabei des Motivs des "verlorenen Sohns", erzählt sie aber aus der Perspektive des Sohns und nicht des Vaters. "Ist dir heimlich, fühlst du dich zu Hause? Ich weiß es nicht, ich bin sehr unsicher. Meines Vaters Haus ist es, aber kalt steht Stück neben Stück, als wäre jedes mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, die ich teils vergessen habe, teils niemals kannte." Kafka beschreibt die Heimkehr, die die Motive von Zugehörigkeit und Herkunft reflektiert, als Entfremdungsprozess. Ein selbstbewusst werdendes Individuum, das selbst und nicht in einer Gruppe Geschichte schreibt, steht so etwas wie "Heimat" seit der Moderne ratlos gegenüber. Kafka schließt seine Kurzerzählung: "Was sonst in der Küche geschieht, ist das Geheimnis der dort Sitzenden, das sie vor mir wahren. Je länger man vor der Tür zögert, desto fremder wird man. Wie wäre es, wenn jetzt jemand die Tür öffnete und mich etwas fragte. Wäre ich dann nicht selbst wie einer, der sein Geheimnis wahren will." Ich gebe zu, dass mir der Heimatbegriff vor diesem Hintergrund suspekt bleibt. Aber eine diskursive offene Gesellschaft sollte grundsätzlich gesprächsbereit bleiben. Ich bin deshalb bereit, anderen Verständnissen von Heimat ernsthaft zuzuhören und sie nicht von vornherein zu diskreditieren. Umgekehrt mochte ich aber auch, dass meine Argumente zur Kenntnis genommen werden.
Vier Typen von "Heimat" kann man - in aller Kürze und wirklich sehr knapp – u.a. unterscheiden – die Liste ist nicht abgeschlossen:
1. Der kritische Heimatbegriff, der "Heimat" als Herrschaftsbegriff versteht, markiert die Praktiken des Ausschlusses. Wer gehört dazu, wer nicht usw. Hier werden asymmetrische Machtbeziehungen aufgedeckt, die die Auf- und Abwertung von Menschengruppen induzieren. "Heimat" muss, so deren Protagonist/innen, deshalb als Begriff dekonstruiert werden. Eine Gesellschaft der Gleichen und Vielen braucht deshalb Strategien der Entheimatung, um die Ansprüche der Gleichheit überhaupt einzulösen. Dieser kritische Heimatbegriff hat aber einen Nachteil. Wenn Zugehörigkeit und Herkunft verhandelt werden sollen, dann bleibt diese Dekonstruktion auffällig emotionslos. Wenn der Begriff „Heimat“ erst zerstört ist, so die Suggestion, dann wird alles gut.
2. Der inklusive Heimatbegriff geht aufs Ganze. Er dekodiert den Heimatbegriff durch eine neue Kodierung. Heimat wird nicht retrotaktisch interpretiert, sondern quasi projiziert. Eine Heimat der Vielen wird für möglich gehalten. Ein Beispiel? Ich zitiere aus dem Song B-Style der Berliner Band RotFront:
"Wir haben Jogger wir haben Hänger wir haben Rapper wir haben Sänger/ wir haben Deppen wir haben Kenner/ wir haben Zecken wir haben Banger/ wir haben Reiche wir haben Penner/ hier haben Kneipen bis es dämmert Bier/ und Weiber wie auch Männer kriegt man beides für ein Tenner/ also komm nach Berlin nimm dir Zeit komm vorbei du bist pleite kauf hier alles für ein Apfel und ein Ei jeder Bezirk hat ein eigenes Amt Berlin ist keine Stadt Berlin ist ein Heimatland"
Ein solches inklusives Verständnis ist natürlich eine große Einladung und ermöglicht eine multiple Aneignung von Heimat. Aber konfliktfrei ist diese inklusiv gedachte Gesellschaft sicherlich nicht. Mit einem verklärten hyperindividualistisch gelebten Kosmopolitismus und einem unkritischen Multikulti wird man der Komplexität und den unterschiedlichen Interessen sicherlich nicht gerecht.
3. Bleibt ein romantischer Heimatbegriff, der Zugehörigkeit und Herkunft retroutopisch organisiert. Jeder Mensch hat seine Geschichte und die reicht quasi in ein Stadium der Unschuld zurück, aus dem man für die eigene Selbstvergewisserung von Zugehörigkeit und Herkunft seine Erzählung schöpft. Ich will dieses Verständnis nicht von vornherein diskreditieren und deshalb verstehen, wie man aus solchen Heimaterzählungen die ganzen Abgründe der jüngeren Geschichte "rauserzählen" kann, ohne "rot" zu werden. Mehr dazu erfahren wir sicher heute noch von Geraldine Schwarz, deren Buch "Die Gedächtnislosen" 2018 den Europäischen Buchpreis in Leipzig erhalten hat. Faschismus, Kolonialpraktiken und Kommunismus liegen bis heute wie Mehltau auf dem Heimatbegriff und vergiften ihn.
