Sehr geehrte Damen und Herren,
die Grenzen zwischen Kunst, Politik und Gesellschaft verschwimmen. Was wir gedanklich noch auseinanderhalten - Innen und außen, hier und dort, Wahrheit und Lüge, Öffentlichkeit und Privatheit, Mensch und Technik - verschmilzt zu neuen Wirklichkeiten. Das bereitet vielen Menschen große Schwierigkeiten und löst auch Sorgen und Ängste aus. Kollektive Angst kann schwerwiegende politische und soziale Konsequenzen haben. Das hatte Franklin D. Roosevelt verstanden, der nach den Jahren der Großen Depression äußerte, er habe den Amerikanern in die Augen geschaut und dabei die Angst gesehen. Auf die politische Agenda brachte er das Thema Angst im Rahmen seiner Antrittsrede als 32. Präsident der Vereinigten Staaten am 3. März 1933 mit dem bekannten Diktum „The only thing we have to fear is fear itself“ . So zitiert es der Soziologe Heinz Bude in seinem Buch über die „Gesellschaft der Angst“, wo er versucht dem Phänomen der sozialen Stimmungen auf den Grund zu gehen. Wie kommt es, dass in objektiv guten Zeiten die Zeichen auf Niedergang stehen? Können wir mit den Mitteln der kulturellen Bildung hier etwas erreichen?
Aktuell setzen sich die Kunstsammlungen Chemnitz (mit Unterstützung der bpb) mit den Arbeiten des Künstlers Mario Pfeiffer auseinander, der sich dem Thema widmet, dass vieles nicht so ist, wie es auf den ersten Blick aussieht. Wahrheit ist oft sehr vielschichtig und kann nur durch Abwägen kontroverser Positionen erfasst werden. In seiner Videoarbeit „Über Angst und Bildung, Enttäuschung und Gerechtigkeit, Protest und Spaltung in Sachsen/Deutschland“, die seit 2016 fortlaufend ergänzt wird, präsentiert Pfeifer neun 75-minütige Einzelgespräche, die er mit Personen aus dem Pegida-Umfeld, nämlich konkret einem Unternehmer, einer Bürgerin, einem Gewerkschafter, einer Bürgermeisterin, einem Aktivisten, einem Konfliktforscher, einer Bildungswissenschaftlerin sowie einem Autor und Psychotherapeuten geführt hat. Pfeifer fragt, filmt, clustert die Themen, webt ein Gewebe der Erfahrungen und Einschätzungen zur aktuellen gesellschaftspolitischen Lage. In Großaufnahmen schildern die Gesprächspartner ihre Ziele, Ideen und die Widerstände, die ihnen im Weg stehen. Thematisch geht es um Leben, Angst und Fremdenangst, Armut, Flüchtlinge, Abwanderung, Lohnungleichheiten, innerdeutsche Arbeitsmigration, politische Bildung und deren Fehlen, Auswirkungen des Neoliberalismus.
Warum sollte man sich mit diesem Kunstwerk beschäftigen? Hat der Film etwas mit kultureller Bildung oder Teilhabe zu tun? Zumindest legt er die These nahe, dass wir sehr viel Zeit brauchen, um zuzuhören. Sehr viel Zeit, um zu verstehen, dass Menschen vielschichtig und zerrissen, ambivalent in ihren Haltungen sind. Und auch, dass Denken, Gefühle, Reflexion und Stimmungen, soziale Lage und Identität keine stabilen Eigenschaftsprofile abbilden. Einfache Feindbilder – wir hier und dort drüben die anderen, die Moral bei uns, Gewalt und Amoral bei den anderen - greifen in der Regel nicht. Der Film legt auch nahe, dass es wie in der Bildung um die Einzelnen und deren Teilhabe-Chancen in der Gesellschaft geht. Der kulturelle Bildungsbegriff, wie wir ihn in der Bundeszentrale für politische Bildung verstehen, meint nicht künstlerische Bildung, sondern gesellschaftspolitische Bildung durch Kunst und ganzheitliches Verstehen durch kreative Auseinandersetzung mit Kunst.
