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Vielfalt und Integration - Rolle der Bürgermedien (27.6.2016, Stuttgart) | Presse | bpb.de

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Vielfalt und Integration - Rolle der Bürgermedien (27.6.2016, Stuttgart) Beitrag zur Fachtagung „medien.vielfalt.integration“

/ 12 Minuten zu lesen

Sehr geehrte Damen und Herren,

Deutschlands Bevölkerung wird vielfältiger. Das machen die Anfang Mai in Berlin vorgestellten Zahlen des Datenreports 2016 unmissverständlich deutlich. Der Datenreport ist ein Sozialbericht über die Bundesrepublik Deutschland, den die Bundeszentrale für politische Bildung zusammen mit dem Statistischen Bundesamt und weiteren Partnern herausgibt. Auch die in den Medien, vor allem im Spätsommer und Herbst des letzten Jahres, dauerpräsente Entwicklung der Fluchtmigration nach Deutschland spricht für sich. Jeder fünfte Mensch in Deutschland hat seine Wurzeln im Ausland. Und es sieht nicht so aus, als ob diese Quote in absehbarer Zeit sinken wird - im Gegenteil. Schauen wir nur auf die Kinder in Deutschland unter sechs Jahren, da hat schon jedes dritte einen Migrationshintergrund (u.a. auch: Bildungsbericht 2014 der Bundesregierung). Solche Statistiken belegen aufs Neue, was schon längst erkennbar und anerkannt ist. Einwanderung wirkt dem demografischen Wandel, einer Überalterung der Gesellschaft, entgegen und unterzieht unsere Gesellschaft einer tiefgreifenden Transformation. Der Prozess dieser Transformation muss diskutiert und ausgehandelt werden, sonst werden wir blindlings in Konflikte hineingeraten.

In meinem Vortrag soll es um die Rolle der Bürgermedien in diesem Prozess gehen. In den Bürgermedien haben Menschen mit Migrationshintergrund – und ich zähle die gerade erst in Deutschland angekommenen Geflüchteten explizit dazu – die Möglichkeit, selbst mitzugestalten. Zahlreiche Beispiele, wie so etwas aussieht, konnten und können wir heute hier kennen lernen.

Deutschland als postmigrantische Gesellschaft
Lassen Sie mich zu Beginn die Transformationsprozesse unserer Gesellschaft anhand einiger Fragen darstellen.

Die erste und allumfassende Frage lautet: Wer sind „Wir“ eigentlich?
Mit dem Bekenntnis Deutschlands zu seiner Identität als Einwanderungsland ist auch die postmigrantische Gesellschaft ein Fakt, der nicht mehr weg zu argumentieren ist: Dieser Begriff der postmigrantischen Gesellschaft wurde vor allem durch die Berliner Kulturszene popularisiert und meint eine Gesellschaft, in der immer mehr Menschen über eigene oder familiäre Migrationserfahrungen verfügen. Eine Gesellschaft, in der hybride Identitäten, plurale Erfahrungswelten, grenzüberschreitende Lebensweisen und multiperspektive Geschichtsbilder sich verdichten und neue Sichtbarkeit erlangen. Das hat Auswirkungen auf alle Mitglieder der Gesellschaft. Die postmigrantische Gesellschaft ist der Begriff für einen Wandlungsprozess, dem alle ausgesetzt sein werden.

Unsere Gesellschaft, die sich nun mal lange Zeit nicht als Einwanderungsgesellschaft begriffen hat, ist nun darum bemüht, ihre Strukturen, Institutionen und politische Kultur nachholend an die erkannte Migrationsrealität anzupassen. Diese Bemühungen haben für mehr Durchlässigkeit und soziale Aufstiege gesorgt. Sie haben aber auch Abwehrreaktionen und Verteilungskämpfe zur Folge. Die postmigrantische Gesellschaft stellt also die Frage nach einem neuen gesellschaftlichen „Wir“.

Die zweite Frage ist: Was eigentlich ist und meint „Teilhabe“?
Im bereits erwähnten Datenreport werden wir daran erinnert, dass Migranten und ihre Nachkommen in unterschiedlicher Weise und Ausprägung am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Sie sind strukturell benachteiligt. Die größten Einflussfaktoren darauf sind ihr rechtlicher und sozialer Status, die wichtigsten Voraussetzungen zur Behebung sind Bildung und berufliche Qualifizierung. Wir müssen deshalb darum bemüht sein, Maßnahmen zu verstärken, um den relativen Rückstand von Menschen mit Migrationshintergrund im Bereich der gesellschaftlichen Teilhabe zu beseitigen.

