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Gedächtnis und Gerechtigkeit (29.9.2016 in Berlin) | Presse | bpb.de

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Gedächtnis und Gerechtigkeit (29.9.2016 in Berlin) Grußwort zur Konferenz "Gedächtnis und Gerechtigkeit. Ein Gespräch zwischen Kunst, Recht und Zivilgesellschaft zu Menschheitsverbrechen, Folter und Techniken der Aufarbeitung" vom 29.9. bis 1.10.2016 in Berlin

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Sehr geehrter Wolfgang Kaleck,
Sehr geehrte Jeanine Mehrapfel,
sehr geehrte Estela de Carlotto,
meine verehrten Damen und Herren,

unabhängig davon, ob wir die aktuelle Gewalt in Syrien, Kolonialverbrechen oder angewandte Folter im "Krieg gegen den Terrorismus" in den Blick nehmen: Die Ahndung von begangenen Verbrechen und die Anerkennung von Leid ist ein elementarer Anspruch, den Menschen an ihre Gesellschaften stellen dürfen. Anerkennung von erlittenem Unrecht kann ein Weg sein, Opfern und ihren Angehörigen ihre Würde zurück zu geben. Die Ahndung von begangenen Verbrechen hat auch eine wichtige gesamtgesellschaftliche Funktion: Werden sie nicht aufgearbeitet, können sich Gewaltstrukturen reproduzieren, Praktiken der Unterdrückung fortsetzen, Traumata über Generationen vererben. Und es kann kein neues Vertrauen in die Institutionen einer Gesellschaft geschaffen werden. Aufarbeitung und Erinnerung können so gesehen auch Formen der „nachholenden Gerechtigkeit“ sein. Aufarbeitung ist jedoch nichts, was durch simplen Schiedsspruch erfolgen kann. Vielmehr geht es um einen Prozess, der vor allem für die Opfer und ihre Angehörigen schmerzhaft sein kann.

Was ist unter kollektivem Gedächtnis zu verstehen? Welche Verbrechen wie aufgearbeitet werden, spiegelt sich im kollektiven Gedächtnis einer Gesellschaft wider. Für Aleida Assmann ist das kollektive Gedächtnis „ein Programm, eine Selbstbindung, eine Form, die Vergangenheit präsent zu halten, von der man glaubt, dass man auf sie nicht verzichten kann, weil man sie für die Gegenwart und für die Zukunft braucht.“ Assmann betont, „dass zwischen Tätern und Opfern heute gemeinsames Erinnern eine wesentlich bessere Grundlage für eine friedliche und kommunikative Zukunft bildet als gemeinsames Vergessen“. Gemeint ist damit ein gemeinsames Erinnern, das „auf universale Anerkennung von Leiden und therapeutische Überwindung lähmender Nachwirkungen angelegt“ ist. So wie Geschichte auch immer konstruiert ist – eine Konstruktion, die über die Gegenwart mehr aussagt als über die Vergangenheit –, ist auch Erinnerung konstruiert. Das kollektive Gedächtnis ist nicht statisch, sondern wird laut Assmann geschaffen „mithilfe unterschiedlicher memorialer Medien wie Texten, Bildern, Denkmälern, Jahrestagen und Kommemorationsriten“. Es liegt nahe, dass dabei verschiedene Perspektiven aufeinandertreffen.

Unter dem Stichwort Multiperspektivität hat dieser Ansatz Eingang in die historisch-politische Bildung gefunden. Er ist verbunden mit dem Ziel, dass aus Gewaltverbrechen der Vergangenheit für die Zukunft gelernt werden soll. Denn Geschichte zu verstehen, gründet sich nicht allein auf Faktographie. Zu wissen, dass etwas geschehen ist und dieses Wissen für die Gegenwart in angemessener Form – auch sprachlich angemessen – zu reflektieren, ist eine Aufgabe der historisch-politischen Bildung. Durch einen umfassenden Blick auf die Gewaltsysteme sollen Akteure, Strukturen, Mechanismen und Praktiken des Verbrechens verstehend nachvollzogen werden – nicht zuletzt, um auch Räume und Formen des Widerstands sichtbar zu machen. Dadurch kann sich der Frage genähert werden, warum manche Menschen die Gewalt unterstützten und andere nicht; und welche gesellschaftlichen Zusammenhänge zu Gewalt und Unterdrückung führten.