Politische und kulturelle Bildung teilen das Ziel, Menschen die Aneignung von Welt zu erleichtern. Aneignung von Welt ist die Voraussetzung von Teilhabe und impliziert heute insbesondere, dass ein Umgang mit der Vielschichtigkeit und oft schwierigen Zugänglichkeit von Wirklichkeit möglich wird. Das Ungewisse, Ambivalente, Ambige, Alteritäre, das Unvereinbare sind Parameter, die das Leben im 21. Jahrhundert zentral beschreiben. Ein Sinn von kultureller Bildung besteht darin, dies als das „Normalste der Welt“ zu begreifen. Ein anderer besteht darin, Distanz und Kritik zu ermöglichen. Kritik ist das Medium, das nachfolgenden Generationen über die Aneignung unserer Welt hinaus den Weg zur Gestaltung ihrer Welt öffnet. Spätestens seit der Romantik funktioniert das Erwachsenwerden auch über Kritik und Rebellion. Identität formt sich durch teils schärfste Abgrenzung gegenüber den Generationen der Eltern, die noch das Ruder in der Hand halten.
Zu keinem Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte ist es gelungen, den Lauf der Dinge anzuhalten und für Demokratie ist Kritik der Motor für Wandel und der Schlüssel zu Aneignung und Legitimierung. Sozialisation bedeutet, die Kinder und Jugendlichen in die Werte und Normen der Gesellschaft einzuführen; Bildung bedeutet, ihnen Durchblick, Urteilskompetenz, Argumentationsfähigkeit zu vermitteln, um Gesellschaft selbst zu gestalten und die eigenen Interessen zu vertreten. Im Rahmen politischer Bildung kann man kritisieren und muss argumentieren. Wir vermitteln Wissen, Denkmethoden, Diskursfähigkeiten. Kulturelle Bildner/innen betrachten Menschen ganzheitlich. Ihr Bildungsbegriff impliziert Kennenlernen, Erforschen, Nutzen, Gestalten. Es geht weniger um Systeme als um konkrete Menschen, Dinge, Artefakte, Geschichten und Orte. Die Bildungsansätze haben eine emotional-affektive, kognitiv-intellektuelle, körperlich-sinnliche sowie eine sozial-kulturelle Dimension. Kulturelle Bildung setzt natürlich auch auf Selbstbildung und schafft Raum für Utopisches, ohne zu bewerten.
Das klingt positiv und harmonisch. Die Situation in den Schulen und der Jugendarbeit ist dagegen mehr als herausfordernd. Vieles ist anders als es scheint. Wie ist beispielsweise das äußere Erscheinungsbild von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu deuten, die wie der Facebook-Gründer Mark Zuckerberg in seinen frühen Jahren jeden Tag mit Gap-T-Shirt oder Hoodie und Jeans zu sehen sind? Junge Erwachsene, die anscheinend nicht wie heute angesagt, an ihrer Besonderheit und Selbstvervollkommnung arbeiten und nicht mit der Zurschaustellung ihrer Identität beschäftigt sind? Wie die Jugendforscherin Diana Weis herausgearbeitet hat, sind dies oft die Kinder der 68er-Generation; ihr Trend heißt „Normcore“. Sie rebellieren gegen das Rebellentum der Älteren. Sie wehren sich gegen die Appelle zum Kritisch-Sein, zum Anders-Sein. Ein anderes Beispiel dafür: Die westlichen Gesellschaften haben sich seit 200 Jahren zu säkularisieren bemüht. Religion stand dabei u.a. für Tradition, sozialen Druck, Zwang zur Unterordnung. Emanzipation, Frauenbewegung, sexuelle Befreiung waren deshalb abhängig von der Loslösung von kirchlichen Vorstellungen. Für die Pädagog/innen in dieser Denktradition ist es nicht leicht zu verstehen, dass Teile von Schülerpopulationen Religion heute als Medium der Gesellschaftskritik begreifen.