Die nach Deutschland kommenden und auch die bereits länger in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationshintergrund sollten die Möglichkeit haben, tatsächlich „anzukommen“. Für uns als Institution der politischen Bildung bedeutet dies einerseits, dass entsprechende Zugänge zu Bildungsangeboten und Orientierungshilfen geschaffen werden müssen. Gleichzeitig müssen aber auch partizipative Strukturen entstehen, die es ermöglichen, dass Menschen mit Migrationshintergrund sich beteiligen und somit gesellschaftliche Prozesse mitgestalten können. Vor diesem Hintergrund hinterfragen wir unser eigenes Handeln durchaus selbstkritisch: Sprechen wir die wesentlichen Konfliktlinien, aber auch Handlungsfelder einer sich transformierenden Gesellschaft an?

Wie ist das bei Ihnen? Haben Sie als Medienmacher die Zeichen der Zeit erkannt? Spiegelt Ihr Programm die postmigrantische Gesellschaft in ausreichendem Maße wider?

Stellen wir uns gemeinsam diese Fragen, erkennen wir: Gesellschaftliche Teilhabe, verstanden als Engagement und Partizipation am politischen Diskurs, ist stark davon abhängig, wie offen und durchlässig die Mehrheitsgesellschaft für Menschen mit Migrationserfahrungen ist und wie bereits sie sind, sich selbst diesen Herausforderungen anzuverwandeln.

Die dritte und letzte Frage: Welchen Herausforderungen müssen wir uns stellen?
Die kürzlich von Forschern der Universität Leipzig veröffentlichte „Mitte-Studie“ zeigt, dass zwar die Zahl derer, die eine rechtsautoritäre Diktatur befürworten, in den vergangenen zwei Jahren nur leicht angestiegen ist (auf fünf Prozent). Die Ausländerfeindlichkeit aber erreicht einen sehr hohen Wert. Rund 22 Prozent der für die Studie befragten Personen ließ eindeutig ausländerfeindliche Tendenzen erkennen.

Vor allem die Vorurteile gegen Muslime und Geflüchtete nehmen zu. Jeder zweite Befragte gibt an, sich angesichts vieler Muslime "wie ein Fremder im eigenen Land" zu fühlen und über 40 Prozent wollen Muslimen die Zuwanderung nach Deutschland untersagen. Das macht uns deutlich: Die postmigrantische Gesellschaft stellt noch lange nicht für jeden einen akzeptierten Status Quo dar

. Im Gegenteil gibt es weiterhin rassistisch, zum Teil völkisch anmutende Anschauungen in der Gesellschaft, die tief verwurzelt sind. Dass solches Gedankengut – auch in dieser Größenordnung – in jeder Gesellschaft vorhanden ist, stellt keine Neuigkeit dar. Sehr bedenklich wird es allerdings, wenn es sich offen Bahn bricht. Denn dann droht die Stimmung zu kippen und solche Denkweisen mehrheitsfähig zu werden.

Die hervorstechenden Beispiele hierfür sind in Deutschland natürlich die verschiedenen PEGIDA-Bewegungen und die an Stärke gewinnende rechtspopulistische Schlagseite in den öffentlichen Diskussionen und ihre Repräösentationsformen. Die Asylpolitik der Bundesregierung ist hier nur ein Aufhänger: Wie im Brennglas zeigt sich in dieser Diskussion eine tiefsitzende grundsätzliche Abwehrhaltung gegen alles, was anders und fremd ist.

Hier sehe ich unser wichtigstes gemeinsames Aufgabenfeld im Zusammenhang mit Migration und Integration. Denn Integration darf nicht als einseitiger Prozess betrachtet werden. Die postmigrantische Gesellschaft funktioniert nur, wenn eine beiderseitige Integration stattfindet. Mit anderen Worten: Wenn auf Basis eines Konsenses über die normativen Grundwerte – das heißt das Grundgesetz – gesellschaftliche Konflikte von allen Beteiligten gemeinsam verhandelt werden und alle Seiten sich auf den Weg in ein neues „Wir“ machen.

