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"Auch eine kaputte Uhr zeigt zweimal am Tag die richtige Zeit" (Berlin, 15. Juni 2017) | Presse | bpb.de

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"Auch eine kaputte Uhr zeigt zweimal am Tag die richtige Zeit" (Berlin, 15. Juni 2017) Eröffnungsrede des 9. Kulturpolitischen Bundeskongress in Berlin

/ 8 Minuten zu lesen

Selbst wenn wir einiges richtig machen und der westliche Fokus auf die globale Situation vereinzelt gute Impulse einbringt, stehen wir doch an einem Punkt, an dem wir uns neu aufzustellen haben. Wir haben eine globale Situation geschaffen, die sich in vieler Hinsicht kaum noch beeinflussen lässt, und sind doch für sie verantwortlich.

Sehr geehrte Damen und Herren,

"Auch eine kaputte Uhr zeigt zweimal am Tag die richtige Zeit", sagt der TV-Mafiaboss Tony Soprano und bringt damit auch unsere aktuelle Situation auf den Punkt: Selbst wenn wir einiges richtig machen und der westliche Fokus auf die globale Situation vereinzelt gute Impulse einbringt, stehen wir doch an einem Punkt, an dem wir uns neu aufzustellen haben. Wir haben eine globale Situation geschaffen, die sich in vieler Hinsicht kaum noch beeinflussen lässt, und sind doch für sie verantwortlich. Sich die unumgängliche Verantwortlichkeit bewusst zu machen, wie sie Jean Paul Sartre in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs in einem Frankreich unter deutscher Besatzung herausgearbeitet hat, macht das Wesen unserer Freiheit aus. In seinem Hauptwerk "Das Sein und das Nichts" zeigt er, dass die Ereignisse nicht von außen auf uns zukommen, sondern wir es sind, durch die es "eine Welt gibt" - und weil wir es sind, die "sich sein" machen, müssen wir uns die aktuelle Situation aneignen in dem "Bewusstsein, ihr Urheber zu sein". Das verlangt Klarheit und Verantwortungsübernahme statt Uneinsichtigkeit und Beharren auf den eigenen Privilegien. Hinsichtlich der globalen Rezeption und Erfahrung von Gegenwart dürfen wir uns nicht mehr auf unsere vier Wände beschränken und auf hergebrachte Wahrnehmungsschemata verlassen.

1. Grenzen


Weil wir es aber zurzeit mit den unterschiedlichsten Formen der Neuformierung von Beschränkungen, auch im Sinne von "Borniertheit", zu tun haben, ist das Querschnittsthema des Kongresses die "Grenze". Obwohl "Innen und außen … obsolete Begriffe" sind und es nach Auffassung der "versiertesten Kulturpolitiker" auch sein sollen, wie Sonja Zekri am 22. Mai in einem Beitrag zur Auswärtigen Kulturpolitik in der Süddeutschen Zeitung schreibt , sind die westlichen Gesellschaften nun in eine Phase des Wieder-Hochziehens von Zäunen eingetreten. Protektionismus, Schutz von "Kulturgut" – vorwiegend dem eigenen -, oder Bau von Mauern, können bestenfalls als dumm und kurzsichtig interpretiert werden. In Wirklichkeit bestehen sie auf globaler Ungleichheit, Ausbeutung und Rassismus als legitimen Lebensentwurf. Gibt es nichts jenseits dieses Kontinuums nationaler Abgrenzung versus neoliberal gefärbter Entgrenzungsideologie? Folgt man den Studien von Wolfgang Merkel, der heute das zweite Panel einleiten wird, haben wir es schon seit längerem mit weltumspannenden sozialen Grenzziehungen zu tun. Dazu gehört nach seiner Analyse die Grenze zwischen globalen Eliten, die geteilte kosmopolitische Werte vertreten, und denen, die dabei nicht mitgehen wollen oder können.

