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"Mit Erinnerungspolitik die Demokratie verteidigen – Wirkungsmächtigkeit der Erinnerungsarbeit" (Berlin, 1. Juni 2017) | Presse | bpb.de

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"Mit Erinnerungspolitik die Demokratie verteidigen – Wirkungsmächtigkeit der Erinnerungsarbeit" (Berlin, 1. Juni 2017) Abschlussveranstaltung der Veranstaltungsreihe "Erinnerung und Zukunft" im Deutschen Bundestag in Berlin am 1. Juni 2017

/ 8 Minuten zu lesen

Sehr geehrte Frau Abgeordnete Lotze,
sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,
liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die bis heute immer wieder zitierten Grundlagen der politischen Bildung in Deutschland sind 1976 im "Beutelsbacher Konsens" formuliert worden. Unter anderen auf diesen "Konsens" beruft sich unsere Arbeit bis heute. "Beutelsbach" enthält die "Leitplanken" der politischen Bildung und ist zugleich ein wichtiges Qualitätskriterium.

Entscheidende Punkte sind das Überwältigungsverbot (keine Indoktrination), die Beachtung kontroverser Positionen in Wissenschaft und Politik sowie die Befähigung der Unterrichteten, in politischen Situationen ihre eigenen Interessen zu analysieren. Damit wird festgehalten, dass Kontroversen in Wissenschaft und Politik sich auch in der politischen Bildung widerspiegeln müssen.

Die Bundeszentrale für politische Bildung bewegt sich auch mit historisch-politischer Bildung, und dazu zählt das, was im politischen Raum zu "Erinnerungspolitik" gerinnt, in den Koordinaten von "Beutelsbach".

Historische "Erinnerung", mit Aleida Assmann als "Funktionsgedächtnis" in einer Gesellschaft begriffen, enthält die nicht völlig trennscharfen Dimensionen "Aufarbeitung" und "politische" bzw. "historisch-politische Bildung". Dabei verfolgen Aufarbeitung und politische Bildung, daran sei hier im Hohen Haus zumindest kurz erinnert, durchaus unterschiedliche Ansätze – die sich indes gut ergänzen können zu dem, was man "Erinnerungspolitik" nennen könnte:

  • Aufarbeitung geht es primär darum, Unrecht zu benennen und die Betroffenen und Opfer ins Recht zu setzen; sie ist somit geschichtspolitisch motiviert;

  • Politische Bildung dagegen soll den Einzelnen in die Lage versetzen, auf Grundlage eines historischen Bewusstseins und von historischen Kenntnissen Urteile zu aktuellen Fragen zu bilden.

Aufarbeitung will Verantwortlichkeiten aufdecken, Schuldige (für Mauer und Schießbefehl) benennen, Mechanismen der Diktatur aufzeigen, Opfer ins Recht setzen. Betreibt man im Wesentlichen "Aufarbeitung", ist Demokratie dann zu erlernen, wenn man genügend Kenntnisse über die Funktionsweise von Diktaturen erwirbt.

Politische, in diesem Kontext: historisch-politische Bildung, wird dagegen Handlungsspielräume von Akteuren in einer gegebenen historischen Situation ausloten und diese mit gegenwärtigen ins Verhältnis setzen. Sie will das Rollen-Handeln in einer historischen Situation verstehen und auch nicht wahrgenommene Optionen untersuchen. Sie wird zunächst an den Interessen der Lernenden ansetzen und thematisieren, welchen persönlichen Hintergrund Lernende "mitbringen" (z.B. Migrationsgeschichte). Sie "entdeckt" immer auch nicht-eurozentrische, nicht-weiße Perspektiven und lässt sie gelten. Sie fragt nach Ambiguitäten, hält diese nicht nur aus, sondern befördert sie sogar. Und: Sie wagt Multiperspektivität.

