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Turnschuh. Scheitel. Aluhut. Rechtsextremismus anno 2017 (Rostock, 20.März 2017) | Presse | bpb.de

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Turnschuh. Scheitel. Aluhut. Rechtsextremismus anno 2017 (Rostock, 20.März 2017) Begrüßungsrede zur gleichnamigen Fachtagung der Bundeszentrale für politische Bildung

/ 6 Minuten zu lesen

Sehr geehrte Ministerin Schwesig, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,

ich begrüße Sie herzlich zu unserer bundesweiten Fachtagung „Turnschuh. Scheitel. Aluhut. Rechtsextremismus in Deutschland anno 2017“!

Ich freue mich, dass diese Veranstaltung ein so großes Interesse findet – so groß, dass wir die Anmeldung 6 Wochen früher schließen mussten und wir trotzdem noch eine sehr lange Warteliste hatten.

Hier, in Rostock, sind wir im hohen Nordosten und doch mittendrin im Geschehen und im Thema.

Ende August jähren sich zum 25. Mal die Angriffe auf die so genannten Sonnenblumenhäuser in Lichtenhagen. Damals griff ein großer Mob die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber an, beklatscht von umstehenden Anwohnerinnen und Anwohnern. Tagelang. Auf dem Höhepunkt steckte die aufgewiegelte Menge ein Wohnhaus in Brand, in dem ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter lebten. Es war ein Wunder, dass niemand in diesen Tagen ums Leben kam.

Dem Terror von Rostock gingen die Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte 1991 in Hoyerswerda voran. Viele weitere Attacken und Anschläge folgten. Mitunter auch anderswo begleitet von offener oder klammheimlicher Freude der Anwohnerinnen und Anwohner. Und leider oft ohne strafrechtliche Konsequenzen. Diese Erfahrungen prägten seinerzeit die neonazistische Szene. Auch in Thüringen, wo sich Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe im rechtsextremen Milieu sozialisierten. Die drei gelten als Kerntrio des so genannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU).

Am 25. Februar 2004, knapp zwölf Jahre nach den Ausschreitungen in Lichtenhagen, ermordete dieser NSU hier in Rostock den 25-jährigen Mehmet Turgut. Erst nach dem Auffliegen der terroristischen Organisation wurde der Mord als das anerkannt, was er war – ein rassistisch motiviertes Verbrechen. Zum 10. Todestag 2014 wurde zur Erinnerung an Mehmet Turgut und zur Mahnung im Neudierkower Weg ein Denkmal eingeweiht.

Für manche ist auch das Sonnenblumenmosaik an jenem Plattenbaukomplex in Lichtenhagen, der damals im Mittelpunkt der Angriffe stand, so etwas wie ein Mahnmal. Es erinnert uns, die wir damals fassungslos in Anbetracht dieses unbändigen Hasses waren, wie dünn unser zivilisatorischer Firnis sein kann. Dieses Mosaik kommt mir in den vergangenen zwei Jahren aber auch immer wieder in den Sinn, wenn ich Bilder der Proteste gegen Flüchtlingsunterkünfte in den Nachrichten sehe.

Und dennoch: Geschichte wiederholt sich nicht. Vieles ist heute anders als damals.

Seitdem haben unterschiedliche Bundesprogramme Strukturen gefördert, die sich auf unterschiedlicher Ebene mit den facettenreichen Herausforderungen des Rechtsextremismus auseinandersetzen.

Hinzu kommt eine Vielzahl von Anstrengungen auf Landesebene, häufig in Form von Landesprogrammen gegen Rechtsextremismus und für Demokratie.

Gemeinsam haben Bund und Länder so bestehende Initiativen gestärkt, neue Strukturen beim Aufbau unterstützt und durch die Finanzierung von Modellprojekten geholfen, neue Konzepte zu entwickeln.

Doch spezifische Fördertöpfe entstehen in der Regel, wenn zur Verfügung stehende Mittel umgewidmet werden. Oft heißt das, da kann ich aus eigener Erfahrung der Bundeszentrale für politische Bildung sprechen, dass in anderen Bereichen gestrichen wird. Der Wissenszuwachs themengebundener Modellprojekte darf und sollte aber nicht dazu führen, dass wir die Regelstrukturen vergessen!

Und im Hinblick auf die aktuelle Welle rechtsextremer Angriffe auf Flüchtlinge sehe ich im Vergleich zur Situation Anfang der 1990er Jahre noch einen wesentlicheren Unterschied:

Heute hat sich eine Vielzahl von Initiativen, Vereinen und Verbänden des Themas Rechtsextremismus angenommen. An viel mehr Orten im Land als damals setzen sich Menschen aktiv mit Vorurteilen auseinander und versuchen demokratisches Denken zu verbreiten und zu stärken – unter Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen; in der Kita, Schule, Erwachsenenbildung; beim Sport, THW oder der Feuerwehr; in Freizeit, Ehrenamt oder im Betrieb…

Damit entstanden neue Netzwerke – mitunter in Form runder Tische, an denen vielerorts die Polizei einen selbstverständlichen Platz findet.

Das alles ist nicht immer reibungsfrei, nicht eitel Freude und Sonnenschein. Aber wenn unterschiedliche Positionen und Perspektiven aufeinandertreffen, ist das eben so – Demokratie heißt nicht über Differenzen ein Wohlfühltuch zu legen, sondern Meinungsverschiedenheiten miteinander auszutragen.