2. Die Konflikte sind kultureller Natur

Die zurzeit dominierenden Konflikte sind kultureller Natur, aber sie sind keine Kulturkämpfe im Huntingtonschen Sinne. Andreas Reckwitz arbeitet in seinem für Herbst 2017 geplanten Buch die These auf, dass wir es in der globalen Spätmoderne mit einem Widerstreit zweier "konträr aufgebauter Regime der Kulturalisierung des Sozialen" zu tun haben . Sie stehen für entgegengesetzte Auffassungen darüber, was Kultur überhaupt bedeutet. Diese Regime, genannt "Hyperkultur" versus "Kulturessenzialismus" repräsentieren eine global zu beobachtende Öffnung versus Schließung von Lebensformen. Das Regime der Hyperkultur bezeichnet Lebensstile, die auf kulturellen Märkten um die Gunst von Menschen wetteifern, die auf der Suche nach Selbstverwirklichung sind. Das alternative Regime des Kulturessenzialismus richtet sich auf Kollektive, auf imagined communities, und baut sie als moralische Identitätsgemeinschaften auf. Die Sphäre der Kultur versteht sich im Rahmen der Analyse als eine Sphäre, in der Objekte, Subjekte, Praktiken mit Wert belegt und mit Bedeutung aufgeladen werden. Wir müssen uns von dem Glauben an eine sukzessive Rationalisierung verabschieden, denn wir haben es mit der Kulturalisierung als Gegenbewegung zu tun. Ging es in der Rationalisierung um Affektreduzierung, haben wir es nun mit einer Intensivierung von Affekten zu tun. "Die Rationalisierung profanisiert die Dinge, die Kulturalisierung sakralisiert sie." In der Spätmoderne seit den 1980er Jahren haben die Kulturalisierungsprozesse erheblich an Fahrt gewonnen: Die Hyperkultur steht für eine expansive Ästhetiserung der Lebensstile, des Berufs, des Essens, des Wohnens, des Reisens, des Körpers und der Beziehungen. Sie wird von einer globalen Mittelklasse getragen, die sie "arbeitend und konsumierend zum Leben erweckt". Im Regime der Hyperkultur avancieren "Diversität" und "Kosmopolitismus" zu Leitsemantiken. Vielfalt sei nicht etwa deshalb interessant, weil Pluralismus das Herzstück der Demokratie ist, sondern deshalb, weil sie den Raum der kulturellen Ressourcen der Kulturindividualisten bereichert. Woher die kulturellen Güter kommen, ist den Lifestyle-Apologeten egal – "entscheidend ist, dass sie zur Ressource subjektiver Selbstentfaltung werden können."

Auch im Rahmen der Strategie des Kulturessentialismus wird die "sachliche Welt des Zweckrationalen wiederverzaubert." Sie greift in Gemeinschaften und Bewegungen, die kollektive Identität beanspruchen, in Kulturen von "Identitären", in imaginierten Herkunftsgemeinschaften, neuen Nationalismen, fundamentalistischen Religionsgemeinschaften. Sie betreiben eine "ausgesprochen aktive, gegen die in der Moderne vorgefundenen Lebenswelten gerichtete Umwertung". Die Grenze zwischen Innen und Außen ist diesen Gruppierungen sehr wichtig, denn sie markiert die Grenze zwischen Wertvoll und Wertlos, zwischen eigener und fremder Nation im Nationalismus, zwischen Volk und Eliten im Rechtspopulismus, zwischen eigener Religion und den Ungläubigen im Fundamentalismus. Das Alte wird ausgespielt gegen das Neue, wie es für die Hyperkultur fundamental ist. "Kollektiv und Geschichte tragen hier dazu bei, Kultur ... zu essenzialisieren". Putin, LePen, Erdogan, die Salafisten teilen sich das gleiche Kulturalisierungsschema und haben die Hyperkultur als gemeinsamen Gegner. "Westen" und "Osten" sind dabei keine geografischen Begriffe mehr, sondern symbolische.