Politische und kulturelle Bildung sind keine Felder, in denen von A zu B vermittelt wird. Im Bildungsprozess sollten sich alle Beteiligten entsprechend ihres Alters an der Diskussion über Konzept, Prozess und Ziele beteiligen dürfen. Auch die Pädagog/innen und Vermittler/innen, müssen sich in der Gegenwart immer neu aufstellen und tragen dabei eine sehr hohe Verantwortung. Sie orientieren in einer Welt, in der kulturelle Kategorien eine herausragende, wenn nicht die zentrale Rolle spielen. Die Gesellschaft diskutiert über Identität, Heimat, kulturelle Zugehörigkeit, über Herkünfte und über kulturelles Erbe. Politische Konflikte entzünden sich erstaunlicherweise heute weniger an Fragen der sozialen Lage und der Verteilung von Vermögen, als an unterschiedlichen Lebensweisen und Wertorientierungen. Die Wahrnehmung der Welt ist stärker als je zuvor an Bilder geknüpft, was nicht zuletzt durch die Entwicklung von digitalen Räumen und deren Logiken begründet ist und sich seitdem forciert. Text und Informationen spielen eine nachgeordnete Rolle. Wenn bildhafte Assoziationen das Sein bestimmen, ist eine Alphabetisierung in puncto Bildverstehen eine wichtige Aufgabe von kultureller Bildung.
Das möchte ich an zwei Beispielen verdeutlichen: Bildrezeption ist immer abhängig vom sozialen und kulturellen Kontext. Sehen, Deuten, Bewerten und Empfinden stehen eben in einem engen Zusammenhang. Menschen haben im Kontext ihres kulturellen Gedächtnisses Bilder für Freiheit, Schönheit, Wohlgefühl genauso wie für Gewalt, Krieg und Zerstörung. Der Kapitalismus hat im 21. Jahrhundert eine Stufe erreicht, auf der in den Ländern des globalen Westens die Befriedigung materieller Bedürfnisse in den Hintergrund tritt. Auch die meisten derer, die als relativ arm gelten, haben heute einen Haushalt mit Kühlschrank, Waschmaschine, Fernseher und Smartphone. In der frühen Moderne war die Ausstattung mit solchen Allgemeingütern ein echtes Thema. Wachstumsraten im erwünschten Maß lassen sich damit heute nicht mehr erzielen. Verkauft werden in der späten Moderne also weniger Produkte als bildhafte Symbole eines bestimmten Lebensstils. Und je mehr Bedeutung dem Visuellen zukommt, umso wichtiger wird – auch und gerade für die soziale Teilhabe – das eigene Erscheinungsbild: Kleider, Uhren, Handys, Wohnung, Urlaubsziel, Stadtviertel. Identität hängt weniger von der Arbeit am Ich im Inneren ab als von der Spiegelung durch die Gesellschaft. Ich bin, was ich zeige. Ich bin die/der, als die/der ich erkannt werde. Das macht den Erfolg der sozialen Medien und den Erfolg der Kreativindustrie aus, die den Menschen Bausteine ihrer selbstgewählten Identitäten verkauft und die Städte in Wohlfühl-Atmosphären für die gehobene Mittelschicht und die Kreativen verwandelt. Dafür findet man nicht zuletzt in Dresdens Mitte reichlich Anschauung.
Der Lifestyle-Kapitalismus schafft nicht nur Wirklichkeitssimulationen, in denen die Nachtseiten wie Armut, soziale Ausgrenzung oder (strukturelle) Gewalt ausgeblendet bleiben, er suggeriert auch Freiheit, Emanzipation und Teilhabe durch den Konsum von Produkten und urbanen Erlebnissen. Jugendliche sind umstellt von Protagonisten, die dieses Geschäft auf nahezu unsichtbare Weise weitertreiben. Influencer und Blogger, denen vertraut wird, stehen unsichtbar im Dienst von Konzernen. Vorgeblich sozialkritische Künstler/innen, Architekt/innen, Filmemacher/innen arbeiten für große Marken und das Markenimage strahlt auf sie selbst zurück. Star-Architekt Rem Koolhaas und Star-Regisseur Wes Anderson z.B. für den Haute Couture-Konzern Prada. Das Prinzip hat der Wiener Autor Robert Misik herausgearbeitet: Die Marke stützt die Marke stützt die Marke… Aus der Sicht der politischen Bildung besteht ein sehr wichtiges Aufgabenfeld der kulturellen Bildung darin, Kinder und Jugendliche weniger in ihrer Kreativität zu fördern, um sie für diese Märkte fit zu machen, sondern um sie resilient und kritisch zu machen und ihnen die Mittel an die Hand zu geben, nicht Spielball dieser Kräfte zu sein und dabei eigene Handlungsspielräume zu gewinnen.