Für die politische Bildung bedeutet das, dass wir diese in Teilen der Gesellschaft herrschenden Vorurteile nicht nur im Blick haben, sondern sie entkräften müssen. Dafür stellen wir alltagstaugliche Argumentationshilfen gegen Hass und jegliche Formen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit bereit. Zum einen in Form unserer klassischen Angebote, also faktenbasierte Unterrichtsmaterialien und Publikationen, in Online-Dossiers und auf Veranstaltungen aller Art. Aber auch auf anderen Wegen sind wir aktiv und kooperieren zum Beispiel mit Stars aus der YouTuber-Szene, die junge Menschen erreichen, die sonst nicht einmal mehr über das klassische Massenmedium Fernsehen angesprochen werden können. Mit alldem verfolgen wir das Ziel, dass in einer postmigrantischen Gesellschaft die Souveränität im Umgang mit Vielfalt und Pluralität zur sozialen Norm wird.

Die Rolle der Bürgermedien
Mancher und Manche unter Ihnen wird sich nun denken „Alles schön und gut, aber was genau hat das mit uns, den Bürgermedien zu tun?“. Als politischer Bildner einer staatlichen Institution in Deutschland, betrete ich hier gerne dünnes Eis und berufe mich auf Johann Wolfgang Goethe, der in seinem Roman „Die Wahlverwandtschaften“, den besagten Begriff geprägt hat. Anknüpfend an die damaligen Kenntnisse der Chemie beschreibt er damit die potentielle Nähe von Partnern, die mehr miteinander zu tun haben, als ihnen auf den ersten Blick auffällt.

Institutionen politischer Bildung verstehen sich als Erklärer, Ergründer und Aktivierer gesellschaftspolitischer Fragestellungen. Ist das nicht auch bei Ihnen und Ihrer Arbeit der Fall? Wir politischen Bildner, das möchte ich in aller Deutlichkeit betonen, setzen deshalb auf Partner wie Sie und Ihre vielfältigen Angebote als unsere Wahlverwandten, oder besser noch: als unsere natürlichen Verbündeten. Das gilt für sehr viele Bereiche, besonders aber für die beiderseitige Integration und die Aushandlung des neuen gesellschaftlichen „Wir“.

Ich betrachte Bürgermedien darum als eine der möglichen und mitentscheidenden Plattformen, auf der diese beiderseitige Integration stattfindet. Sie sind Wegbereiter hin zur Pluralisierung der Medien, der Institutionen und der Gesellschaft als Ganzes. Diese große Aufgabe betrifft alle Funktionen, die ich den Bürgermedien gerne zuschreibe:
als Unterstützer der Meinungsbildung,
als Möglichkeit der Meinungsäußerung und
als Orte der Schulung von Medienkompetenz.

Meinungsbildung, Meinungsäußerung, Medienkompetenz
Bürgermedien greifen Themen und Debatten vor Ort auf und tragen dazu bei, den Bürgern ein umfassendes Bild zu liefern. Eine wichtige Aufgabe besteht darin, gesamtgesellschaftlich relevante Themen abzubilden und deren lokale Wirkung deutlich zu machen. Offene TV- und Radiokanäle haben die Chance, wenn nicht gar die Pflicht, diesen Themen die Anonymität und Abstraktheit zu nehmen. Sie wirken damit erheblich an der Meinungsbildung vor Ort mit. Sie haben die Chance, Ihren Zuhörern und Zuschauern ein möglichst umfassendes Bild lokaler Interessen und Meinungen zu liefern.

Die offenen TV- und Radiokanäle sind vor gut 30 Jahren als „dritte Säule“ der Medienlandschaft angetreten. Als mediale Ausdrucksform der Zivilgesellschaft. Ihre Aufgabe ist es, das gesellschaftliche Wissen und die Meinungen „der Vielen vor Ort“ abzubilden. Und das ist bis heute noch nicht erreicht – auch nicht durch das Internet. Es ist eine bunte Landschaft entstanden, die viele Nischen bedient und vielen talentierten Menschen eine Plattform für ihre Inhalte bietet. Und all das eben nicht-kommerziell – im Gegensatz zu - zum Beispiel - YouTube, hinter dem ein Unternehmen mit knallhartem Gewinninteresse steht.

Gerade vor dem Hintergrund der postmigrantischen Gesellschaft sei dennoch die Frage erlaubt: Ist das Ursprungsversprechen eingelöst? Nimmt die sich pluralisierende Zivilgesellschaft die Bürgermedien heute als ihr Sprachrohr und Plattform der Beteiligung wahr? Ich würde vorsichtig behaupten: Da ist noch einiges an Luft nach oben.

Vielfalt der Meinungen einfordern und zulassen
Entscheidend für den Erfolg der Bürgermedien ist die Bandbreite ihrer lokalen gesellschaftlichen Vernetzung. Prinzipiell gibt es keine Grenzen dessen, wer und was mit einbezogen werden sollte – außer natürlich die Grenzen des Grundgesetzes. Geht es um das Thema Integration, sind in erster Linie die Migrantenselbstorganisationen, aber auch lokale Netzwerke entscheidend. Sie ins Boot zu holen, indem man aktiv auf sie zugeht, sie zu Partnern macht, ist der wohl wichtigste Schritt zur Pluralisierung des Angebots Offener Radio- und TV-Kanäle.

