Sehr geehrte Damen und Herren,
vor 25 Jahren wurden wir zu Beobachtern einer historischen Zäsur: der Zerfall der Sowjetunion veränderte gesellschaftliche Dynamiken und Debatten in Ost- wie Westeuropa fundamental und wirkt bis heute auch in Deutschland nach. Literatur, Bücher und Bibliotheken spielten hierbei eine herausragende Rolle: Originalausgaben vieler Klassiker der osteuropäischen Literatur wurden verfügbar, viele unbekannte Autoren erstmals auch im Westen entdeckt. Die Schriftstellerin und Lektorin Katharina Raabe beschreibt in ihrem Essay „As the fog lifted“ wie zentral die Erschließung der Erzählungen östlich des ehemaligen Eisernen Vorhangs für das Verständnis der Katastrophen des 20. Jahrhunderts ist: Die Literatur des 20. Jahrhunderts hat sich als Aufgabe erwiesen, sogar den Zivilisationsbruch – den Auschwitz und Kolyma darstellten – zu beschreiben. Doch bis 1989 war diese Literatur unzureichend bekannt […] Welche Rolle spielte Literatur bei der Rehabilitierung des „halbseitig gelähmten europäischen Bewusstseins“, um Jorge Semprún aus seiner Rede 1995 in Buchenwald zu zitieren? Welche Rolle spielt Literatur bei der Erinnerungsarbeit?
Doch nicht allein die Rolle der Literatur, sondern auch der Urheberschaft sollten wir in den Blick nehmen, wenn wir von Erinnerungsarbeit sprechen: Denn der Schriftsteller als Zeitzeuge und Seismograph der Gesellschaft kann zu einem besseren Verständnis historischer Zusammenhänge beitragen, wie etwa die Werke der Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch zeigen. In ihrem Buch „Secondhand-Zeit“ beschreibt sie, was mit den Menschen geschehen ist, als die UdSSR sich auflöste und kommt zu dem Ergebnis, dass der "rote Mensch" es nicht in das Reich der Freiheit geschafft habe, von dem er in der Küche geträumt hatte. Welche Art von Freiheit haben die Menschen in Alexijewitschs Küchen erträumt? Und was bedeutet eigentlich Freiheit? Eine Frage, auf die überall auf der Welt unterschiedliche Antworten gesucht werden und woraus unterschiedliche gesellschaftspolitische Konsequenzen gezogen werden.
Auch die postsowjetische Geschichte kann in Anbetracht dieser Fragestellungen unterschiedlich erzählt werden. In einigen Regionen war der Freiheitsbegriff gleichbedeutend mit nationaler Unabhängigkeit, was zu bewaffneten Auseinandersetzungen führte, wie etwa in Georgien, Aserbaidschan oder Moldawien. Im Baltikum wiederum verlief die Loslösung von der Sowjetunion weniger brutal. Welche Rolle spielt die Anbindung an die EU bei der Entwicklung postsowjetischer Staaten? Welche Rolle spielt sie bei der Ausprägung eines Freiheitsbegriffs, der auch politische Partizipation impliziert? Welche Rolle spielt sie bei Renationalisierungsprozessen wie gegenwärtig in der Ukraine?
Ich möchte hier den Blickwinkel auf Gesamteuropa weiten und die Frage stellen, welche Freiheitsbegriffe in Zeiten rechtspopulistischer Dynamiken kursieren. Welche politischen Konsequenzen könnte jener Freiheitsbegriff auslösen? Ein genauerer Blick – auch mit Hilfe der Literatur – auf die Staaten von Mittel- und Osteuropa lohnt, um Dynamiken innerhalb Deutschlands besser einordnen zu können. Die politischen Ereignisse der vergangenen Jahre – Proteste, Revolutionen und sozialer Wiederstand – in den sich transformierenden postkommunistischen Ländern verursachten nicht nur Brüche in politischen Systemen, sondern auch in Erinnerungsdiskursen. Viktimisierungskonzepte auf der einen Seite und Glorifizierung auf der anderen, stellten bis dahin die Ergebnisse eines Erinnerungsprozesses dar, der zum Teil bis heute nicht überwunden ist. Hinzu kommt, dass Erinnern häufig nicht nur Vergangenheitsbewältigung und Geschichtsaufarbeitung bedeutet. Es wird auch oft von den Machthabenden als ein politisches Instrument und gar als ein politischer Imperativ betrachtet und avanciert zu einem Propagandainstrument. Die Positionierung bzw. Instrumentalisierung von Schriftstellerinnen und Schriftstellern spielt dabei keine unbedeutende Rolle, wie beispielsweise der Fall Solschenizyn zeigt. Bereits zu Lebzeiten hatte sich der Literaturnobelpreisträger vom Dissidenten zum antisemitischen, russischen Nationalisten gewandelt. Kurz nach seinem Tod 2008 wurde er von der Kremlpartei „Einheitliches Russland“ zu ihrem ideologischen Patron ernannt.
Literatur und Erinnerungsarbeit sind also eng verwoben. Und ganz unabhängig davon, wie Geschichtsaufarbeitung und Erinnerungskultur betrieben wird, wird politisches Handeln durch das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft legitimiert. Das kollektive Erinnern hat eine „soziale Komponente“, so der Soziologe und Philosoph Maurice Halbwachs, und übernimmt auch eine identitätsbildende Rolle. Und es ist häufig die Aufgabe von Schriftstellerinnen und Schriftstellern, also auch Ihre Aufgabe, die kollektiven Erinnerungsnarrative zu dokumentieren, einzuordnen und auch zu hinterfragen. Die Annexion der ukrainischen Krim durch Russland beispielsweise hat gezeigt, dass das kulturelle Gedächtnis zum einen eine kolonisierende und zum anderen eine mobilisierende Dimension enthält. Kaum ein Schriftsteller in der Ukraine hat nicht Stellung zu dem Krieg bezogen und ich freue mich darüber einige von ihnen auf dieser Tagung zu sehen (z.B. Juri Andruchowytsch, Serhij Zhadan, Katja Petrowskaja). Jene Schriftstellerinnen und Schriftsteller haben auch dazu beigetragen, dass das zweitgrößte Land Europas auf der mentalen Landkarte der Europäer im gesamteuropäischen Bewusstsein wahrgenommen wird.
25 Jahre nach Zerfall der Sowjetunion sind die Ereignisse aus dieser Zeit noch immer Identitätsstifter, Grundlage politischer Legitimation und treibende Kraft politischer Mobilisierung. Ich freue mich darauf, in den kommenden Tagen gemeinsam mit Ihnen „Rückwärts in die Zukunft“ zu schauen und die Auswirkungen auf die gegenwärtige Kultur, Sprache und Literatur zu ergründen. Ich wünsche uns allen anregende Debatten und spannende Einsichten.
- Es gilt das gesprochene Wort -