Beide Regime der Kulturalisierung kennen Strategien der friedlichen Koexistenz. Wenn sich beide Regime aber gegenseitig als entgegengesetzte Weisen erkennen, mit Kultur umzugehen, sehen sie sich in ihrer Grundlage bedroht und schalten auf Krieg. Die Hyperkultur wechselt "in den Modus eines Kampfes zwischen der offenen Gesellschaft und ihren Feinden". Die Kulturessenzialisten fürchten die Hyperkultur als expandierendes postmodernes System mobiler Valorisierungen. Gemeinsam haben allerdings beide Kulturalisierungsregime den Umstand, und das muss man wirklich betonen "dass sie kulturalisieren, dass sie valorisieren und damit das Soziale affektiv …aufladen". So haben die hier Anwesenden das Leitmotiv der neuen Kulturpolitik "Kultur für alle" sicher nicht verstanden.

3. Ist damit die Aufklärung am Ende?

Ist damit die Aufklärung am Ende? Ist sie nicht untrennbar mit dem Prozess der sukzessiven Rationalisierung verbunden, wie er sich von Descartes bis zur Entwicklung der modernen Wissenschaften und auch der politischen Bildung nachverfolgen lässt? Nein, meint der kamerunische Politikwissenschaftler Achille Mbembe in einem Beitrag in der ZEIT vom Herbst 2016 . Auch er konstatiert, dass wir den Bereich verlassen hätten, in dem Vernunft der entscheidenden Parameter gewesen sei. Auch er bewertet die Atmosphäre als affektgesteuerte, in der zwischen Fiktionen und Fakten keine klaren Grenzen gezogen werden könnten: "In einer solchen Atmosphäre gibt es keine Verantwortlichkeit, keine Rechenschaftspflicht mehr - und ohne eine solche Rechenschaftspflicht kann es keine Demokratie geben", fasst er zusammen. Mbembe fordert eine Fortsetzung des Projekts der Aufklärung und benennt dies als "geradezu grundlegend für unsere Überlebensmöglichkeiten": "Wir können und wir brauchen tatsächlich eine Neubelebung des kritischen Geistes, eine Kritik, die wichtiger ist heute, als sie es je zuvor war, damit wir Vernunft stärken können, die Unterscheidungsgabe". Und aus diesem Grunde müsse nach seiner Auffassung "das, was von der Aufklärung noch nicht abgegolten ist, … umgesetzt werden."

4. Re-Politisierung

Davon sollten wir uns in den Feldern der Bildung und Kulturpolitik angesprochen fühlen. Fraglich ist, ob wir auf der Basis unserer althergebrachten Konzepte hier noch etwas reißen können? Faktisch agieren wir in einem Feld, das sich sowohl durch die von Reckwitz konstatierte Affektgeladenheit kennzeichnet, als auch durch eine starke Re-Politisierung der Zivilgesellschaft, der Künstler/innen, der Protagonist/innen von Bildung und Kultur, die alle möglichen Richtungen einnimmt. Wo dienen politisches Engagement und Bildung der Aufklärung? Wo bedienen sie den "Cultural War"? Eine Antwortoption dazu hatte Martin Roth im Oktober 2016 geliefert, als er in einem ZEIT-Beitrag die Widerstandsfunktion der Kulturvertreter/innen gegen Nationalismus und xenophobischen Hass adressierte. Er schrieb dort, es gehöre zu den Aufgaben der Nationalmuseen, Nationaltheater, Opernhäuser "die moralische und ethische Dimension ihrer Arbeit in der Öffentlichkeit zu vertreten." Es sind nicht nur die Museumsdirektor/innen, meine sehr verehrten Damen und Herren, die sich hier angesprochen fühlen sollten, sondern Sie alle als Vertreterinnen des Kosmopolitismus und der Hyperkultur in kultur- und bildungspolitischer Verantwortung. Von Ihnen wird intellektueller Widerstand und Einstehen für die demokratischen Werte erwartet. Wie sieht solcher Widerstand aus? Wie füllen wir die Demokratie mit neuer Substanz? Wie sollen wir uns im internationalen Feld engagieren? Diese Fragen werden heute und morgen für uns auf der Agenda stehen. Als Repräsentant der Bundeszentrale für politische Bildung kann ich Ihnen nur einen Impuls aus meinem eigenen Feld mitgeben:

5. Bildung/transkulturelle Bildung

Die Rolle, die Kultur- und Bildungsinstitutionen als Stützpfeilern des Imperialismus zukommt, kann laut Gayatri Spivak, auf keinen Fall überbewertet werden. Die Politikwissenschaftlerin und Pädagogin Maria do Mar Castro Varela arbeitet den Ansatz der postkolonialen Theoretikerin als einen heraus, der sich mit epistemischer Gewalt beschäftigt, mit dem, was Spivak als so genanntes mind fucking herausgestellt hat . In ihren Analysen geht es um die Rolle von Bildung bei Demokratisierungs- und Dekolonisierungsprozessen unter Berücksichtigung pädagogischer Fragen, z.B. wie auf eine permanente Disziplinierung des Geistes verzichtet werden kann. Auch damit, wie "Räume des Denkens geschaffen werden (können), die dissensfreundlich sind?". Heute sei es wichtig, so Castro Varela, die Komplizenschaft zwischen Bildung und Imperialismus/Kolonialismus zu thematisieren und dabei die eigene Privilegierung zu hinterfragen. Bildung impliziert für Spivak insbesondere die Neuordnung des Begehrens, "an uncoercive rearrangement of desires". Dabei spielt reflektiertes Lernen, aber vor allem Ver-Lernen eine zentrale Rolle. Wissen sei, wie jede andere Strategie, niemals universal und folgenlos einsetzbar. Dabei komme es insbesondere auf das Brechen von Regeln an, die Spivak als eine ethische Verpflichtung betrachtet. Es geht dabei sowohl um die Regeln der wissenschaftlichen Disziplin(ierungen) als auch um die Regeln des Erwarteten, des Common Sense, des Normalen. (…) Didier Eribon formuliert dazu in "Rückkehr nach Reims" die These, dass die "Regeln des 'akademischen Diskurses' … immer einer Orthodoxie Vorschub (leisten), die sich gegen die Heterodoxie des kritischen Denkens, auf die 'Einsichten' des 'gesunden Menschenverstandes' stützt. Das von Castro Varela geforderte "Verlernen" bei sich und anderen zu initiieren, erfordere immer auch Experimentierfreudigkeit und Räume, die Experimente zulassen. Das Potential, ein solcher Raum zu sein, hätte beispielsweise das Humboldt Forum gehabt. Für Sonja Zekri bleibt es "ein Rätsel, warum ausgerechnet jener Ort, wo sich beides (Innen und Außen) begegnen könnte, ja müsste, bislang pompös im Vagen schwebt und in einer "bizarren Spannung zwischen äußerem Preußenkitsch … und innerer Unschärfe" verharrt. Folgt man Ihrem Gedankengang, so können die Erwartungen an die Kultur- und Bildungspolitik sowohl im Innen als auch im Außen nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die Etats für Kulturarbeit des Auswärtigen Amtes steigen dementsprechend, aber damit sind wir noch nicht am Ende. Wir müssen uns in der nächsten Zeit viel entschiedener als zuvor mit der Bereitstellung solcher Experimentierräume und mit dem Verlernen des hegemonialen Eurozentrismus beschäftigen. Maria Castro Varela erinnert neben Gayatri Spivak an Ernst Bloch, wenn sie über Utopie spricht, darüber, dass wir das System infrage stellen müssen, ohne bereits ein anderes, besseres Modell aus der Schublade ziehen zu können.

- Es gilt das gesprochene Wort. -