Mein zweites Thema: In jüngster Zeit begegnet man wieder unverhohlenem Rassismus und viele fragen sich, wie es nach den Verbrechen des 20. Jahrhunderts wieder dazu kommen konnte. Einen Grund dafür sehe ich darin, dass sich die deutsche Gesellschaft nicht um das Verlernen bestimmter Sichtweisen bemüht. Ein guter Teil des Problems spielt sich auch im Feld der Bilder und des Visuellen ab. Was hierzulande als schön und als hässlich, als gut und als böse, als zivilisiert und als wild und barbarisch gilt, macht sich nicht zuletzt an den Vorstellungen einer Kunsttradition des Westens fest, die sich seit der Zeit des Kolonialismus ästhetisch an den damals unbekannten eroberten Kulturen abgearbeitet hat. Das gilt für die Klassik mit ihren Rekursen auf die griechische Antike in der Mitte des 18. Jahrhunderts, aber auch für viele weitere Kunstausprägungen (Funktionalismus, (sozialistischer) Realismus) bis in die Gegenwart.
Ich bin hier zwar kein Experte. Verstanden habe ich aber zunächst, dass es bei der gegen die vermeintlich Minderwertigen gerichteten Polarisierung um so etwas wie eine kulturelle Selbstvergewisserung ging. In der globalen Welt werden wir als Verunsicherte aktiv und versuchen uns selbst zu positionieren und zu verstehen. Heute arbeitet die Kunstwissenschaft nach und nach heraus, dass die Negativfolie, die Ausdrucksformen der zu „fremden“ gemachten Kulturen, teilweise auch eine Projektion, – stärker noch: eine Erfindung – des Westens waren. Deutsche Hochkultur hat sich also in Frontstellung zu der vermeintlich oberflächlichen Civilisation des von Frankreich angeführten Westens formiert, sondern hat seine eigenen Bilder des Fremden oder des Wilden entworfen, die von einem der beiden totalitären Regime der Vergangenheit dankbar als künstlerisches Feindbild aufgegriffen, von dem anderen als idealistisch-utopisches Bild überhöht wurde. (In beiden Fällen also ‚Hochkulturen‘ des Minderwertigkeitskomplexes). Aufklärende kulturelle Bildung kann hier zentraler Bestandteil einer politischen Bildung sein, die sich als Menschenrechtsbildung und gegen Ausgrenzung und Rassismus engagiert. Auch dies hat mit dem Tagungsthema Teilhabe zentral zu tun.
In Kreativwirtschaft und Popkultur werden Motive des Wilden und Exotischen allerdings regelmäßig aufgegriffen, um damit Geld zu verdienen. Das Exotische, vermeintlich Orientalische, an Tausendundeine Nacht Anknüpfende steht in der Mode für Verführung, Luxus und Opulenz. Ethno-Style, der an afrikanische Motive assoziiert, steht für Freiheit und Ursprünglichkeit. Es geht auch darum, der Effizienzgesellschaft symbolisch eine Absage zu erteilen, obwohl man sich mit dem Konsum der Symbole wieder nahtlos in den Kreativkonsum einreiht. Eine jüngere Publikation zum Thema „Wilde Dinge in Kunst und Design“ führt als Beispiel den Werbefilm der Luxusmarke Dior für das Herrenparfum „Eau Sauvage“ mit dem von Kopf bis Fuß tätowierten Schauspieler Jonny Depp an. Die Herausgeber/innen berichten in ihrer Einführung, wie Depp mitten in der Nacht in schwarzes Leder gekleidet und mit dunkler Sonnenbrille mit seiner E-Gitarre wild „abrockt“,
„um dann einem starken und dunklen Bedürfnis folgend – mit dem Auto den dichten ‚Dschungel‘ einer Großstadt in Richtung Wüste zu verlassen. Auf dem Weg dorthin wird es hell und es begegnen ihm einsame, wilde Tiere: ein Büffel, ein Adler und schließlich ein Kojote, die als Spiegelbilder des männlichen Protagonisten in Szene gesetzt werden. Angekommen in der weiten Landschaft der Wüste, die nicht von ungefähr das Image des Wilden Westens heraufbeschwört, holt er einen Spaten aus seinem Kofferraum und gräbt unter dem gleißenden Licht der Sonne ein Loch in den Wüstensand. Dorthinein legt er seine zahlreichen Hals- und Armbänder, während aus dem Off ein innerer Monolog zu diesem fremdartig anmutenden Ritual zu hören ist: ‚Wonach suche ich‘, fragt er sich. Und gibt sich dann selbst die Antwort: ‚nach etwas, was ich nicht sehen kann. Ich spüre es. Es ist magisch‘. Schließlich erscheint am Ende des Films als Antwort auf seine Fragen plötzlich wie eine Vision ein schwarzer Flacon mit der Aufschrift Sauvage geheimnisvoll im Abendlicht vor einer Felsformation, die ein wenig an Ayers Rock, den heiligen Berg der Aborigines in Australien erinnert“.
