Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Annette Ramelsberger, lieber Rainer Stadler, lieber Sebastian Koch, lieber Malte Sundermann,
am 11. Juli 2018, fast genau vor einem Jahr, wurde das Urteil im NSU-Prozess gesprochen.
Die Hauptangeklagte Beate Zschäpe wurde zu lebenslänglicher Haft, vier Helfer des Terrortrios zu unterschiedlich langen Haftstrafen verurteilt. Noch sind die Urteile nicht rechtskräftig, die schriftliche Urteilsbegründung liegt bis heute nicht vor. Viele Fragen blieben offen – gerade aus Sicht der Opfer und ihrer Hinterbliebenen. Wie groß war das Unterstützernetzwerk des NSU wirklich? Warum blieb die terroristische Mordserie so viele Jahre unentdeckt? Zahlreiche Untersuchungsausschüsse haben sich mit dem NSU-Komplex befasst. Deutlich wurde vor allem ein immenses gesellschaftliches, politisches und institutionelles Versagen.
Ein Jahr ist seit dem Urteilsspruch vergangen. Wer sich vom Prozessende einen Schlussstrich erhofft hatte, was rechten Terror in Deutschland angeht, muss sich eines Besseren belehrt fühlen. Am 2. Juni 2019 wurde der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke auf seiner Veranda erschossen. Ein politisches Attentat – eine Hinrichtung –, mutmaßlich durchgeführt von einem einschlägig bekannten Nazi, der bis zuletzt in der militanten Szene verkehrte – auch wenn die Sicherheitsbehörden ihn nach eigenem Bekunden nicht mehr als auffällig einschätzten.
Ein in U-Haft sitzender möglicher Helfer des dringend Tatverdächtigen wurde bereits im Fall des vom NSU ermordeten Halit Yozgat von der Polizei vernommen. Der Name des mutmaßlichen Lübcke-Mörders tauchte bereits im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss auf. Natürlich bieten solche Zusammenhänge zunächst nicht viel mehr als einen Raum für Spekulationen. Aber der Mord an Lübcke führt auf schockierende Art und Weise allen die wachsende Gefahr des rechten Terrors vor Augen. Die heutigen Taten rechtsextremer Terroristen verweisen auf den NSU.
Der Mord an Walter Lübcke ist kein Einzelfall, im Gegenteil. Militante Neonazis planen Gewaltakte und bedrohen Mitbürgerinnen und Mitbürger. Die Anwältin Seda Basay-Yildiz wurde von einer Gruppe mit Namen „NSU 2.0.“ – mutmaßlich bestehend aus Polizisten – mit dem Tode bedroht. Auf dem Briefkopf eines Drohschreibens stand: "Dieses kostenlose Fax wurde Ihnen von Uwe Böhnhardt geschickt."
Die Gruppierung „Revolution Chemnitz“ plante den Ergebnissen der Ermittler zufolge Morde an Migranten und Andersdenkenden. Der NSU – so die Nachricht in einem Chat der Gruppe – sei "wie eine Kindergartenvorschulgruppe" im Vergleich zu dem, was man selbst vorhabe.
In Mecklenburg-Vorpommern führte eine Gruppe mit dem Namen „Nordkreuz“, der auch Polizisten angehörten, Todeslisten mit Personen, die nach einem Tag X getötet werden sollten, darunter Lokalpolitiker, die sich für einen humanen Umgang mit Geflüchteten einsetzten. Die Täter hatten Waffen und tausende Schuss Munition gehortet. Zudem hatten sie sich im großen Ausmaß Löschkalk besorgt, der in Massengräbern verwendet wird.
Es ist so ernüchternd wie alarmierend, dass rund acht Jahre nach der Entdeckung des Terrortrios Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe und der damals allerorts artikulierten Erschütterung die Hemmschwelle rechtsextremer Gewalttäter weiter abzusinken scheint. Der NSU übt auf die militante rechte Szene offensichtlich weiter große Strahlkraft aus. Die NSU-Helfer Ralf Wohlleben und André E. lassen sich heute in der Szene als Helden feiern. Sie sind im Nazi-Milieu aktiv wie eh und je. Vor einem Jahr klatschten mitgereiste Nazis, als die Urteile verkündet wurden. Mit Verkündung der Haftstrafen war klar war, dass Ralf Wohlleben und André E. den Gerichtssaal als freie Männer verlassen würden. Das Klatschen – das vom Gericht mit keinem Wort kommentiert wurde – war ein erneuter Schlag ins Gesicht aller Angehörigen der Opfer.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
die Protokolle aus dem NSU-Prozess – über die wir heute sprechen und aus denen wir hören werden – sind in vielerlei Hinsicht von unschätzbarem Wert. Sie sind eine historische Quelle von bleibender Relevanz, sie bringen Transparenz in den aufwändigen und mitunter quälenden Prozess juristischer Wahrheitsfindung – sie sind die düstere Beschreibung einer deutschen Realität, deren traurige Kontinuität wir aktuell wieder feststellen müssen.
Die Autorinnen und Autoren sprechen zu Recht von einer „Tiefenbohrung“ in die deutsche Gesellschaft. Etliche Passagen lassen einen fassungslos und erschüttert zurück, manche Schilderungen sind nahe an der Grenze zum Unerträglichen.
Doch wer verstehen will, warum mitten in Deutschland über viele Jahre unentdeckt gemordet werden konnte, für den sind die Protokolle des NSU-Prozesses eine unverzichtbare Lektüre.