Lassen Sie mich aber auch ganz deutlich sagen: Jede und jeder hat ihren und seinen Platz in der Prävention und Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus.

Trotz der vielen Anstrengungen sind wir nach wie vor mit dem Problem Rechtsextremismus konfrontiert. Ihnen werden sicher sogleich Ereignisse, Nachrichten und Bilder der letzten Wochen einfallen…

In Bayern schlägt der Innenminister Herrmann Alarm. Mindestens 1.700 Personen werden in dem Freistaat den so genannten Reichsbürgern zugerechnet. Einer Szene, die fantasiert, dass das Deutsche Reich fortbestehe und die Bundesrepublik eigentlich nicht existiere. Es gibt hier starke Überschneidungen zum Rechtsextremismus. Viele Protagonisten dieses Spektrums sind bewaffnet. Deswegen laufen unter anderem in 44 Land- und Stadtkreisen Baden-Württembergs Bemühungen, ihnen entsprechende Waffenscheine wieder abzunehmen.

In Dresden bewirbt ein junger Verlag aus dem Spektrum der so genannten Neuen Rechten eine Neuerscheinung mit dem Slogan „Ein Buch für Suchende, ein Buch für Träumende“. Als Vorbild verkaufen sie den autobiografisch geprägten Roman eines französischen Faschisten und Kollaborateurs. Sie hoffen, mit dem alten Geist im neuen Gewand die jüngere intellektuelle Rechte zu inspirieren.

Seit Mai letzten Jahres zählte die Berliner Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus mehrere Dutzend Anschläge im Stadtteil Neukölln. Sie reichen von Schmierereien über Stein- und Flaschenwürfe bis hin zu Brandstiftungen. Die Täter: mutmaßlich Rechtsextreme. Die Opfer: Politikerinnen und linke Aktivisten, Buchhändler und Gewerkschaftsmitglieder – Menschen, die sich in ihrem Stadtteil gegen Rechtsextremismus engagieren.

Dies sind Schlaglichter. Aus Ihrem Arbeitsalltag können Sie vermutlich ohne Probleme weitere Beispiele aus den letzten Wochen und Monaten aufzählen.

Es sind Schlaglichter, die als Beispiele für den Titel unserer Veranstaltung stehen. Rechtsextremismus anno 2017 umfasst sowohl modern und jugendlich auftretende Protagonisten als auch Ewiggestrige. Es umfasst vermeintliche Intellektuelle und Menschen, die in einer Welt aus Verschwörungsideologien leben.

Diesen unterschiedlichen Erscheinungsformen trägt das Programm heute und morgen Rechnung.

Der Aufbau der diesjährigen Fachtagung folgt einem Konzept, dem wir uns in den letzten Jahren verpflichtet haben. Zunächst stehen die Bestandsaufnahme und Analyse im Mittelpunkt, dann die Diskussion unterschiedlicher Präventionsansätze.

Die Bundeszentrale für politische Bildung hat das Thema Rechtsextremismus seit den 1960er Jahren auf der Agenda – in unterschiedlicher Intensität, aber als Daueraufgabe. Insbesondere nach der zufälligen Selbstenttarnung des NSU haben wir unsere Anstrengungen in diesem Feld deutlich gesteigert.

Sicherlich wird Ihnen sofort eine Vielzahl von Formaten und Produkten aus unserem Haus in den vergangenen Jahren in den Sinn kommen… einen kleinen aktuellen Ausschnitt hält unser Büchertisch im Foyer bereit.

Seit 2010 sind wir auch verantwortlich für die Umsetzung des Bundesprogramms „Zusammenhalt durch Teilhabe“, das sich vor allem auf den ländlichen Raum konzentriert. Hier bieten sich für uns Chancen neuer Zugänge, die wir künftig stärker nutzen sollten.

Als politische Bildnerinnen und Bildner ist uns daran gelegen, den Gedanken unserer Profession stark zu machen. Wir möchten Verständnis für politische Sachverhalte fördern, das demokratische Bewusstsein festigen und die Bereitschaft zur politischen Mitarbeit stärken.

Entsprechend haben wir ein umfangreiches Programm zusammengestellt. Wir hoffen, dass es Ihnen schwer fallen wird sich zu entscheiden, welche Arbeitsgruppen Sie besuchen möchten. Das wäre für uns ein Zeichen, die richtigen Themen ausgewählt zu haben – Themen, die Sie bewegen.

Ein Novum für uns als Bundeszentrale für politische Bildung ist es, dass ich die Frau Ministerin begrüßen darf – Frau Schwesig, ich freue mich, dass Sie da sind!

Ihre Gegenwart ist beredtes Zeugnis dafür, dass auf Bundesebene unterschiedliche Ministerien bei diesem Thema zusammenarbeiten – eine Zusammenarbeit, die in der letztjährlich entworfenen und veröffentlichten „Strategie der Bundesregierung zur Extremismusprävention und Demokratieförderung“ mündete.

Ich wünsche Ihnen als Teilnehmerinnen und Teilnehmer derweil schon einmal einen erfolgreichen Verlauf der Tagung. Ich wünsche Ihnen, dass Sie neue Informationen, Analysen und Perspektiven mitnehmen. Ich wünsche Ihnen, dass Sie neue Kolleginnen und Kollegen kennenlernen.

Information. Austausch. Vernetzung. Das steht nun zwei Tage lang im Vordergrund. Frohes Schaffen.

- Es gilt das gesprochene Wort -

Fussnoten