Wo liegen die Herausforderungen? Gemeinsames Erinnern basiert auf zahlreichen Voraussetzungen. Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass sich der Ansatz der Multiperspektivität auf einem schmalen Grat bewegt: Es besteht die immanente Gefahr, dass Opferleid hinter die Tätergeschichten zurücktritt und damit relativiert wird. Gesellschaften, in denen massive Gewaltverbrechen stattfanden, werden in Spannung gehalten vom Widerspruch zwischen der Wahrung von Opferinteressen und der Notwendigkeit einer politischen Aussöhnung zwischen Opfern, Tätern und anderen Konfliktparteien.

Der Versuch, Erinnern, Versöhnen und Lernen angemessen gerecht zu werden, kann scheitern, wenn

  • der institutionelle Rahmen zur strafrechtlichen Aufarbeitung nicht gegeben,

  • der öffentliche Raum für kontrastierende Erinnerungsdiskurse nicht geschaffen,

  • wenn gegensätzliche Opfer- und Täterperspektiven nicht ins Gespräch miteinander gebracht werden.


Hier rücken neben der strafrechtlichen Aufarbeitung auch die historisch-politische Bildung sowie die kulturelle Praxis ins Blickfeld. Der Dreiklang, wie er sich auf dieser Konferenz widerspiegelt, ist essenziell, möchte man sich der Idee des gemeinsamen Erinnerns – mit dem Ziel des Lernens für die Zukunft – nähern. dabei sollte uns klar sein: Keine der hier vertretenen Disziplinen kann die Herausforderung allein meistern, aber alle gemeinsam sind wichtige Bausteine für das Zusammenführen von "Gedächtnis und Gerechtigkeit".

Die Strafverfolgung ist ein wichtiger - wenn nicht elementarer - Schritt hin zur materiellen Gerechtigkeit für die Opfer und ihre Angehörigen. Zudem trägt die Ermittlung der Wahrheit, besser: die Annäherung an diese, und des Ausmaßes begangenen Unrechts zur Stabilisierung von Post-Konflikt-Gesellschaften bei. Hier wurde mit der Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs ein Meilenstein in der internationalen Strafjustiz gesetzt. Es ist der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, die sich seit einiger Zeit beobachten lässt: neben die global vernetzte Wirtschaft und Politik tritt eine zunehmend transnational organisierte Zivilgesellschaft; Sie wird aktiver, sichtbarer und im positiven Sinne lauter. Ein besonderes Aktionsfeld ist das Völkerrecht - getragen von der Überzeugung, es als transnationalen Schutzmechanismus für die Wahrung von Menschenrechten auszubauen.

Wolfgang Kaleck bezeichnete Gerichte einmal als mögliche "Foren des Protests". Ich möchte das Bild aufgreifen und weiterspinnen: Durch die Gerichtsverfahren wird nicht nur Unrecht geahndet und Recht gesprochen. Es entstehen auch Resonanzräume und öffnen sich Diskursmöglichkeiten über den Gerichtssaal hinaus. Die Verfahren erzeugen Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit. Und regen zur kritischen Auseinandersetzung mit herrschenden Meinungen an. Das ist vor allem in den Fällen wichtig, in denen einflussreiche Akteure einer Gesellschaft kein Interesse an einer Aufarbeitung oder Verhandlung von begangenem Unrecht haben. Diese Resonanzräume sind auch wichtig, weil sie Aushandlungsorte sind für Fragen, die eine strafrechtliche Aufarbeitung allein nicht beantworten kann:

Beispielsweise wann Schuld und vor allem schwere Schuld als aufgearbeitet gilt. Dies beschäftigt Rechtsphilosophen seit Jahrhunderten. Dennoch kann es nicht gelingen, einen für alle individuellen Vorstellungen oder gesellschaftlichen Notwendigkeiten gleichermaßen befriedigenden Begriff von Schuld, Schuldeingeständnis und Versöhnung zu erreichen.