Sie blicken nicht nur in die dunkle und menschenverachtende Welt des Rechtsextremismus, sie machen auch die bleibenden Wunden auf Seiten der Angehörigen sichtbar und zeigen zynische juristische Manöver und bornierte Ermittler, die Opfer durch Verdächtigungen ein zweites Mal zu Opfern machten. Sie zeigen aber auch – das sei an dieser Stelle ebenfalls gesagt – die Stärke unseres Rechtsstaats, der vielleicht nicht für „Gerechtigkeit“ sorgen mag, der aber im Stande war, einen Prozess von diesem historischen Ausmaß nach rechtstaatlichen Regeln durchzuführen und am Ende Urteile zu sprechen.
Annette Ramelsberger, Rainer Stadler, Wiebke Ramm und Tanjev Schulz ist es zu verdanken, dass sich die Öffentlichkeit selbst ein Bild von dem machen kann, was sich an den 438 Verhandlungstagen im Gerichtssaal A101 des Oberlandesgerichts München ereignet hat. Die Leistung des Autorinnenteams kann an dieser Stelle nicht genug gewürdigt werden.
Annette Ramelsberger und Rainer Stadler werden gleich ausführlicher über den Prozess, ihre Arbeiten am Protokoll und ihre heutige Einschätzung sprechen. Sebastian Koch und Malte Sundermann werden Auszüge aus dem Protokoll lesen, die nochmals die Abgründe nachvollziehbar machen, die der Prozess zu Tage förderte.
Der NSU – das macht das Protokoll deutlich – hat eine lange Vorgeschichte, die auf eklatante Versäumnisse hinweist; auf Landstriche, die vernachlässigt wurden und in denen rechtsextreme Akteure bald den Raum besetzten, den das wiedervereinigte Deutschland ihnen überließ. Und es erzählt die Geschichte einer Migrationsgesellschaft, die keine sein wollte und die – trotz unzähliger Debatten um innere Sicherheit – einem Teil seiner Bürger keine Sicherheit bieten konnte oder wollte.
Der NSU ermordete zehn Menschen: Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter. Das Leid, das ihre Angehörigen bis heute ertragen müssen, ist unermesslich und wird niemals in irgendeiner Form wettzumachen sein. Alleine schon ihnen – aber auch allen anderen Opfern rechter Gewalt – sind wir es schuldig, Schlüsse zu ziehen aus den Ereignissen. Dies sage ich insbesondere mit Blick auf die gerade geschilderten Ereignisse, die wir in diesen Tagen erleben müssen.
Wir können rechtem Terror nicht erst begegnen, wenn Schüsse fallen und Sprengsätze explodieren. Es beginnt stets mit Gesten, Worten, Äußerungen, mit einem demokratie- und menschenverachtenden Auftreten. Ist der gesellschaftliche Diskurs mit Hass aufgeladen, fühlen sich Rechtsextreme offensichtlich legitimiert. Auch dem Mord an Walter Lübcke wurde mit Worten, Tweets und Drohungen der Boden bereitet. Staatliche Institutionen und die Zivilgesellschaft müssen dem entschieden gegenüber treten. Solche Aussagen sind stets schnell getroffen, sie haben etwas floskel- und gebetsmühlenartiges. Aber es geht hier nicht um diffuse Bedrohungen – es geht um den Kern unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens. Es muss uns klar sein, dass wir uns durch Verharmlosung mitschuldig machen. Oder wie das Autorenteam um Annette Ramelsberger und Rainer Stadler im Vorwort der Protokolle schreibt: „Der Prozess hat gezeigt, dass es eben nicht gereicht hat, wegzusehen, damit rechte Umtriebe verschwinden. Sondern, dass Rechtsradikale durch Verharmlosung stark gemacht werden und sich stillschweigend unterstützt fühlen, weil ihnen niemand entschlossen entgegentrat.“
Es scheint, als würden wir alte Fehler wiederholen, obwohl wir es besser wissen müssten. Die Aufarbeitung der Taten des NSU kann erst am Anfang stehen.
Vielen Dank an dieser Stelle nochmal speziell an Anette Ramelsberger, die diese Veranstaltung zum ersten Jahrestag der Urteilsverkündigung kurzfristig angestoßen hat. Wir sind Rainer Stadler, Sebastian Koch und Malte Sundermann sehr dankbar, dass sie heute mit uns hier sind.
Ein großer Dank geht auch an Antje Kunstmann und ihren Verlag für die hervorragende Kooperation. Der Verlag hat mit der Veröffentlichung der über 2.000 Seiten starken Prozess-Protokolle im vergangenen Herbst ein außerordentliches publizistisches Risiko auf sich genommen. Bei der Bundeszentrale für politische Bildung ist jetzt eine ungekürzte Sonderausgabe erhältlich, bei deren Umsetzung der Verlag großes Entgegenkommen gezeigt hat. Möge diese Ausgabe der breiten politischen Bildung und damit der Demokratie in unserm Land dienen!
Ich bedanke mich ferner ausdrücklich bei meiner Mitarbeiterin Anja Fredebeul-Krein, die umsichtig und gewissenhaft in kürzester Zeit diese Veranstaltung mitten in der Berliner Ferienzeit ermöglicht hat.
Und nun übergebe ich an…
- Es gilt das gesprochene Wort! -