Sehr geehrte Damen und Herren,
in seinem 1957 erschienen Frühwerk "Mythen des Alltags" analysierte der französische Semiologe Roland Barthes u.a. das Kinderspielzeug seiner Zeit. Ein zentrales Merkmal dieser Spielzeuge besteht darin, die Erwachsenenwelt spielerisch vorwegzunehmen. "Die üblichen Spielsachen sind im Wesentlichen ein Mikrokosmos; es sind sämtlich verkleinerte Reproduktionen von Dingen aus der Erwachsenenwelt". Das Spielzeug bedeutet also meist etwas und "dieses Etwas ist stets völlig vergesellschaftet" (S. 74): Es gibt Kochherde, Autowerkstätten, Handwerkerzubehör, Arztköfferchen. Zwar wird die Welt der Kinder heute auch zu nicht unwesentlichen Teilen von Phantasy- und Merchandising-Artikeln der globalen Konzerne gestaltet. Aber diese Gegenstände zur frühen Einübung in die Rolle eines, so Roland Barthes "kleinen spießigen Eigentümers, der nicht einmal herausfinden muss, welche Federn die Kausalität der Erwachsenen antreiben" (S. 75), nehmen nach wie vor einen großen Raum ein. Dabei sind dem Semiologen vor allem zwei Aspekte aufgefallen: nicht nur wird das Erwachsenenleben präfiguriert, das Kind auf Rollen konditioniert, sondern – und das ist für unser Thema der nächsten Tage nicht uninteressant – Spielzeug und Spielpraktiken konstituieren eine Wirklichkeit, der ein drängender, zwingender, sogar disziplinierender Aspekt inhärent ist, denn das Kind kann "gegenüber diesem Universum originalgetreuer und komplizierter Objekte nur als Eigentümer, als Nutzer, niemals als Schöpfer auftreten; es erfindet die Welt nicht, es benutzt sie…" (ebenda). Freie oder erfundene Formen wie beispielsweise Baukästen dagegen würden "Welterzeugung" viel eher inspirieren.
Welterzeugung, "Worldbuilding" und seine Implikationen – das ist das leitende Thema dieser Konferenz. In welchen Welten leben wir? Wie absichtsvoll und mit welchen Absichten wurden sie – und von wem - gebildet? Wie nutzen wir diese Welten und wieviel Freiheit haben wir bei dieser Nutzung? Für die politische Bildung ist die Beantwortung solcher Fragen zu "Welterzeugung", "Worldbuilding" und Immersion weitgehend unbetretenes Neuland. Einerseits sind wir in Umgebungen unterwegs, die das Ergebnis technischer, politischer oder künstlerischer Strategien und Prozesse sind und sich mit bestimmten Absichten an Menschen wenden. Andererseits gibt es ja bereits Sphären, die die menschliche Rezeption oder Partizipation hinter sich gelassen haben. Ich gehe davon aus, dass alle diese Welten irgendetwas mit uns machen und natürlich auch wir mit ihnen, denn wir bewegen uns nicht nur passiv in ihnen sondern kollaborativ. Wir wirken mit. Jede Architektur, jede Atmosphäre bringt Menschen in Stimmungen und formt, bzw. moduliert sie auch in sozialer Hinsicht, lockt und drängt sie in Funktionen und Handlungen. Dabei stellt sich nicht nur die Frage, wie durchschaubar die jeweilige Angelegenheit ist und wieviel autoritäres oder kapitalistisches Interesse dahinter steht, sondern auch die Frage nach den Herstellenden von Welterzeugung: Sind wir in die Situation der spielenden Kinder von Roland Barthes geraten und führen lediglich Skripte in vorgeprägten Rahmen aus?
Meine Damen und Herren, unnötig zu betonen: Eine solche Vorstellung ist der klassischen Idee von Demokratie diametral entgegengesetzt. Denn Demokratie beansprucht, die zentrale Kategorie des Worldbuilding zu sein. Der Demos, das Volk, schafft die Welt, in der gemeinsam gelebt wird. Politik bedeutet Regelung der öffentlichen und gemeinschaftlichen Angelegenheiten. Partizipation bedeutet eigenverantwortliches Mitgestalten bei diesem Worldbuilding. Nach der klassischen Definition von Demokratie ist diese gestaltete Welt der Ort der Freiheit, jedenfalls nicht der Ort des intransparenten Gelenkt-Werdens. Der Mensch gilt als seiner Natur nach politisch und das soziale und politische Gestalten entspricht seiner conditio humana.