Die Kernthese historisch-politischer Bildung lautet daher: Demokratie ist zu erlernen, zu sichern und zu verteidigen, wenn man demokratisch mit Vergangenheit umgeht und dabei entdeckt, dass es immer viele "Vergangenheiten" gibt.

Historisch-politische Bildung muss und will daher stets skeptisch demgegenüber Position beziehen, was "Erinnerungspolitik" heißt – klingt diese doch sehr stark nach gelenkter Geschichtspolitik. Und doch: Selbstverständlich kann "Erinnerungspolitik" die Demokratie verteidigen und sichern – wenn sie nicht dekretiert wird und wenn es dabei Raum für Ambiguitätstoleranz gibt.

Die bpb – wir werden im November 65 Jahre - hat in der Geschichte der Bundesrepublik (alt) wesentlich dabei geholfen, der Erinnerungsarbeit neue Arbeitsformen zu erschließen. Hier hat die bpb maßgeblich zum Aufbau, Vernetzung und konzeptionellen Modernisierung der Gedenkstätten in der Bundesrepublik beigetragen, die – das sei nochmal erinnert – aus zivilgesellschaftlichen und nicht aus staatlichen entstanden ist; die bpb unterstützte den Ausbau eines Netzes von Denk- und Lernorten über Diktaturen und ihre Überwindung. Sie hat sich als eine der ersten Bildungsinstitutionen systematisch jener drängenden aktuellen Fragen in der Erinnerungsarbeit angenommen, die auch für die SBZ/DDR-Gedenkstätten gelten: Hier geht es aktuell etwa darum, wie etwa die wachsende zeitliche Distanz zu den historischen Ereignissen, aber auch das Sterben der Zeitzeugen, deren Schilderungen bislang den Kern der deutschen Erinnerungskultur und -politik bildeten, begegnet werden kann.

Nach dem Ende der unmittelbaren Zeitzeugenschaft der NS- und in nicht allzu ferner Zukunft auch der DDR-Vergangenheit, wird historisch-politische Bildung stärker als zuvor das kollektive Gedächtnis in den Blick nehmen müssen. Was konstituiert ein kollektives Gedächtnis in der Demokratie? Es gilt, Disparitäten ernst zu nehmen und zu de-konstruieren.

Zwei Beispiele möchte ich skizzieren: Das kollektive Gedächtnis an die deutsche Teilung und die Auswirkungen der europäischen Migrationsgesellschaften auf nationale "Erinnerungspolitiken".

Zunächst zur im Rückblick immer kürzer erscheinenden, aber bis heute stark nachwirkenden, vierzigjährigen Periode der deutschen Teilung. Nicht immer ist die Geschichte der SBZ/DDR auch Teil des kollektiven Gedächtnisses der west- bzw. gesamtdeutschen Bevölkerung. Historiker/-innen arbeiten weiterhin an einer gesamtdeutschen Erzählung, die nach wie vor zerstückelt ist in die Geschichte zweier deutscher Diktaturen. Historisch-politische Bildung muss diese Diskrepanz aufzulösen helfen. Aus Sicht der bpb ist die Vermittlung einer integrierten deutschen Nachkriegsgeschichte in der Bildungsarbeit unabdingbar. Eine Fortführung doppelter Strukturen zeitgeschichtlicher politischer Bildung zur zweiten deutschen Diktatur sollte vermieden werden.

Eine gemeinsame historische Erinnerung wird die ost- und westdeutschen Teilgeschichten aufeinander beziehen und miteinander ins Gespräch bringen können. Es wird die Bedingungen der westeuropäischen Prosperität (Kalter Krieg, europäische Integration, NATO) ebenso ins Bild setzen wie die Umstände der mittelosteuropäischen Stagnation (Kalter Krieg, Ostintegration, Abschottung, Militarisierung). Politische Bildung kann Brücken bauen und Brüche erklären.