Jonny Depp war mit dieser Aufmachung Vorreiter der heute gängigen, großflächigen Tätowierungskultur, in deren Motivrepertoire regelmäßig neben meist martialischen Symbolen Interpretationen ethischer Zeichen vorkommen. Diese noch nicht sehr alte, aber bereits verbreitete kulturelle Praxis stellt viele Fragen. Was früher Ausdrucksform sozialer Randgruppen, Rocker oder Knastinsassen war, wird Normalität bis weit hinein in bürgerliche Kreise. Man inszeniert das Rebellische und bedient sich der Motivwelt unter dem Oberbegriff „wild“. Das, was aus der neoliberalen Kultur verdrängt wurde: das Abweichende, Unberechenbare, Irrationale, Spielerische und Chaotische, bahnt sich seinen Weg in den Alltag und tritt hier breit in Erscheinung.
Damit wird noch ein anderes Feld der Spätmoderne betreten, das die Systemtheoretikerin Elena Esposito im Hinblick auf die Mode analysiert hatte: Man wird konform im Wunsch nach Nonkonformismus. Alle wollen jeweils einzigartig sein: das ‚richtige‘ vegane Essen, das außergewöhnlichste Reiseland, die einzigartige Schule für die Kinder. Und auch die menschlichen Körper werden Teil der visuellen Kultur. Teilhabe bedeutet heute meist „öffentlich sichtbar werden“ und nicht mehr öffentlich diskutieren, worin einmal die Grundidee von Demokratie und Partizipation in der griechischen Antike bestand.
Warum spreche ich dieses Themenfeld an: Der ursprüngliche Sinn von Partizipation und Politik bestand in der Verwirklichung von Freiheit. Dem lag der Gedanke zugrunde, dass der Mensch von seinem Wesen her politisch ist und sich an den Angelegenheiten seines Gemeinwesens beteiligen will. Wenn in der politischen und der kulturellen Bildung von Teilhabe die Rede ist, geht das in eine ähnliche Richtung. Verfolgt werden keine Fremdziele, sondern es geht um die Bildung der Persönlichkeit, um die Bildung des Kindes, der Jugendlichen und der Erwachsenen um ihrer selbst willen. Emanzipation wird mit sozialem Handeln in enger Beziehung gesehen, weniger darin, „ein singuläres Bild abzugeben“.
Dieses Bildungsziel ist nicht ganz mit den öffentlichen Erwartungshaltungen an die kulturelle Bildung in Einklang zu bringen. Bildung als Selbstzweck zu betrachten, als etwas, auf das man ein Recht hat, ohne über Resultate und Wirksamkeit zu reden, klingt fast schon weltfremd. Aus meiner Sicht sollten die Fordernden berücksichtigen, dass Bildung nicht nur liefern kann, sondern immer auch Versprechen macht. Wenn Teilhabe durch kulturelle Bildung gefördert werden soll, müssen wir uns daher auch kritisch fragen, woran denn partizipiert werden kann. Teilhabe darf keine Floskel oder Gegenstand politischer Sonntagsreden sein. Enttäuschte Teilhabeversprechen können in tiefe Frustration oder Politikverdrossenheit – auch in Gegenwehr münden.