Offenbar hat diese idealistische Auffassung einige Haken. Wenn wir in der letzten Zeit Diagnosen aus der Wissenschaft zur Kenntnis nehmen müssen, die Demokratie sei defekt oder nur noch simulativ; wenn von Repräsentationsdefiziten die Rede ist, die den Aufstieg rechtspopulistischer Parteien ermöglichen, sollten wir uns die Grundprinzipien des Worldbuilding im politischen Sinne nochmals neu und kritisch ansehen. Kann die Beschäftigung mit Worldbuilding mittels künstlerisch-immersiver Strategien und Methoden, die ja sehr stark auf physisch-sensuelle Wahrnehmung setzt, dabei hilfreich sein?
Zumindest spielen die Aspekte "Stimmung" und "Wahrnehmung" bei einigen der aktuellen politischen Probleme eine nicht unwesentliche Rolle, wie dies der Bildungssoziologe Heinz Bude vor kurzem in seinem Buch "Das Gefühl der Welt" analysiert hat. Die Welt der rationalisierten Moderne, die Welt der westlichen Aufklärung, welche Säkularisierung und individuelle Freiheit nie dagewesenen Ausmaßes versprach und verspricht, ist für die einen das Himmelreich. Gemeint ist natürlich ein Paradies privilegierter Weisser, das auf globale Ungleichheiten gegründet ist. Von den anderen Weissen wird sie aus vielen und ganz anderen Gründen nicht (mehr) als angenehmer Aufenthaltsort oder mögliche Heimat wahrgenommen. Reicht es hier aus, lediglich Liberalismus- oder Kapitalismuskritik zu üben? Es wird in letzter Zeit in fast jedem wissenschaftlichen Kontext halb bedauernd festgestellt, dass es nicht mehr allein und in der Hauptsache die sozialen Unterschiede sind, die die Gesellschaften in Widersprüche und Konflikte verwickeln. Das ist zwar nicht komplett vom Tisch, aber soziale Gegensätze entwickeln heute nur noch verschränkt mit anderen Dimensionen strukturbildende Kraft mit den wichtiger werdenden neuen Konfliktlinien im Feld der Kultur. Hier liegt offenbar der Stoff, an dem sich politisches Engagement neu entzündet. Wirklichkeit erweist sich zunehmend auch nach kulturellen Kategorien konstruiert. Sollten wir in Zukunft also von kulturellem Worldbuilding sprechen? Worum geht es dabei genau?
Eine neue Erkenntnis ist es nun wirklich nicht, dass kulturelle Faktoren und ästhetische Kategorien in vielen Feldern des Lebens in westlichen Gesellschaften eine herausragende Rolle spielen. Neu ist aber die Intensität und Grenzenlosigkeit, mit der das Kulturelle die Welt organisiert. Am eindrücklichsten analysiert dies der Soziologe Andreas Reckwitz, der seine Theorie morgen im Rahmen einer Keynote vorstellen wird. In seinen früheren Arbeiten führt er den Affektmangel aus, den die industrielle Moderne durch ihre Orientierung am Normierten und Allgemeingültigen geradezu systematisch in allen Lebensbereichen hervorbrachte. Im Wohnen, im Arbeiten, im Essen, im Reisen wird nach und nach die Suche nach dem Sinnlichen, dem Reiz, dem Affekt, dem Gefühl wichtiger und schließlich dominant. Beispielsweise gingen die Protagonisten des Bauhauses noch von allgemeingültigen menschlichen Bedürfnissen, also von Standards aus. Erst in der Spätmoderne wird das Besondere, das Singuläre, hervorgebracht durch individuelle Kreativität, immer wichtiger. Ich will Reckwitz nicht zu weit vorgreifen, aber einen für die politische Bildung zentralen Aspekt seiner Analyse vorwegnehmen: Diejenigen, die sich heute weltweit in wachsender politischer Gegnerschaft gegenüberstehen, sind keineswegs Angehörige von wie auch immer gewachsenen Kulturen. Sie arbeiten zwar mit kulturellen Mitteln und Strategien, aber alle an dem Ziel ihre jeweilige individuelle oder gruppenbezogene Andersartigkeit und Einzigartigkeit heraus zu präparieren. Und sie tun dies mit durchaus vergleichbaren Strategien und Methoden. Zentral ist dabei, dass sie alles, was nicht bei "Drei" auf dem Baum ist mit Werten aufladen. Die einen ihre Handys, Klamotten, Wohnungen, Urlaubsziele und Arbeitsplätze. Die anderen ihre Gemeinschaften, deren Vergangenheiten, Traditionen, Götter, Sprachen und Identitäten. Konkurriert wird gleichermaßen um die jeweiligen Wertphänomene auf kulturellen Märkten – egal, ob es sich dabei um die einzigartige Nation, Ethnie oder Person handelt. Ob Putin- oder Le Pen-Anhänger – es wird auf ähnliche Weise kulturalisiert. Ideologien mit universalen Wahrheitsansprüchen sind Geschichte.