Oder aber, was Gerechtigkeit ist. Gerechtigkeit ist nicht per se vorhanden, sie kann nicht per Dekret verordnet werden. Der verstorbene Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Winfried Hassemer, meinte dazu: „Gerechtigkeit gibt es nicht zum Greifen, Aufheben und Anwenden; sie „ist“ nicht, sie „entsteht“ – und zwar in Auseinandersetzung mit anderen, im Zuhören, im Beraten, in der Beseitigung von Missverständnissen, im erneuten Versuch nach dem ersten Scheitern, kurzum: im Verfahren und in Formen.“ Was in einer Gesellschaft allgemeingültig als gerecht empfunden wird, ist Gegenstand gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse.

Von besonderer Bedeutung ist auch, welche Rolle Opfern von Massenverbrechen im Rahmen der Strafverfahren zukommen kann. Die Einbeziehung der Opfer in das Verfahren soll diesen Anerkennung zeigen und Wiedergutmachung durch die Erleichterung von Schadensersatzprozessen ermöglichen. Auf symbolischer Ebene soll festgehalten werden, dass nicht allein die Täterinnen und Täter im Mittelpunkt des Verfahrens stehen.

Doch es stellen sich Fragen, die auch jenseits der strafrechtlichen Aufarbeitung relevant sind: Ist es möglich, allen Opfern eine Stimme zu geben? Wie können die unterschiedlichsten Verbrechenserfahrungen, Erinnerungen und Traumata hinreichend verarbeitet werden? Wessen Verbrechen werden vor Gericht gestellt, wessen Opferleid wird sichtbar gemacht und wessen Erinnerung findet Eingang ins kollektive Gedächtnis? Um diese Fragen verhandeln zu können, braucht es Resonanzräume, in denen konkretes Unrecht sichtbar gemacht werden kann; und in denen Geschichten, die keinen Eingang in das offizielle kollektive Gedächtnis finden, erzählt werden können.

Es braucht aber auch unabhängige, zivilgesellschaftliche Akteure, um die Einhaltung von Menschenrechtsnormen zu überwachen, Verletzungen zu thematisieren und Gegenrede zu organisieren. Das haben die Vereinten Nationen zuletzt im vergangenen Juli zum wiederholten Male in einer Resolution unterstrichen. Hierin werden die Mitgliedstaaten dazu aufgerufen, Räume und Aktionsmöglichkeiten für zivilgesellschaftliche Akteure zu schaffen und zu schützen. In vielen Fällen ist es der Arbeit von Nichtregierungsorganisationen, insbesondere Menschenrechtsbewegungen, zu verdanken, dass Straflosigkeit überhaupt thematisiert und skandalisiert wurde. Sie greifen Leerstellen und blinde Flecken vergangenen Unrechts auf und fordern ihre Verhandlung ein. Damit sind sie wichtige Treiber hin zur Pluralisierung offizieller Erzählungen, zu ihrer Dekonstruktion, und zur Sichtbarmachung neuer oder vergessener Perspektiven. So wäre etwa die Aufarbeitung der Militärdiktaturen in Chile und Argentinien ohne die Rolle von Menschenrechtsbewegungen nicht denkbar gewesen.

Ein weiteres Beispiel ist die Kolonialvergangenheit Deutschlands: Erst langsam entwickelt sich ein Bewusstsein für dieses historische Kapitel und die Verwobenheit des Deutschen Reiches und dessen Vorgänger, etwa in Preußen, in die Ausbeutung anderer Länder. Träger dieser Impulse sind im Wesentlichen zivilgesellschaftliche Akteure. Sie weisen auf „vergessene Geschichten“ hin und wollen offizielle Narrative irritieren. Sie entwickeln alternative Stadtrundgänge, in denen koloniale Vergangenheit sichtbar wird; sie fordern die traditionelle Geschichtsschreibung heraus und bestehen auf das Erzählen dieser vergessenen Geschichten.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Heute, der 29.9., ist der 75. Jahrestag des Massakers von Babyn Jar. 1941 wurden in der Schlucht Babyn Jar nahe Kiew fast 34.000 Juden von der deutschen Wehrmacht und SS-Männern erschossen.