Der aktuelle Koalitionsvertrag der an der Bundesregierung Beteiligten sieht eine Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz vor – und dies 30 Jahre nach der Verabschiedung der Kinderrechtskonvention der vereinten Nationen. Dort hatten Beteiligungsrechte einen hohen Stellenwert. Beispielsweise heißt es in Artikel 13 „(1) Das Kind hat das Recht auf freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, ungeachtet der Staatsgrenzen Informationen und Gedankengut jeder Art in Wort, Schrift oder Druck, durch Kunstwerke oder andere vom Kind gewählte Mittel sich zu beschaffen, zu empfangen und weiterzugeben.“ Artikel 31 bestimmt das „Recht des Kindes auf …. freie Teilnahme am kulturellen und künstlerischen Leben. (2) Die Vertragsstaaten achten und fördern das Recht des Kindes auf volle Beteiligung am kulturellen und künstlerischen Leben und fördern die Bereitstellung geeigneter und gleicher Möglichkeiten für die kulturelle und künstlerische Betätigung ….“
Viele Kultureinrichtungen haben sich in den letzten Jahren mit Fragen der Partizipation im Rahmen der kulturellen Bildung auseinandergesetzt, aber nur ein Teil davon hat echte Beteiligung mit faktischen Konsequenzen für die Häuser wirklich umgesetzt. In der politischen Bildung gehen wir davon aus, dass kulturelle Beteiligung im eigenen Lebensumfeld die Erfahrung von Selbstwirksamkeit ermöglicht. Wer seine Interessen kennt und formulieren kann, wer seine eigenen Angelegenheiten beeinflussen kann und wer dann noch Räume für kreative Gestaltung hat, interessiert sich vielleicht auch für die öffentlichen Angelegenheiten.
Ein positives Beispiel für kulturelle Teilhabe bietet etwa das Projekt „Die Museumsmacherinnen“ der Düsseldorfer Kunstsammlungen K20, in dem Schüler/innen einer 4. Grundschulklasse das Museum über mehrere Monate kritisch unter die Lupe genommen haben. Die Ergebnisse werden zum Teil Eingang in das Bildungsprogramm des K20 finden. Die Kinder machten Vorschläge zur Willkommenskultur schon auf dem Platz vor dem Museum, installierten Schriftzüge, „Willkommen“, „Viel Spaß!“, entwarfen bequeme Möbel für Aufenthalt und Diskussion im Foyer, hängten Bilder mit dem Kopf nach unten als irritierende Impulse für genaueres Hinsehen und erarbeiteten Konzepte für Workshops und Führungen, an denen sie selbst teilnehmen würden.
Über Teilhabe diskutierten zu Beginn der letzten Woche hier in Dresden auch rund 250 Kulturvermittler/innen auf der Jahrestagung des Bundesverbands Museumspädagogik, bei der die Bundeszentrale Partnerin war. Der Titel „Mit Bestimmung!“ deutet je nach Betonung auf die zwei Seiten der Partizipation: es geht um „Mitbestimmung“, aber auch um Politisch-Sein, was dann auch im Untertitel: „Die politischen Dimensionen der musealen Bildung“ explizit wird. In den letzten Jahren sind viele Vertreter/innen der kulturellen Bildung, aber auch Künstler/innen politischer geworden. Es geht um Engagement z.B. für Geflüchtete, um die Idee der Öffnung der Häuser für die Stadtgesellschaften, um eine Haltung gegenüber rassistischen oder rechtspopulistischen politischen Tendenzen und um Beteiligung an öffentlichen Debatten. Auch hier in Dresden kam es in den letzten Monaten und Jahren vermehrt zu öffentlichen Auseinandersetzungen, wofür der Bilderstreit im Albertinum ein Beispiel ist. Welchen Charakter haben dabei die ausgetauschten Argumente? Auch hier dreht es sich vielfach um Fragen der Kultur, um Ansichten über richtige Lebensweisen, um Gefühle von Anerkennung oder von gefühlter Abwertung. Kurz: es geht um kulturelle Argumente.
Dresden lässt keine Zweifel aufkommen, dass es in kultureller Hinsicht etwas Besonderes ist und immer schon war. Durch die Jahre des DDR-Regimes haben Teile des Dresdner Kulturbürgertums das alte Dresden erfolgreich gegen die Versuche der Etablierung einer sozialistischen Musterstadt verteidigt und bei allen Widersprüchen auch Beispiele für erfolgreichen Widerstand geliefert. Darüber sind ganze Romane geschrieben worden. Mit den heutigen Debatten zwischen Traditionalisten und Modernisierern steht Dresden aber nicht so einzigartig dar, wie vermutet. Wir haben es vielmehr mit einer weltweiten Frontstellung zwischen Modernisierern und Bewahrern zu tun, die der Soziologe Andreas Reckwitz als Kosmopoliten oder Hyperindividualisten auf der einen Seite und Kommunitaristen bzw. Kulturessenzialisten auf der anderen Seite bezeichnet. Alle arbeiten an ihrer kulturellen Besonderheit. Den Antagonisten ist gemeinsam, dass sie auf kulturellen Märkten um den Wert kultureller Güter, um die richtige Lebensweise streiten. Während sich die Kosmopoliten als Individualisten auf dem Weg zur Selbstverwirklichung formieren, Zuwanderung als Bereicherung werten und die Angebote der globalen Kreativwirtschaft als Ausweitung ihrer Spielräume betrachten, imaginieren sich Kommunitaristen als Communities mit geschlossener Außengrenze, spezifischer Geschichte, einzigartigem Erbe, singulärer Identität und Tradition.