4. Eine zweifelsohne besondere Form könnte man den postutopischen Heimatbegriff nennen. Dafür gibt es auch ein gutes Beispiel. Nicht selten begegnet man der Behauptung einer DDR-Heimat. Ich kann mich nicht erinnern, dass außerhalb der lächerlichen Agitpropmaschine des SED-Apparates mit der DDR so etwas wie Heimat verbunden wurde. Und auch den linken Exilanten, die sich nach dem 2.Weltkrieg für das aus ihrer Sicht bessere Deutschland entschieden haben ist die Heimatsehnsucht ziemlich schnell mit Panzerketten ausgetrieben worden. Dagegen feiert „DDR-Heimat“ heute fröhliche Urständ. Bei Lichte besehen beginnt die postutopische DDR-Heimat erst nach dem Untergang der DDR und markiert wohl eher die Differenz zu einer westdeutschen Zugehörigkeitserzählung, mit der man sich nicht identifiziert.
Es gibt sicher weitere Heimatmodelle. Die Frage bleibt aber, wie es uns gelingen kann, diese völlig unterschiedlichen Perspektiven ins Gespräch zu bringen. Vielleicht braucht es hier die "gefährlichen Begegnungen", von den Heinz Bude spricht. Heinz Bude beschreibt in seinem aktuellen Buch "Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee", warum sich die "Kinder" der französischen Revolution neben liberté und egalité für fraternité, Brüderlichkeit, als drittem Begriff entschieden hatten: Gemeinsam hatten sie Ludwig XVI., den "Vater" getötet. Nicht nur aus der Notwendigkeit zum Zusammenhalt, sondern auch aus der gemeinsamen Schuld heraus, entstand ein aufeinander Angewiesen-Sein und der Zwang, sich gegenseitig zu überwachen: "ob der Einsatz für die gemeinsame Sache reicht oder ob man sich gar des Verrats an der gemeinsamen Sache einer neuen Morgenrote schuldig macht". Spätmoderne Gesellschaften werden also bestenfalls Solidargemeinschaften untereinander Unvertrauter sein, wie Paul Mecheril es beschreibt. Oder sie werden nicht sein. Exklusiv gedachte Volksgemeinschaften, wie sie die Neue Rechte proklamiert, sind weltfremd und werden, so hoffe ich doch, auf entschiedenen Widerstand treffen. Deshalb an deren Adresse: "Heult doch"! Eure reaktionären Phantasien werden unsere Inspiration sein, es mit den "gefährlichen Begegnungen" zu versuchen und Herkunft und Zugehörigkeit neu zu denken und zu leben.
Meine Damen und Herren, Freiheit, Bürger/innenrechte und spezielle Rechte für spezielle Bedürfnisse kann es nur geben, wenn wir uns sie gegenseitig anerkennen. Und das auch über die Grenzen hinaus. Seit 70 Jahren ist das Grundgesetz immer noch die Rechtsgrundlage für eine weniger räumlich gemeinte, sondern ideelle Heimat, in der sich viele geschützt, aber frei entfalten können. In einer noch unveröffentlichten Studie von Professor Jens Adam von der Universität Bremen lassen sich positive Ansatzpunkte für eine Kulturpolitik finden, die den Heimatgedanken über nationalstaatliche Grenzen hinweg neu fassen will. Jens Adam votiert dafür "die Auflösung gewohnter Grenzen nicht nur anzuerkennen, sondern kulturpolitisch produktiv zu machen; in der Betonung der Schaffung von Freiheitsräumen für und Zugängen zu Kunst und Bildung jenseits klassischer nationalstaatlicher Zuständigkeiten; in der Forderung nach einer sukzessiven Überführung kulturpolitischer Infrastrukturen in europäische Konstellationen oder nach einer stärkeren Öffnung inländischer Kultureinrichtungen für Koproduzent/innen aus dem Globalen Süden.“ Norbert Sievers, unser Partner beim Kulturpolitischen Bundeskongress seit fast 20 Jahren, beschreibt Heimatpolitik als Kulturpolitik, die sich mit den Gegenwarts- und Zukunftsproblemen aufklärend und ideologiefrei auseinandersetzt, um eine lebenswerte Welt zu gestalten, die möglichst allen Menschen selbstgewählte Heimaten im Plural ermöglicht. Das kann ich unterschreiben. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, Dir, lieber Norbert, für die vielen Jahre der guten Zusammenarbeit an dieser Stelle zu danken, da dies ja leider Dein letzter Kongress sein wird. Für die politische Bildung warst Du der ideale Partner: solidarisch, kritisch, streitbar, intellektuell und mit einem Sensor für die heißen Fragen der Zeit ausgestat-tet. Ich werde die Abstimmungsprozesse und Diskussionen mit Dir vermissen. Da bleiben Phantomschmerzen! Bestimmt auch bei meiner Kollegin Sabine Dengel. Ihr beide habt mit Euern Teams und vielen Experten diese Kongresse gestemmt. Hochachtung! Du hast dir unser aller Anerkennung verdient.
- Es gilt das gesprochene Wort! -