Die Bürgermedien in ihrer Rolle als lokale Multiplikatoren haben die Möglichkeit, sich an die Spitze der Bewegung hin zu den sogenannten „neuen deutschen Institutionen“ zu setzen. Denn wir brauchen Institutionen, in deren Grammatik sich die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen eingeschrieben haben, in denen gesellschaftliche Vielfalt Normalität ist und die Pluralität der Lebensstile anerkannt und gelebt wird. Klar ist, dass es der Zusammenarbeit mit und der Beteiligung vieler „neuer Deutscher“ bedarf. Sie müssen ihre Perspektive einbringen können und als „Role Models“ fungieren. Es bedarf aber auch gesellschaftlicher Bündnisse und Zusammenschlüsse mit all jenen, die zwar nicht durch ihre Herkunft „neue Deutsche“ sind, sich aber unabhängig davon ein „neues Deutschland“ vorstellen und daran mitarbeiten können und wollen. Ich spreche hier von einem Deutschland, das seine Pluralität als Gewinn sieht und diese auch lebt. Also von Biodeutschen, die sich in diesen Diskurs einschalten, ihn mitgestalten und damit selber zu neuen Deutschen werden.

Es ist wichtig, sich aktiv darum zu bemühen, die sich wandelnde, nennen wir sie ruhig: bunter werdende Gesellschaft und die in ihr vertretenen Meinungen möglichst umfassend im Programm der Bürgermedien zu finden. Sorgen Sie dafür, dass Ihr Medium und Ihre Formate nicht nur eine Plattform der Information und Selbstdarstellung sind, sondern vielmehr eine Plattform für Begegnungen, für die direkte Interaktion und für offene Diskussionen.

Diese Brückenfunktion für den interkulturellen Dialog funktioniert bzw. kann funktionieren, weil Sie eine andere Wirklichkeit als die klassischen Medien anbieten und keinem Quotendruck ausgesetzte sind. Für Sie gilt: Eine prinzipielle Offenheit des Zugangs für unterschiedliche Gruppen bietet die Voraussetzung dafür, dass ein Dialog überhaupt zustande kommen kann. Die Chance der Bürgermedien ist Dialog statt Angebot. Nur damit wir uns richtig verstehen: Auch für den Themenkomplex Migration und Integration muss sowohl für uns als politische Bildner als auch für Sie, die Bürgermedien, gelten: Kontroverses muss kontrovers dargestellt werden. Einseitige Betrachtungen haben auch hier keinen Platz. Scheuen Sie sich also nicht, Räume für Unpopuläres zu schaffen und Meinungen zuzulassen, die so mancher vielleicht nicht hören will. Damit ist keinesfalls gemeint, dass diese Meinungen unkommentiert und unwidersprochen gelassen werden sollen, ganz im Gegenteil. Aber mein Appell an Sie an dieser Stelle lautet: Denken Sie, wenn es um das Thema Integration geht, tatsächlich mehrkanalig.

Die USP der Medienkompetenz
Das vielleicht größte Werbeargument, ja fast schon eine Unique Selling Proposition der Bürgermedien, um den Dialog einzuleiten, ist die Vermittlung von Medienkompetenz. Das Credo „jeder kann mitmachen“ ist meist keine leere Worthülse. Klar ist, durch das Internet, speziell Plattformen wie YouTube, und die in immer besserer Qualität für immer kleineres Geld zur Verfügung stehenden technischen Mittel, wird das Selbst-Produzieren medialer Inhalte immer einfacher. Jeder hat die Möglichkeit, Content herzustellen und zu „senden“. Aber noch lange nicht jeder kann es auch.

Hier kommen die Bürgermedien ins Spiel. Ihr Ruf als erste Ausbildungsstation der Medienmacher von morgen, ist ein großes Pfund. Dabei kommt es nicht immer darauf an, sich als Startrampe für eine große journalistische Karriere zu positionieren. Viel wichtiger scheint mir, das Interesse an gesellschaftspolitischen, kulturellen oder sozialen Ereignissen auf lokaler Ebene zu wecken und den Willen, andere daran teilhaben zu lassen.