Die Entwicklung von einer Kultur des Allgemeinen zu einer Kultur des Singulären, wie sie von Reckwitz analysiert wird, hat auch für das Feld des Politischen erhebliche Konsequenzen. Die von mir eingangs skizzierte idealistische Sicht auf Politik, ist eine Sicht der westlichen Moderne, die sich an einem demokratischen Ideal der Antike ausrichtete. Sie ist damit eine dem Prinzip des Allgemeinen verpflichtete Politik. Aristoteles‘ Idee vom zoon politikon speist sich klar aus einem gleich und frei gedachten politischen Subjekt, das ähnliche Interessen und vergleichbare Bedürfnisse hat. Übrigens beschränkte sich schon bei Aristoteles das politische Subjekt auf die "oikodomes", die Hausvorsteher, die das Recht auf politische Teilhabe in der Polis hatten. Frauen, Sklaven, Fremde waren ausgeschlossen. Die klassische Demokratieidee hat für die soziale Realität der Spätmoderne erkennbar nur noch relative Bedeutung. Das gilt auch für die Vorstellung eines Gemeinwohls oder für den Gedanken, dass der Volkssouverän mittels Wahlen so etwas wie eine volonté générale, einen Gemeinwillen oder einen gemeinschaftlichen Grundkonsens formuliert. Politik hat sich - weitgehend unreflektiert - zu einer Politik für Partikularismen, Identitäten und Teilöffentlichkeiten entwickelt. Sie agiert in Teilwelten, partiellen Realitäten, wenn man so will in immersiven Umgebungen. Dabei knüpft sie zunehmend an dem Affektdispositiv des Menschen, wie es Spinoza nennt und Deleuze aufgreift, an. Menschen gewinnen Erfahrungen in ihren Teilwelten und modulieren ihre Präferenzen und Handlungen durch Mitwirkung.
Die Herausforderung für die Politik der kommenden Jahre wird wohl darin bestehen, für sämtliche neuen Formationen, in denen sich Menschen und Gruppen mit spezifischen, teils widersprüchlichen, teils sogar unvereinbaren Interessen und Bedürfnissen öffentlich artikulieren, neue Welten zu konstruieren: "Worldbuilding" und in doppeltem Sinne "Weltbildung" zu betreiben, die einschließt und nicht ausschließt. Es geht um einen neuen Kitt, der autonome, singularisierte Individuen und Gruppen in wenigstens temporäre Kooperationsbeziehungen zur Regelung öffentlicher Angelegenheiten einzubinden vermag. Diese Kooperationsbeziehungen stellen sich allerdings nur her, wenn sie von allen Beteiligten als "wert"-voll wahrgenommen werden.
Wir bewegen uns also aller Voraussicht nach im zukünftigen Feld des Politischen gemäß neuen Spielregeln. Die Zukunft ist nicht risikolos. Denn es gibt schon jetzt politische Modelle, die immersive Räume schaffen, in denen die gesellschaftlichen Widerlager auf intransparente Weise kontrolliert oder rangiert werden. Demokratische politische Praxis sollte vielmehr darum ringen, ein komplexeres Worldbuilding zu betreiben, das nicht nur hinreichend inklusiv, transparent und partizipativ ist, sondern gerade den Widerspruch, den Veränderungsanspruch, die Intervention institutionalisiert. Kritik und Abweichung sind konstitutive Merkmale jeder demokratischen Welt. Deshalb gehört zu jedem praktizierten Eintauchen auch die belebende Erfahrung des Auftauchens. Der Sinn von Politik bleibt Freiheit!
- Es gilt das gesprochene Wort -