Eine gesamtdeutsche Nachkriegsgeschichte, die dem permanenten Diskurs in der historisch-politischen unterworfen ist und aufklärend auf die beiden sehr unterschiedlichen deutschen Diktaturen im europäischen Kontext des 20. Jahrhunderts blickt, wird nachhaltig zur demokratischen Zivilgesellschaft beitragen und Empathie für die Demokratie wecken.

Dreißig Jahre nach der Auflösung des MfS sollte politische Bildungsarbeit zu Themen der Geheimpolizei einer Diktatur stärker zusammengeführt werden mit anderen Aspekten historisch-politischer Bildungsarbeit zur DDR, zur deutschen Zweistaatlichkeit und zur Diktatur. Natürlich lässt sich mit der Konzentration der Aufmerksamkeit auf den Staatssicherheitsdienst sehr schnell das Defizitäre und Verachtende einer – dieser – Diktatur zeigen. Jedoch reicht der Blick auf die Geheimpolizei allein nicht aus, um Herrschaftsformen und -mechanismen einer Diktatur zu verstehen. Dazu gehört auch ein Blick auf den Alltag, wie ihn die Menschen erlebt haben: "Es war ein dauernder Seiltanz zwischen Anpassung und Aufbegehren: Die Widrigkeiten der Mangelwirtschaft, der politische Druck und die schönen und idyllischen Seiten des DDR-Alltags", schreibt etwa Stefan Wolle in "Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971-1989" (bpb-SR 349). Hierin macht er deutlich, dass die "liebevoll hergerichteten Vorgärten der Datschensiedlungen" und die "sauber geharkten Todesstreifen an der Staatsgrenze" zwei Seiten eines Systems darstellten.

Erst die Erinnerung an die Ambivalenzen der "heilen Welt der Diktatur", zu denen auch die Verführungskräfte der Diktatur gehören, ermöglicht es, den SED-Staat als Ganzes zu erfassen.

Deutschland ist der einzige Staat in Mitteleuropa, der im 20. Jahrhundert von zwei sehr unterschiedlichen Diktaturen mit katastrophalen Folgen regiert wurde. Diese beiden Diktaturerfahrungen und der von Deutschland entfesselte Zweite Weltkrieg waren von erheblicher Bedeutung und Auswirkung für Europa und die Welt.

Entsprechend bemüht sich historisch-politische Bildung – fern jeder Gleichsetzung - um eine gemeinsame Erinnerung, um eine bei allen Unterschieden gleichermaßen gewichtete Aufarbeitung beider Diktaturen und ihrer Ursachen: Verführung und Repression sind die zentralen Kennzeichen beider Diktaturen, die in der Forschung wie in der politischen Bildung beleuchtet werden müssen. Eine einseitige Betonung von Zwang, Angst und Repression würde die Gefährdungen durch Diktaturen zweifellos unterschätzen. Daher bedarf es auch und gerade einer Aufarbeitung der "Bindekräfte" solcher Diktaturen.

Meine zweite Skizze betrifft die europäischen Migrationsgesellschaften.

Die europäische Integration machte die Grenzen durchlässig, die Bürgerinnen und Bürger wurden mobiler. Es begegnen sich häufig Narrative sehr unterschiedlicher nationaler Herkunft. Als Anforderung an die historisch-politische Bildung formuliert, bedeutet dies, Konzepte zu entwickeln, welche die unterschiedlichen Überlieferungen aufnehmen und miteinander verbinden.

Nicht nur für die schulische und außerschulische historisch-politische Bildungsarbeit wird es aufgrund der Historisierungs- und Globalisierungsprozesse immer wichtiger, zeitgeschichtliche Epochen in der vergleichenden Gesamtschau zu behandeln – und zwar durchaus in einer nicht-eurozentrischen, weiß-dominierten Perspektive.