Die Vermittlung technischen Know-hows sollte weniger im Vordergrund stehen. Stärkeres Gewicht sollte auf der gewissenhaften journalistischen Arbeit, der Recherche und dem kritischen Hinterfragen liegen. Versuchen Sie es ruhig einmal mit etwas mehr politischer Bildung. Denn wie Sie sicherlich wissen, leben wir in einer Zeit, in der das Bild vom Journalisten als Gegenspieler und Kontrollorgan in den Augen überraschend vieler Bürger nicht mehr verfängt. Stattdessen, werden Medien als Teil der zu kontrollierenden Elite betrachtet. Wir alle kennen den Ruf „Lügenpresse“ – so unangebracht er auch ist.

Bürgermedien können dem aktiv entgegen wirken, indem sie Ihre Rolle als lokales oder regionales Gegengewicht ernst nehmen. Indem sie Bürgern die Gelegenheit geben, jenes Handwerkszeug zu erlenen, das für eine ausgewogene, kritische und realitätsnahe Berichterstattung nötig ist. Denn so werden Bürger darin geschult, sich vielseitig zu einem Umstand zu informieren und dieses Wissen aktiv weiterzutragen – zivilgesellschaftliches Engagement par excellence.

Übrigens: Für den Großteil der Jugendlichen – das zeigt die kürzlich erschienene SINUS-Jugendstudie – sind viele Aspekte der postmigrantischen Gesellschaft längst selbstverständlicher Alltag. Die Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren sind mehrheitlich tolerant und fordern mehr Engagement für eine gelungene Integration.

Gleiches zeigt die quantitativ ausgerichtete Shell-Jugendstudie: 48 Prozent der Jugendlichen haben Angst vor Ausländerfeindlichkeit. Demgegenüber sind die Jugendlichen offener gegenüber Zuwanderung geworden. Noch 2002 plädierten 48 Prozent der Jugendlichen und 2006 sogar 58 Prozent dafür, die Zuwanderung nach Deutschland zu verringern. 2015 unterstützen nur noch 37 Prozent diese Aussage.

Gerade vor diesem Hintergrund möchte ich meinen Appell an Sie erneuern, offensiv und intensiv um junge Menschen zu werben. Geben Sie ihnen weiterhin eine verwertungsfreie Plattform, damit sie ihre Meinungen, ihre Perspektive und ihre eigene Geschichte ohne ökonomische Domestizierung erzählen können. Zwingen Sie ihnen keine Formate auf, sondern lassen Sie die Jugendlichen überall mitreden – auch und gerade bei den „weltbewegenden Themen“. Das ist und bleibt Ihre Stärke. Keiner zwingt Sie zur Konkurrenz gegenüber den klassischen Medien.

Die Beantwortung der Frage nach einem neuen „gesellschaftlichen Wir“ ist entscheidend für unsere Zukunftsfähigkeit. Die Bürgermedien wie auch die politische Bildung können und dürfen sich dieser Debatte nicht verschließen. Der Blick in die Praxis der Bürgermedien zeigt mir, dass hier schon einiges passiert ist, wichtige Schritte hin zur Pluralisierung wurden unternommen, noch mehr ist im Werden begriffen.

Zum Ende möchte ich dennoch an Sie appellieren: Setzen Sie weiter auf Ihre ur-eigenen Stärken – die lokale Meinungsbildung und Meinungsäußerung sowie die Vermittlung von Medienkompetenz. Beziehen Sie dabei so viele relevante Akteure unserer postmigrantischen Gesellschaft ein, wie irgend möglich und fördern Sie die Teilhabe aller an den gesellschaftlichen Diskursen vor Ort.

Ich bin der Überzeugung, dass das neue „Wir“ umfassender und vielschichtiger werden muss. Auf keinen Fall kann es sich nur an der ethnisch-kulturellen Herkunft orientieren. Nationale Phantasmen nähren zwar kurzfristig die Illusion, die Komplexität der modernen Welt durch einfache Modelle zähmen zu können – so die Versprechen, die hinter Renationalisierungstendenzen in Deutschland und europaweit zu hören sind. Die Abstimmung über den Brexit hat gezeigt, dass die Generation Rollator den Glauben an Europa verloren haben mag, nicht aber die jungen Menschen. Ein unvoreingenommener Blick in die Schulen Europas verdeutlicht, dass die Vielfalt bereits unsere Realität ist. Zukunftsfähigkeit liegt im souveränen Umgang mit dieser Realität – auch für die Bürgermedien.

Lassen Sie es uns gemeinsam angehen. Ich wünsche Ihnen und uns viel Erfolg!

- Es gilt das gesprochene Wort -

Fussnoten