Für wertvoll gehalten werden hier Glaubenssätze, Symbole, die Leidensgeschichte einer Herkunftsgemeinschaft, während nach außen konsequent Abwertung betrieben wird: „die eigene, überlegene Nation gegen die fremden (Nationalismus), die eigene Religion gegen die Ungläubigen (Fundamentalismus), das Volk gegen die kosmopolitischen Eliten (Rechtspopulismus)“ . Kommunitäre Erzählungen können natürlich auch ökologisch oder links auftreten: das eigene regional verwaltete Saatgut der niederbayrischen Bauern gegen das genmanipulierte von Monsanto; die Daseinsvorsorge kommunaler Eigenbetriebe gegen die Privatisierung derselben usw. Wer mich zu einer Stellungnahme nach Dresden einlädt, kann überdies mit großem Verständnis für die Verletzungen rechnen, die aus den kolonialen Praktiken westlicher Provenienz in der Transformationsphase nach 1990 resultieren. Es ging dabei nicht nur um kulturelle Enteignung, sondern immer auch um Eigentum und Machtpositionen. Beispiele dafür sind die fehlende Anerkennung von Berufsabschlüssen oder die Diskussion um "Rückgabe vor Entschädigung". Dass im Kapitalismus diese Form, Interessen zu vertreten, auf der Tagesordnung stand, konnte man allerdings in der DDR schon seit der Schulzeit wissen – selbst wenn man den Chefideologen nicht geglaubt hat.
Im Rahmen dieser politischen und kulturellen Kontroversen stehe ich allerdings für eine kulturelle und politische Bildung, die den Anliegen der Demokratie in einer realistischen Welt des 21. Jahrhunderts ungeschminkt gerecht wird. Differenzerfahrungen bleiben in der Gegenwart niemandem erspart. Der Dresdner Politikwissenschaftler Hans Vorländer äußert dazu in einer Publikation der bpb: „Die gegenwärtigen Umbrüche und die mit ihnen einhergehenden neuen Erfahrungen starker Pluralisierung sozialer, kultureller, ökonomischer und räumlicher Bezüge erfordern Strategien wechselseitiger Anerkennung und die Einübung von Toleranzpraktiken sowie des Aushaltens von Spannungen und der zivilen Bearbeitung von Konflikten innerhalb der Stadtgesellschaft. Das, was eine Stadt zu einer modernen Stadt macht, nämlich Vielfalt, Ungleichzeitigkeiten, Ungleichheiten und Ungleichartigkeiten, scheinen in des in Dresden in besonderer Weise auf die Widerstände milieugeprägter traditionaler Homogenitätserwartungen zu stoßen.“
Kulturelle Bildung, so meine These, wird solchen Homogenitätserwartungen niemals gerecht werden können. Jede Auseinandersetzung mit Kunst und den kulturellen Spuren einer Stadt wird genau das zutage fördern: Vielfalt, Ungleichzeitigkeiten, Ungleichheiten und Ungleichartigkeiten. Kulturelle Bildung, wie wir sie aus Sicht der politischen Bildung verstehen, kann Geschmack daran wecken. Erfahrungen von Fremdheit, Verschiedenheit, Unvereinbarkeit sind das Salz in der Suppe einer Gesellschaft mit wertvollem Kulturerbe, lebendiger Streitkultur und offener Zukunft. Teilhabe bedeutet nämlich am Ende des Tages auch, andere Einflüsse, Impulse, Ideen aufzunehmen. In Dresden ist das nichts Unbekanntes. Die kulturellen und politischen Praktiken von August dem Starken stehen genau dafür. Aber wem erzähle ich das?