Alle europäischen Demokratien sind von Migrations- und Zufluchtsprozessen geprägt. In zehn bis fünfzehn Jahren werden über 50% der 20-jährigen in Deutschland eine Zuwanderungsgeschichte haben. Welchen Bezug haben sie zur deutschen Geschichte? Was gehört überhaupt zur "deutschen" Geschichte, wenn der Anteil von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte, die gleichwohl über den deutschen Pass verfügen und/oder seit Jahrzehnten in Deutschland leben, beständig wächst? Wie sollte historisch-politische Bildung in einer Einwanderungsgesellschaft gestaltet sein?

Heute leben rund fünfzehn Millionen Menschen mit Zuwanderungsgeschichte in Deutschland. Dies ist fast ein Fünftel der Bevölkerung. Mehr als die Hälfte der Menschen mit Migrationshintergrund besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit und viele von ihnen sind in Deutschland geboren. Die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte ist Teil der Erinnerungskultur der Bundesrepublik und verändert diese; Migrationsgesellschaften durchlaufen Prozesse der doppelten Integration. Vielleicht wäre zu fordern, dass diese doppelte Integration auch durch "Erinnerungspolitik" gestärkt und befördert wird.

In diesem Sinne wird die bpb ab August diesen Jahres gemeinsam mit dem Youtuber "Mr. Wissen to go" eine Youtube-Aktion zum Thema "Geschichte" veröffentlichen "History in Real Live", von der wir uns versprechen, auch jene Zielgruppen anzusprechen, die das klassische Geschichts-Schulbuch nicht erreicht. Die erste Folge behandelt hier die "Geschichte der Migration".

Teilhabe an der Erinnerungskultur eines Landes trägt auch zur gesellschaftlichen Teilhabe bei, denn mittels einer gemeinsamen Geschichte werden Zugehörigkeiten und Ausschlüsse produziert. Wessen Geschichten und Deutungen nicht vorkommen, der gehört nicht zum Gemeinwesen. Dabei geht es nicht um eine Vereinheitlichung des Geschichtsbezuges, sondern um einen reflektierten Umgang mit Geschichte, der plurale Geschichtsbilder und Perspektiven zulässt. Die europäischen Migrationsgesellschaften der Gegenwart verlangen neue Sichtweisen auf historische Ereignisse, auf die eigenen Erkenntnisse - Gewissheiten und Perspektiven müssen immer wieder grundlegend neu erklärt werden.

Abschließend möchte ich problematisieren, dass historisch-politische Bildung, die "blinden Flecken" und die Mythen der Zeitgeschichte immer wieder in den Blick nehmen muss. Hat die Dominanz vorherrschender Geschichtsnarrative vielleicht den Blick auf die brutale Kolonialgeschichte Deutschlands verstellt und wie können wir ihr gerecht werden, ohne die Abgründe der beiden deutschen Diktaturen zu verzwergen? Hat die Dominanz des Narrativs der "geglückten Demokratie" im Westen Deutschlands das ostdeutsche Erbe in eine strukturelle Minderheitenposition gerückt? (Verordneter Antifaschismus vs. Schwarzbuch, Luftbrücker als westliche Heroentat vs. Deindustrialisierung Westberlins usw.)

Kann man aus der Geschichte lernen?

Hegel meinte ja, dass sich Geschichte, dass "alle großen weltgeschichtlichen Thatsachen und Personen sich so zu sagen zweimal ereignen".

Marx entgegnete im "Achtzehnten Brumaire": "Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als große Tragödie, das andre Mal als lumpige Farce."

Die deutsche und europäische Geschichte ist reich an großen Tragödien. Um aus der Geschichte zu lernen und eine "lumpige Farce" zu vermeiden, bedarf es historisch-politischer Bildung, wie ich sie eben umrissen habe. Wenn sich Erinnerungspolitik der historisch-politischen Bildung bedient, muss das indes sehr behutsam geschehen.

Die Demokratie müssen beide, politische Bildung und die Politik, verteidigen, und zwar mit allem, was uns zu Gebote steht.

Vielen Dank.

- Es gilt das gesprochene Wort. -

Fussnoten