Babyn Jar ist das Symbol für den Holocaust "by bullets" - es sind weit mehr Menschen von den Nazis bei Massakern, Erschießungen und Pogromen ermordet worden als in den Vernichtungslagern. In der Schlucht von Babyn Jar geschah vor 75 Jahren das größte Massaker in Osteuropa. In der Sowjetunion wurde dieses Ereignis von offizieller Seite kaum erinnert. Historiker begründen dies unter anderem mit der These, dass es nicht in die heroische Erzählung des "großen Vaterländischen Krieges" passte; dieses Siegesnarrativ dominierte die sowjetische Geschichtspolitik bis zu ihrer Implosion.

Bei den Opfern und ihren Angehörigen blieben die Erinnerungen an die Grauen wach. Das Bedürfnis, durch das Gedenken eine Form der Gerechtigkeit zu erfahren, wurde ausnahmslos durch zivilgesellschaftliche Akteure gestillt. Sie haben trotz der offiziell verordneten Vergessenheitspolitik der Sowjetunion die Erinnerung wach gehalten. Der streitbare Historiker Timothy Snyder gilt als Kenner der Geschichts- und Erinnerungsdiskurse im östlichen Europa. Im heutigen Interview mit dem Spiegel fordert er, dass wir "über den Holocaust" als ein "Ereignis mit Gründen" nachdenken sollten; um daraus lernen zu können, dürften wir die "Gründe und Strukturen" des Holocausts nicht vergessen, eine Behandlung "allein in Diskursen, Bildern und Erinnerungen" würde nicht ausreichen.

An dieser Stelle rückt die politische Bildung stärker ins Bild. Zunächst gilt festzuhalten, dass Aufarbeitung selbst Gegenstand der Reflexion in der historisch-politischen Bildung ist; die Ergebnisse der Strafverfahren werden als Teil des Diskurses genutzt und diskutiert – wie etwa in der Aufarbeitung der NS-Diktatur in der Bundesrepublik der 1950er und 1960er Jahre. Historisch-politische Bildung braucht den Bezug zur Gegenwart. Sie urteilt nicht selbst, sondern möchte eigene Urteile provozieren. Im Mittelpunkt stehen das Verstehen, Kontextualisieren und Diskutieren von historischen Ereignissen und Prozessen. Es geht dabei vor allem auch um die Grautöne, die dabei helfen sollen, die Verführungskraft von Diktaturen zu erfassen. Sie will Handlungsspielräume von Akteuren ausloten, diese mit gegenwärtigen ins Verhältnis setzen. Dadurch soll die Wahrnehmung dafür geschärft werden, wo Wege in eine Diktatur - und aus ihr heraus - angelegt sind.

Eine Grundannahme historisch-politischer Bildung liegt im Perspektivwechsel: Betrachtet man Geschichte nicht nur aus der Opfer-Täter-Perspektive, sondern bezieht auch Mitläufer, Helfer, Retter, Zuschauer, Profiteure mit ein – und vermittelt so eine Multiperspektivität auf die Geschichte -, ermöglicht dies eine umfassende Auseinandersetzung und eröffnet Fragen zu Handlungsoptionen. Der Blick geht über einzelne Akteure hinaus und richtet sich auch auf gesellschaftliche Zusammenhänge und Strukturen. Diese Betrachtungen wiederum können in einer Kernfrage der historisch-politischen Bildung münden: Welche Lehren zieht eine Gesellschaft, ihre Politik, ihre Institutionen aus der verbrecherischen Vergangenheit und wie können sich diese Lehren einschreiben in die Grammatik einer Gesellschaft? Damit verbunden ist das Ziel, aus der Überwindung des Schweigens die Voraussetzungen für Gerechtigkeit zu schaffen.

Die Konferenz bietet hierzu gute Voraussetzungen. Ich wünsche fruchtbare Diskussionen und danke für Ihre Aufmerksamkeit.

- Es gilt das gesprochene Wort -

Fussnoten